15 Jahre "Freie Heide" - Nach 110 Protestwanderungen war der Truppenübungsplatz Geschichte

Di 09.07.24 | 06:20 Uhr | Von Björn Haase-Wendt
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Archivbild: Teilnehmer des Ostermarschs in der Ruppiner Heide bei Fretzdorf (Brandenburg) marschieren am 12.04.1998 über den 14.000 Hektar große früheren Bombenabwurfplatz der sowjetischen Armee. (Quelle: dpa/Jens Büttner)
Video: rbb24 Brandenburg Aktuell | 10.07.2024 | Franziska Tenner | Bild: dpa/Jens Büttner

Tiefflüge, Bombenabwürfe, Übungen – bis in die 1990er Jahre nutzte das sowjetische Militär die Kyritz-Ruppiner Heide als Bombodrom. Die Bundeswehr hatte ähnliche Pläne. Doch Einwohner wehrten sich. Vor genau 15 Jahren wurden die Pläne aufgegeben. Von Björn Haase-Wendt

Unberührte Natur, die Vögel zwitschern, ein Blick weit bis zum Horizont: Die Kyritz-Ruppiner Heide ist heute ein Paradies für Menschen, die die Ruhe suchen. Doch es hätte anders kommen können.

Die Bundeswehr wollte den früheren sowjetischen Truppenübungsplatz zwischen Neuruppin, Rheinsberg und Wittstock in Ostprignitz-Ruppin nach der Wende weiternutzen. "Das hätte bedeutet, dass hier in der Luft Übungen stattfinden, aber auch ganz viele Bodentruppen unterwegs sind", sagt Ulrike Laubenthal aus Zempow bei Wittstock. Dabei hatten die Menschen in der Region die Hoffnung, dass nach der Wende die Ruhe einkehrt.

Truppenübungsplatz der Roten Armee

Schon die Rote Armee hatte über 40 Jahre lang das dünnbesiedelte und weitläufige Waldgebiet genutzt. Im Norden der Heide entstand ein Schießplatz für Heereswaffen, im Süden und weit größeren Teil der Luft-Boden-Schießplatz, auf dem der gezielte Luftangriff geübt wurde. Für die Einwohner wie Gabriela Wäbersky aus Rägelin bedeutete das: Militärpräsenz, Lärm und auch Gefahr, etwa durch Fehlabwürfe. "Die ganzen Flieger haben genervt, die Türen, Scheiben, das Geschirr hat gewackelt. Die waren so tief, man konnte denen teilweise ins Cockpit reinschauen", erinnert sich die Rägelinerin.

Protestwanderungen zum Sperrgebiet

Als 1992 die Bundeswehrpläne zur Weiternutzung des Truppenübungsplatzes bekannt wurden, formierte sich der Widerstand. Anwohner, Unternehmer, Kirchenmitglieder, aber auch Politiker engagierten sich unter anderem in der Bürgerinitiative "Freie Heide". Innerhalb weniger Wochen vernetzten sie sich und fanden auch eine neue Form des Widerstands: Protestwanderungen.

"Da haben die Menschen zusammengesessen und gesagt, wir wollen eine Aktionsform, die zeigt: Wir möchten in dieser Landschaft einfach nur friedlich spazieren gehen können", erinnert sich Ulrike Laubenthal vom Verein Friedensscheune aus Zempow, der die Geschichte der "Freien Heide" bewahren will. Auch sie hatte sich an den Protestaktionen beteiligt. Von den Dörfern und Städten entlang des Truppenübungsplatzes zogen die Teilnehmer an den Rand des Sperrgebiets. "Wir machten damit deutlich, dass wir eigentlich weiterwollen", sagt Laubenthal. Vielen war klar: Die Region kann wirtschaftlich und touristisch nur vorankommen, wenn das sogenannte Bombodrom Geschichte ist und es keine Bombenabwürfe mehr über der Heide gibt.

Wir haben uns getroffen, alle haben sich in den Armen gelegen, alle waren glücklich. Dieses Gänsehautgefühl war für mich vergleichbar mit der Öffnung der Mauer in Berlin, was ich auch live erlebt habe.

