Interview | Ksenia Eroshina über Holocaust-Projekt - "Wir wollen Kinder und Jugendliche motivieren, sich für eine vielfältige Gesellschaft einzusetzen"

So 02.02.25 | 12:39 Uhr
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Das Projekt "Zweitzeugen" ist zu Gast in einer Schule in Bochum im Jahr 2023 (Quelle: imago images/Ralf Rottmann).
Audio: rbb 88.8 | 27.01.2025 | Interview mit Ksenia Eroshina | Bild: imago images/Ralf Rottmann

Den Holocaust für Kinder und Jugendliche erfahrbar machen und so die Erinnerungen lebendig erhalten: Das ist das Ziel des Vereins "Zweitzeugen e.V.". Ksenia Eroshina erzählt, wie Viertklässler mit der Schoah umgehen und das Erlebte weitertragen.

rbb: Frau Eroshina, bevor Sie eine soegannte Zweitzeugin sein können, brauchen Sie einen Erstzeugen. Wie läuft das?

Ksenia Eroshina: Wir haben mittlerweile 38 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Holocaust interviewt. Wir werden häufig zu den Menschen nach Hause eingeladen und es ist nicht so, dass man sofort über die NS-Zeit und die traumatischen Erlebnisse spricht. Meist ist da erstmal ein riesiger Tisch voller Essen. Bei Chava Wolf gab es zum Beispiel Couscous und Nussecken. Man wird dann gefragt: Sag mal, warum isst du nicht noch mehr? Das sind Fragen, die man von den Großeltern kennt: Wann heiratest du? Wann kommen die Kinder? Das ist ganz anders, als man sich das vielleicht vorstellt. Aber natürlich sprechen wir mit den Menschen auch über ihre Erlebnisse während der NS-Zeit und Aufenthalte in Konzentrationslagern.

Margot Friedlänger übergibt den nach ihr benannten Preis an den Verein "Zweiteugen e.V." im Jahr 2024 (Quelle: dpa/Annette Riedl).
dpa/Annette Riedl

Ksenia Eroshina ist Bereichsleiterin für schulische Bildungsarbeit im Verein "Zweitzeugen e.V." [zweitzeugen.de]. Der Verein arbeitet sowohl in Schulen als auch mit Erwachsenen und vermittelt zwischen Holocaust-Zeug:innen und heutigen Generationen, um die Geschichten und Erlebnisse lebendig zu halten und "Zweitzeug:innen" zu ermächtigen. Zu den bekanntesten Erstzeug:innen des Vereins, die ihre Erfahrungen weitergeben, gehören u.a. Margot Friedländer und Leon Weintraub.

Es ist unvorstellbar, dass Holocaust-Überlebende darüber reden und psychisch klarkommen. Wie ist das für Sie?

Ich versuche mir immer wieder bewusst zu machen - und bespreche das auch mit den Kindern und Jugendlichen, mit denen ich arbeite -, dass wir nur die Geschichten von jenen Menschen hören, die die Kraft gefunden haben, darüber zu sprechen und sich ein neues Leben aufzubauen. Was ausbleibt, sind die Geschichten der Menschen, die diese Kraft nicht gefunden haben und daran zerbrochen sind.

In unserer Ausstellung widmen wir diesen Menschen ein stummes Porträt und thematisieren, dass es auch Menschen gibt, die an diesen Erfahrungen und diesen Traumata zerbrochen sind.

Mit diesem angeeigneten Wissen gehen Sie in Schulen. Wie läuft das ab?

Wir gehen schon ab der vierten Jahrgangsstufe in Schulen - also schon zu den ganz Kleinen, was vielleicht erst mal ein bisschen komisch wirken kann. Tatsächlich ist es aber so, dass die Kinder ganz viele Fragen mitnehmen und teilweise auch viel mehr wissen, als wir uns vorstellen. Manchmal sind das natürlich Wissenfetzen oder gefährliches Halbwissen, aber genau da setzen wir an. Wir ordnen und sortieren dieses Vorwissen und bereiten die Kinder und Jugendlichen darauf vor, das Herzstück eines jeden Zweitzeugenprojektes kennenzulernen: die Geschichte eines Überlebenden. Wir wollen die Kinder mit diesen sehr persönlichen Geschichten emotional erreichen. Es sind Geschichten von Verlust, Trauer, aber auch Tod. Daneben wollen wir auch das Wissen über die NS-Zeit fördern. Wir wollen die Kinder und Jugendlichen dazu befähigen, selber zu Zweitzeugen zu werden.

