Viadrina-Universität - Ist eine Universität ohne Vorlesungen denkbar?

Sollten die Universitäten des 21. Jahrhunderts weiterhin auf Vorlesungen als Lehrformat setzen, oder sind sie überholt? An der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) nehmen solche Überlegungen bereits Form an.
Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) könnte vor einem Umbruch stehen: In den Führungskreisen der Universität wird offenbar über die Abschaffung von Vorlesungen nachgedacht. Der Viadrina-Präsident und Historiker Eduard Mühle stellte sich vergangene Woche bei einer öffentlichen Veranstaltung die Frage, ob Vorlesungen noch zeitgemäß seien, wie die "Märkische Oderzeitung" [Bezahlinhalt] berichtete. Die Idee findet bereits erste Unterstützer.
Staatssekretär: Idee "außerordentlich klug"
"Das ist eine tolle Idee. Zum einen, weil ich glaube, dass Universitäten Wissenschafts-, Zukunfts- und Experimentallabore sein müssen. Und ich finde es naheliegend, auch mal bei den eigenen Usancen anzufangen", sagte Tobias Dünow (SPD), Staatssekretär im Wissenschaftsministerium und Mitglied des Stiftungsrates der Viadrina, dem rbb. Es sei eine gute Sache, wenn eine Universität sich überlege, ob es nicht "angemessenere, partizipativere und freudvollere Formen der Zusammenarbeit" zwischen Dozierenden und Studierenden gebe, so Dünow.
Eine Universität mit niedrigen Studierendenzahlen wie die Viadrina könnte auf kleinere Lern- und Lehrgruppen setzen. Als erste Universität in Deutschland komplett auf Vorlesungen zu verzichten, sei in diesem Fall "außerordentlich klug", so Dünow weiter. Konkretere Pläne, wann die Idee umgesetzt werden könnte, gibt es jedoch nicht.
Vorlesungen gibt es so lange wie die Universitäten selbst
"Ja, abschaffen, ganz klar", sagte eine Viadrina-Studentin dem rbb. In ihrem Studiengang Soziokulturelle Studien gebe es bereits vor allem Seminare, was sie besser als Vorlesungen finde. "In der Corona-Pandemie habe ich gelernt, wie wichtig mir der Austausch ist", sagte eine andere Studentin. "Ich könnte mir nicht vorstellen, wie ein anderes Angebot aussehen sollte." Und manche befürworten die Abschaffung aus sehr pragmatischen Gründen: "Ich gehe nicht zu Vorlesungen, da ich in Berlin wohne. Die Folien gibt es auch online", so eine dritte Studentin.
Vorlesungen gibt es so lange wie die Universitäten selbst - seit dem Mittelalter. Diese Form des Frontalunterrichts entstand in einer Zeit, in der Bücher noch nicht gedruckt und damit sehr kostbar waren. Damals lasen Dozenten den Studierenden eigene oder fremde Werke vor und kommentierten diese. Heute erklären Dozenten den Lernstoff mithilfe eines Skripts und werden in einem Hörsaal von bis zu mehreren Hundert Studierenden gehört – zumindest in der Theorie.
Studentenzahlen an der Viadrina gesunken
Die Debatte über die Abschaffung von Vorlesungen wurde während der Corona-Pandemie wiederbelebt, doch im englischsprachigen Raum gibt es sie schon länger. Eine Meta-Analyse US-amerikanischer Wissenschaftler kam vor zehn Jahren zu dem Ergebnis, dass aktive Lehrveranstaltungen in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) zu wesentlich mehr Lernerfolg beitragen als traditionelle Vorlesungen.
Die Viadrina befindet sich in einem Reformprozess. Seit Jahren sinken die Studierendenzahlen kontinuierlich, zuletzt auf knapp unter 4.000. Vor zehn Jahren waren es noch rund 6.500. Uni-Präsident Mühle hat die konkreten Veränderungen noch nicht öffentlich gemacht, die Beteiligungsprozesse an der Universität laufen noch.
Sendung: Antenne Brandenburg, 07.02.2025, 14:40 Uhr
Mit Material von Sabine Tzitschke und Marissa Boll