Mario Schrumpf, Chef des Naturparks Stechlin-Ruppiner Land

Erfolg nach 17 Jahren

Schnell schlossen sich Tausende den Protestaktionen an, aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, aber auch aus dem gesamten Bundesgebiet. Bei einer der ersten Protestwanderungen war auch Brandenburgs damaliger Umweltminister und späterer Ministerpräsident, Matthias Platzeck (SPD) dabei. "Das wird nicht in wenigen Wochen hier vorbei sein. Man wird so lange weitermachen müssen, und da gibt es Beispiele in Europa, dass es Jahre lang gedauert hat, bis man wirklich Erfolg hat."

Matthias Platzeck sollte Recht behalten: Nach 17 Jahren, rund 110 Protestwanderungen mit insgesamt mehr als 350.000 Teilnehmern und fast 30 Klagen verkündete der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) das Aus für das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide.

Der 9. Juli 2009 hat sich bei vielen in der Region ins Gedächtnis eingebrannt, etwa bei Mario Schrumpf, dem heutigen Chef des Naturparks Stechlin-Ruppiner Land, zu dem auch das frühere Bombodrom gehört. "Wir haben uns getroffen, alle haben sich in den Armen gelegen, alle waren glücklich. Dieses Gänsehautgefühl war für mich vergleichbar mit der Öffnung der Mauer in Berlin, was ich auch live erlebt habe", sagt der Naturpark-Chef.

Früher wurden hier Bombenabwürfe geübt, heute ist die Heide ein Ort der Ruhe und Weite. (Quelle: rbb/Haase-Wendt)Früher wurden hier Bombenabwürfe geübt, heute ist die Heide ein Ort der Ruhe und Weite.

Nachtwanderungen im Südteil der Heide

Auch Schrumpf hatte sich an den Protesten gegen das Bombodrom beteiligt und entwickelt die Kyritz-Ruppiner Heide heute weiter. Vor gut anderthalb Jahren konnte ein gut 1.000 Hektar großes Gebiet im südlichen Teil zwischen Rossow, Pfalzheim und Neuglienicke aus dem Sperrgebiet entlassen werden.

Dort können die Besucher nun die einzigartige Heidelandschaft erleben, etwa mit der wunderbar lilafarbenen Blüte im Spätsommer oder bei Nacht: "Die Kyritz-Ruppiner Heide ist einer der dunkelsten Orte Deutschlands. In Berlin kann man keine Milchstraße beobachten. Hier bei uns ist das ein Traum die Milchstraße in jedem Detail zu sehen", schwärmt Schrumpf.

Die Heidelandschaft soll deshalb auch zum Sternenpark ausgewiesen werden, es wäre nach dem Westhavelland der zweite in Brandenburg. Noch in diesem Jahr wollen der Naturpark und der Landkreis Ostprignitz-Ruppin einen entsprechenden Antrag stellen. So will die Region künftig Astro-Touristen anziehen und spezielle Sternenbeobachtungsplätze einrichten. Aber schon heute ist zumindest ein kleiner Teil der Heide erlebbar: zu Fuß, per Rad oder Kremser.

Großteil bleibt Sperrgebiet

Der Großteil wird aber weiter Sperrgebiet bleiben, zu groß ist dort die Gefahr. Denn die sowjetischen Truppen hatten in der Kyritz-Ruppiner Heide regelmäßig den Bombenabwurf geübt. Dazu wurde im Waldgebiet ein Nato-Flughafen nachgebildet, der gezielt aus der Luft angegriffen wurde. "Das war kein komplett ausgebauter Flughafen, aber er war in seinen Dimensionen und Strukturen ein Fake von einem Militärflughafen, so dass die übenden Piloten genau diese Strukturen angegriffen haben", erklärt Rainer Entrup vom Bundesforstbetrieb Westbrandenburg, der im Auftrag des Bundes für die Konversionsflächen in der Kyritz-Ruppiner Heide zuständig ist.

Dabei kamen auch Streubomben zum Einsatz. Aus den großen Metallbehältern – sogenannten Mutterbomben- hatten sich hunderte kleine tennisballgroße Sprengsätze über weites Gebiet verteilt. Viele explodierten aber nicht, sondern liegen bis heute als gefährliche Blindgänger im Boden von Teilen der Heidelandschaft. Seit sieben Jahren läuft deshalb die aufwendige Beräumung. Im Fokus ist dabei ein etwa 1.100 Hektar großes Gebiet, das laut den Kampfmittelexperten als besonders belastet gilt.