In der vierten Klasse sind die Kinder noch sehr klein. Weint da jemand und müssen Sie trösten?

Wir versuchen, die Geschichten und das Thema sehr kindgerecht und behutsam zu vermitteln. Aber natürlich sind das hoch bewegende, emotionale Geschichten. Es kommt vor, dass Kinder sehr traurig sind. Aber vor allem empfinden sie oft ein Ungerechtigkeitsgefühl. Nicht selten kommt es vor, dass sie wirklich aufstampfen und sagen: Wie kann so etwas vor meiner Haustür passiert sein - in dem Land, in dem ich heute lebe, von dem ich denke, wir leben in einer Demokratie?

Das ist ein Effekt, den Sie auch wollen. Sie möchten, dass sich die Kinder und Jugendlichen dann auch engagieren.

Wir wollen Kinder und Jugendliche befähigen und motivieren, sich in ihrer heutigen Lebenswelt gegen Antisemitismus, Diskriminierung, aber vor allem für eine demokratische und vielfältige Gesellschaft einzusetzen. Das kann beim Weitererzählen der Geschichte an Geschwister oder Eltern beginnen. Und das kann in einer selbstorganisierten Gedenkveranstaltung an der eigenen Schule oder in der eigenen Stadt münden. Wir haben Schüler:innen, die gemeinsam Online-Ausstellung organisieren.

Wir leben in Berlin nicht in einer homogenen Masse, sondern mit vielen Geflüchteten. Begegnen Ihnen bei den Kindern und Jugendliche auch Anfeindungen gegen jüdische Menschen?

Wir erleben, dass eigentlich alle Kinder sehr offen sind, wenn es um eine persönliche Lebensgeschichte geht. Das hat auch etwas Hochspannendes, mehr über eine Person zu erfahren. Aber natürlich gibt es auch Vorbehalte und rassistische, antisemitische Äußerungen. Genau da wollen wir ansetzen. Wir versuchen immer, allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeiten zu geben, etwas aus den Geschichten für ihre Lebenswelt mitzunehmen. Ganz häufig erkennen sich gerade Kinder mit eigener Flucht- oder Migrationserfahrungen in den Geschichten wieder. Wir erleben, dass sie sagen: Auch ich habe erlebt, was es bedeutet, aus dem eigenen Land vor Krieg und Verfolgung zu flüchten. Oder: Auch ich weiß, was es heißt, aufgrund meiner Religion oder Herkunft, diskriminiert oder ausgegrenzt zu werden. Wenn die Kinder das von sich aus thematisieren, bietet das einen schönen Gesprächsraum.

Es kommt vor, dass Kinder sehr traurig sind. Aber vor allem empfinden sie oft ein Ungerechtigkeitsgefühl.

Ksenia Eroshina, Bereichsleiterin für schulische Bildungsarbeit im Verein "Zweitzeugen e.V."

Richtig schlimmer Antisemitismus ist ihnen also noch nicht begegnet?

Wenn es zu antisemitischen Vorfällen oder Sprüchen kam, war das immer etwas, womit man gut arbeiten und das auch auflösen konnte. Das sind ja häufig noch nicht gefestigte Ansichten, sondern Sprüche, Ideen, Narrative, die die Kinder und Jugendlichen von Social Media oder von zu Hause aufschnappen und nachplappern.

Wie funktioniert das Projekt und was arbeiten dort für Menschen?

Wir haben über einhundert ehren- und hauptamtliche Mitarbeitende. Das Projekt ist als reines Ehrenamt gestartet. Mittlerweile haben wir aber auch Hauptamt, das unterstützt. Wir sind wirklich motiviert, etwas zu bewegen in der Gesellschaft. Wir gehen gerne an Schulen und arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Es gibt aber auch Personen, die in unserem Ausstellungsteam an didaktischen Konzepten feilen, sich um Fundraising kümmern oder Kommunikationsarbeit machen. Es sind ganz unterschiedliche Menschen und alle eint, dass sie diese Vision und Mission des Vereins teilen und vorantreiben wollen.

