Urteil Berliner Landgericht - Mutter vom Vorwurf des Missbrauchs der Tochter freigesprochen

Fr 29.11.24 | 19:40 Uhr | Von Ulf Morling
Symbolbild: Nahaufnahme von einem Richterhammer als Symbolbild für ein Gerichtsurteil. (Quelle: dpa/Udo Herrmann)
Bild: dpa/Udo Herrmann

Eine 36-Jährige wird über Jahre verdächtigt, ihre kleine Tochter unbekannten Männern zur Vergewaltigung zur Verfügung gestellt haben. Am Freitag ist sie von allen Vorwürfen freigesprochen worden. Von Ulf Morling

"Eine Mutter als vermeintliche Täterin beim Kindesmissbrauch habe ich trotz meiner langjährigen Erfahrung noch nicht gehabt", sagt der vorsitzende Richter Wulf Burchards zu Beginn der Urteilsbegründung am Freitag.

Er schildert die "ungeheuerlichen Vorwürfe", von denen die 36-jährige Mutter am Freitag freigesprochen wird: Danach soll die vierjährige Anna* u.a. im damaligen Wohnort Bad Pyrmont von ihrer Mutter Beata D.* im Jahr 2015 zweimal Bekannten zur Vergewaltigung zur Verfügung gestellt worden sein. Nach dem Umzug nach Berlin soll die Angeklagte im April 2017 in einem Wohnwagen zugelassen haben, dass ein weiterer unbekannter Mann ihre inzwischen sechsjährige Tochter vor ihren Augen vergewaltigt.

Vorwurf des Kindesmissbrauchs - doch wo ist das Motiv?

Bereits beim Lesen der Aussagen des Kindes in den Ermittlungsakten seien den Richtern Zweifel gekommen, heißt es im Urteil. Die Anklage der Staatsanwaltschaft wegen Kindesmissbrauchs hätten die Zweifel noch verstärkt. Man habe unter anderem wegen der gravierenden vorgeworfenen Verbrechen die Anschuldigungen aber gerichtlich klären müssen.

Die Taten sollen zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr Annas geschehen sein. Aber erst als sie zehn Jahre alt war, begannen die Ermittlungen. Die angeklagte Mutter habe trotz aller persönlichen Problemlagen sehr fürsorglich auf die Richter gewirkt. Was sollte also ihr Motiv der grausamen Verbrechen gewesen? Sollte sie aus Sexsucht oder großem Sadismus ihre Tochter missbraucht haben?

Urteil: Kind sei "innerlich zerrissen" gewesen nach Trennung der Eltern

Beata D. hatte Torsten N. 2009 kennengelernt. Sie zogen zusammen und im November 2010 wurde Anna geboren. Nach Streitereien trennte sich das Paar. Ihn störte beispielsweise, dass Beata Cannabis rauchte, sie fühlte sich von ihm gegängelt. Anna war nach der Trennung sowohl bei ihrer Mutter, als auch in der Wohnung des Vaters, der bald eine neue Lebensgefährtin hatte.

Sich immerzu entscheiden zu müssen, habe das Kind in den folgenden Jahren innerlich zerrissen, hieß es im Urteil. Es folgten für sie Aufenthalte in der Psychiatrie, nachdem sie als Siebenjährige ihren Kopf durch eine Schlinge steckte. Sie habe nicht mehr leben wollen, sagte das Kind dazu. Mit der Diagnose "Anpassungsstörung" und mehreren Aufenthalten in der Klinik kommen schließlich auch die Missbrauchswürfe durch den mit Arbeit beschäftigten Vater und der Stiefmutter Annas auf. Sie erstatten Anzeige gegen Annas leibliche Mutter.

Unprofessionelle Gutachterin und Psychotherapeutin bei Kindesmissbrauchs-Ermittlung

Die Psychotherapeutin hatte nach eigenen Angaben bei einem der Klinikaufenthalte der inzwischen 10-Jährigen in ihren Zeichnungen einen "eindeutigen Beleg für sexuellen Missbrauch" festgestellt. Annas Vater und ihre Stiefmutter zeigen Beata D. an.

Das Gericht stellte im Urteil am Freitag fest, es habe "schwerwiegende Mängel in der Vernehmung des Kindes" durch eine Polizistin gegeben, die das Kind dann vernahm und unter anderem "nicht einmal frei reden ließ". Auch die Unprofessionalität der Psychotherapeutin hätten bei Anna zu der Überzeugung geführt, dass mit ihr real geschehen sein, was ihr nur suggeriert worden war. Sie leide an einer sogenannten "Scheinerinnerung". Vielleicht auch, weil das Kind zusätzlich möglicherweise die sexuellen Aktivitäten der Mutter mit ihren späteren Partnern miterlebt habe, so Richter Burchards.

Nebenklageanwalt des Kindsvaters erfindet Vorwürfe in Missbrauchs-Fall

Nebenklagevertreter Martin Heynert tritt für den jetzt allein sorgeberechtigten Vater Annas im Prozess auf. Als ein auf rbb24 Inforadio gesendetes Interview mit ihm im Gerichtssaal vorgespielt wird, werden von dem Anwalt "Vorwürfe aufgebauscht und entstellt", heißt es im Urteil.

Dass Nebenklagevertreter Heynert von einem großen Kinderschänderring gemutmaßt habe, dafür "gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte", sagt der vorsitzende Richter. "In diesem Prozess sind Dinge passiert, die ich so noch nicht erlebt habe", fügt er hinzu. Heynert fuhr nach eigenen Angaben beispielsweise mit dem Kind zu vermeintlichen Tatorten und legte dem Mädchen Fotos vor mit aus seiner Sicht möglichen Tätern, wie er dem rbb gegenüber berichtete. "Das ist Wahnsinn, gerade wenn man an die hohe Gefahr der Retraumatisierung des Kindes denkt", so Verteidiger André Rösler.

Viele Wunden durch komplizierte Kindesmissbrauchs-Ermittlungen

"Am Ende des Verfahrens stehen wir vor einem Scherbenhaufen", so Richter Burchards. Anna, die weder auf ihren Vater, noch ihre Mutter nach der Trennung verzichten wollte, habe nach den Jahren der Trennung von der Mutter eine zerrüttete Beziehung zu ihr.

Mit aller Vorsicht mahnt das Gericht in Richtung von Annas Vater und dessen von ihm beauftragten Nebenklagevertreter, es "mit dem Urteil sein Bewenden zu lassen", denn das würde dem Wohle des Kindes dienen. Nebenklageanwalt Heynert erklärt, dass er mit dem Freispruch von Annas leiblicher Mutter "aus dem Verfahren raus" sei. In ihren letzten Worten bedankt sich Beata D., dass das Gericht mitgeholfen habe, die Vorwürfe gegen sich aufzuklären. Sie hoffe, ihre Tochter, die inzwischen 14 Jahre alt ist, wiedersehen zu können, sagt Verteidiger Rösler. Beata D. sei völlig am Boden zerstört.

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Beitrag von Ulf Morling

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