Bei der Suche nach Streumunition wird auch noch allerhand weiterer Militärschrott im Sperrgebiet der Kyritz-Ruppiner Heide beseitigt, wie diese sowjetischen Übungsbomben. (Quelle: rbb/Haase-Wendt)Bei der Suche nach Streumunition wird auch noch allerhand weiterer Militärschrott im Sperrgebiet der Kyritz-Ruppiner Heide beseitigt, wie diese sowjetischen Übungsbomben.

180 Männer und Frauen suchen täglich nach Streuwaffen

Täglich sind dort rund 180 Männer und Frauen von zwei Kampfmittelbergungsfirmen im Einsatz, um die Flächen zu erkunden und die Sprengsätze, andere Bomben und Militärschrott zu bergen. "Da werden 50 mal 50 Meter große Quartiere abgesteckt. Dann gehen immer zwei Mann mit der Sonde rein und arbeiten systematisch die Fläche ab", erklärt Rainer Entrup das Vorgehen.

Schlagen die Sonden an, werden die Funde genaustens dokumentiert. Denn Pläne oder Karten von den Abwurforten gibt es nicht. Für die Trupps ist die Arbeit auch eine Herausforderung. Zum einen aufgrund der großen Verdachtsfläche, zum anderen der gezielte Auftrag: das Finden und die Beseitigung der Streuwaffen. "Wir haben ein definiertes Suchziel. Kleinere Sachen sollen nach Möglichkeit liegen bleiben, damit der Räumfortschritt nach vorne geht", sagt Sven Bartholomäus, Projektleiter bei der "Schollenberger Kampfmittelbergung". Von anderen Einsatzorten kenne er das nicht: "Dort wird komplett freigeräumt, also für das Messgerät piepfrei."

Streuwaffenräumung bis Ende 2025

Auf der Verdachtsfläche in der Kyritz-Ruppiner Heide ist das aber nicht machbar, auch weil die Zeit drängt. 2010 hat Deutschland das Oslo-Abkommen unterzeichnet, mit dem Streuwaffen international geächtet werden. Heißt auch: "Eigentlich hätten schon vor vier Jahren die Streuwaffen in der Heide beseitigt worden sein müssen. Weil das aber nicht zu schaffen war, bekam Deutschland eine Fristverlängerung bis Ende 2025.

"Ich denke, wir kommen an das Ziel sehr dicht ran. Wir haben jetzt noch große Flächen in Vorbereitung, aber es muss gut laufen in diesem und nächsten Jahr", sagt Rainer Entrup vom Bundesforstbetrieb. Bisher wurden 64 Prozent der Verdachtsfläche geräumt. Dabei haben die Teams fast 7.100 Streuwaffen gefunden, aber auch anderen großen Militärschrott – insgesamt fast 2.600 Tonnen. Am Ende wird die Beräumung der besonders belasteten Fläche rund 200 Millionen Euro kosten, so die aktuellen Schätzungen.

Sendung: rbb24 Brandenburg aktuell, 10.07.2024, 19:45 Uhr

Beitrag von Björn Haase-Wendt

11 Kommentare

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  1. 11.

    Habe 49 Jahre Stück von Rheinsberg entfernt gelebt. Ihre Einschätzung teile ich.

  2. 10.

    Heute wäre eine Dauerblockade der Bundeswehr Zentrale angesagt. Auch um Steuergeldverschwendung für Militärausgaben zu verhindern.

  3. 9.

    Herr Schrumpf zeichnet wieder einmal alles rosarot. Die Lichtverschmutzung rings um die Heide hat in den letzten 4 Jahren enorm zugenommen, der Nachthimmel ist heute praktisch nicht mehr wirklich dunkel, auch nicht in der Heide. Er weiß das. Und mit ihm auch sein Unterstützer von der Dark Sky International. Beide schließen einen politischen Stillhaltepakt mit dem rechtspopulistischen Rathaus von Rheinsberg. Am Ende kommt ein Sternenpark, dessen Konzept vorsieht, die vor zwei bis drei Jahren geschaffene massive Steigerung der allgemeinen Heilligkeit des Nachthimmels weder zu thematisieren, noch rückgängig zu machen - Rheinsberg darf weiter Lichtsmog erzeugen, Fakten schaffen. Kritiker an dieser Appeasementpolitik durch Herrn Schrumpf und die DSI werden dann persönlich angegriffen. Es werden Fakten verdreht und eigene Standards nicht beachtet. Der Sternenpark ist Etikettenschwindel und so nur reiner Kommerz.