Wie kann man bei Ihnen mitmachen?

Wer Interesse und Lust hat, sich bei uns zu engagieren, ist immer herzlich willkommen. Wir vermitteln dann an die jeweiligen Teams - je nachdem, wo vielleicht Unterstützung gebraucht wird. Wir suchen Personen aus allen möglichen Sparten - ob Sie nun gut schreiben oder gut mit Kindern und Jugendlichen arbeiten können.

Das Interview mit Ksenia Eroshina führte Ingo Hoppe für rbb 88,8.

Der Text ist eine redigierte und gekürzte Fassung. Das komplette Gespräch können Sie im Audio-Player nachhören.

Sendung: rbb 88,8, 27.01.2025, 18:10 Uhr

44 Kommentare

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  1. 44.

    Also, meine Kinder haben sehr erleichtert zur Kenntnis genommen, dass am Freitag wenigstens einige das eigene Gewissen höher gehalten haben als den Machthunger eines Parteivorsitzenden. Für meine Kinder ist Migration nicht das Kernproblem unserer Zeit, ihr wichtigstes Thema ist nach wie vor Klimaschutz. Leider nehmen viele - besonders viele nicht mehr ganz junge - Menschen lieber die Möglichkeit einer Katastrophe in Kauf, als ein wenig ihrer Bequemlichkeit aufzugeben. Also wechselt man im Wahlkampf das Thema und tut, als wären "die Migranten" das Übel der Zeit. Da hat man einen Gegner, den man einfach aussperren kann (zumindest kann man prima so tun), alle reden sich die Köpfe heiß, und passieren muss nichts. Das Gedenken an Holocaust und Widerstand ist im Moment extrem wichtig, um deutlich zu machen, warum trotz dieser widerlichen "Wahlkampfmechanismen" die Demokratie noch immer die beste Option ist.

  2. 43.

    Ihnen ist schon bewusst unter welchem Artikel Sie einen derartigen Kommentar verfassen?
    In diesem geht es nicht um die von Ihnen aufgezählten Themen. Im übrigen besteht das Leben auch aus mehr Vielfalt und auch nicht nur aus dem, was in Nachrichten Apps geschrieben steht.
    Und außerdem: bleiben wir doch bitte beim „Sie“. Danke ;-)

  3. 42.

    Die Toleranz hat ihre Grenzen da, wo die Gewalt beginnt, auch die verbale..
    Mein Eindruck ist, es geht immer mehr drüber und drunter mit dieser hiesiger verfassungsrechtlich festgelegten Grenze, von vielen Seiten.

  4. 41.

    Erde an Weltall, in diesem Beitrag sollten wir uns eigentlich gegen Antisemitismus stark machen. Ganz wichtiges Thema. Aber leider schaffen es viele nicht, sich wirklich für Betroffene zu interessieren. Damit ist ja klar, warum Kinder nichts wissen, weil Eltern sich versperren und nichts wissen wollen oder nur das, was so bequem ist. Ablenkung auf andere Gruppen, Fingerzeig, nur nicht nachdenken, nur nicht konstruktiv und positiv antworten.
    In dieser Situation hätte ich etwas mehr Empathie mit anderen erwartet, aber der kleine Geist lässt das leider nicht zu.

  5. 40.

    Mir ist noch nichts passiert, ich gehe regelmäßig schwimmen. Aber wenn man nur die Schreckensnachrichten einsaugt und in der Bude hockt, dann bekommt man letzten Endes von der Realität gar nichts mehr mit und verblödet tatsächlich aus Angst vor allem, was so in der Blöd steht.

  6. 39.

    Oh ja, Deutsche fühlen sich wunderbar in der Türkei, besonders die Gastfreundschaft wird groß geschrieben und ganz im Ernst, mit dem bisschen Rente kann man sich Traumwohnungen kaufen und die deutsche Community lässt es sich so unter Deutschen richtig gut gehen, meist frühverrentete Deutsche, die das billige Leben beispielsweise in Alanya so richtig genießen.
    Aber genau diese Deutschen hetzen auch gegen Migration in Deutschland. In der DDR trugen sie Parteiabzeichen. Jedenfalls jene, die ich kenne. Ja was denn nun, was genau bewirkt der Hass auf andere, wenn man eigentlich selbst Ausländer in gerade diesem Land ist, welches man gerade mies redet?

  7. 38.

    Gerade weil junge Menschen anfällig für die Indoktrination der Rechtsextremisten sind, sind solche Projekte wichtig.

    Die Älteren wissen noch wohin die Gesinnung der AfD führt.

    https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2025/02/gedenken-opfer-kz-aussenlager-lieberose-brandenburg.html

  8. 37.

    Na dann darfst Du aber nicht RBB24-App nutzen. Tägliche Morde, Überfalle, Messerstechereien, Gewalttaten usw. Das lesen auch Schüler, da braucht es keine AfD

  9. 36.

    Ja, aufgezwungenes Mißtrauen gegenüber Andersfarbigen und aufgezwungenen Hass.

  10. 35.

    Jugendliche sind ja nicht Doof. Die merken schon, dass das was ihnen da aufgezwungen wird ihre Zukunft und die ihrer potentiellen Kinder zerstört. Ich kenne genug "überzeugte" junge Leute die im Leben angekommen sind erstmal in der Realität aufwachen. Ideologie ist in den Köpfen, das Leben ist Realität.

  11. 34.

    Meine „Blase“ ist das was ich erlebe, nicht das was mir medial präsentiert wird. Man trifft nicht nur auf nette und tolerante Menschen, da gebe ich Ihnen sogar recht. Dennoch muss ich mir von solchen Menschen nicht mein Leben beeinflussen lassen. Und was Sie hier jetzt reininterpretieren, ist Ihre Sache.

  12. 33.

    In der Indoktrination von Jugendlichen ist de AfD leider sehr gut.

  13. 32.

    Da gebe ich Torsten recht. Gehen Sie in ein Berliner Freibad - allein das schärft die Sinne. Und dann stellen sie sich vor sie wären ein Mädchen oder Transsexuell - mal schauen wer da intolerant wird auf Anhieb. Ihre Blase ist offensichtlich

  14. 31.

    Man nennt das auch Indoktrination. Darum sollen dann auch junge beeinflusste Menschen wählen. Nur leider spielen die jungen Menschen nach den Erlebnissen an ihren Schulen da nicht mit und wählen statt linker Parteien die AfD.

  15. 30.

    Ich lebe als Christin in der Türkei. Die Kirche ist dort nicht rechtlich anerkannt. Warum ist das so? Toleranz sieht anders aus.

  16. 28.

    Wer das neue Gesicht des Antisemitismus ist hat man gestern wieder auf Berlins Straßen gesehen, geduldet von den Parteien ,wo war das gestern der Aufschrei der Demokraten gegen diesen offenen Juden Hass.
    Einfach nur noch widerlich das solche Demos mit den antisemitischen Parolen geduldet werden und welches Klientel bei diesen Demos zu gegen war ist bekannt .

  17. 27.

    Warum werden in einigen kleinen Teilen in Deutschland bereits islamistische Parteien gewählt wenn man davor geflohen ist?
    Heute wird doch jeder als Nazi betitelt der sagt Vater-Mutter-Kind oder nicht gendert. 3 Jahre Ampel und wir leben schon im Irrenhaus

  18. 26.

    Einfach mal den Blick von der medialen Blase heben und sich seine Mitmenschen anschauen.
    Das lernen die Kinder und Jugendlichen bei solchen Projekten, sich mit den Erlebnissen und Erfahrungen von Menschen beschäftigen. Zu schauen, wie solche Gräueltaten begangen werden konnten, sich die Frage zu stellen, warum so viele mitgemacht oder weggeschaut haben. Und Parallelen zur Gegenwart ziehen.
    Eine vielfältige Gesellschaft haben wir bereits und das positive daran in den Blick zu rücken, wird unsere Zukunft garantieren. Das bedeutet nicht, die Augen zu verschließen vor den Ungerechtigkeiten.
    Alles andere ist destruktiv und rückwärts gewandt.
    Danke für alle Engagierten, die die Menschen in den Fokus rücken. Angst ist kein guter Berater.

  19. 25.

    Spätestens seit Corona sind Ausgrenzung, Stigmatisierung und Brandmauern wieder sichtbar. Schon deshalb ist eine Sensiblisierung, wie konnte damals so etwas Schreckliches passieren mit einer Brücke zu heute notwendig.

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