  4. 8.

    Genauso...viele weggezogen. Die Bundeswehr hätte gut die Wirtschaft angetrieben...aber das darf ja nicht gesagt werden. Egal...ist Geschichte ab nun gut oder schlecht...vorbei.

  5. 7.

    >"Was haben die gemacht sind größten teils weggezogen."
    Wie aus anderen Regionen auch. Das hat nichts mit dem Bombodrom zu tun. Das war eine allgemeine Entwicklung auf dem Gebiet der ehemal. DDR nach der Entindustialisierung als Ergebnis der neuen Wirtschaftsstruktur.
    >"Wie ich sehe haben sie keine Ahnung von der Ecke ich bin dort aufgewachsen."
    Danke der Nachfrage. Im Gegensatz zu nur dort aufgewachsen, lebe ich immer noch in dieser Region angrenzend an die Kyritz Ruppiner Heide und habe eben mitverfolgt, wie sich die Heide frei entwickelt hat und auch die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 30 Jahre. Die sieht eigentlich gar nicht so mies aus im Vergleich zu anderen Regionen Ostdeutschlands, wie Leute aus der Ferne es meist vermuten.

  6. 6.

    Na Sie wissens ja ganz genau... Blödsinn ist das noch dazu.
    Wie ich sehe haben sie keine Ahnung von der Ecke ich bin dort aufgewachsen.
    Dass diese Region um die Kyritz Ruppiner Heide rum jemals eine Boomregion wird, hat niemand verlangt und auch erwartet.
    Oh doch dafür waren schon sehr viele Leute gewesen.
    Was haben die gemacht sind größten teils weggezogen.

  7. 5.

    Die Kyritz Ruppiner Heide ist nicht nur Wittstock. Zu ihr gehören alle Kommunen drumherum wie Neuruppin und Rheinsberg. Ach ja übrigens... Bei Wittstock gibt es schon bedeutende Industrie. Region heißt Umkreis von 50 km. Schauen Sie mal in google ins Gewerbegebiet Heiligengrabe und Falkenhagen. Ein Großindustriekern wie seinerzeit das Ruhrgebiet würde auch nicht in die Landschaft passen. Dafür gibts halt Mittelstand und paar größere Unternehmen.
    Die Menschen in der Region dort leben so ganz gut mit der "stillen Heide" in dieser naturreichen Gegend. Die Arbeitslosenquote orientiert sich am Bundesdruchschnitt. Das passt schon.

  8. 4.

    Um Wittstock herum wäre für Tesla gut geeignet gewesen. Wenn man die Entwicklung von Gewerbeflächen in „Tesla-Geschwindigkeit“ gewollt hätte. So wie es jetzt gekommen ist, ist es bequemer gewesen. Mit den entsprechenden Folgen der Nichtentwicklung und Steuergeldbeilegung für Infrastruktur.

  9. 3.

    Industriecluster Wittstock ist überregional bekannt, überall wird Personal gesucht. Lassen sie doch einfach ihre Märchen vom Armenhaus!

  10. 2.

    Na Sie wissens ja ganz genau... Blödsinn ist das noch dazu.
    Dass diese Region um die Kyritz Ruppiner Heide rum jemals eine Boomregion wird, hat niemand verlangt und auch erwartet. Die Sowjets haben so gerechnet mehr Schaden angestellt mit diesem riesen Übungsgelände und in der Region als es berechenbaren Nutzen für die Kommunen drumherum gebracht hätte. Die Bundeswehr danach mit ihren paar Leuts war jetzt auch nicht so der Steuerbringer. Es kamen aber Industrie und Mittelstand mit der Ruhe seinerzeit schon, als es noch dem Bund gehörte. Die Straßen sind in dieser Region sind auch nicht besser oder kaputter als im Durchschnitt in ganz Deutschland. Vielleicht mal als Berliner nicht so überheblich sein, sondern selber in die Region Neuruppin, Rheinsberg bis Wittstock kommen.

  11. 1.

    Ja mit den Übungsplatz hätte die Region vielleicht ein bisschen mehr geboomt.
    Aber so wird leider kein Geld investiert schlechte strassen usw.

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