Interview | Soziologin über Schuldistanz - Wenn Schüler aussteigen

Viele Schüler kommen nicht oder nur selten in den Unterricht. Andere sind zwar da, haben sich aber innerlich "ausgeklinkt". Die Soziologin Imke Dunkake erklärt, warum Schuldistanz kein Randphänomen ist - und was Schule, Politik und Eltern tun müssten.
rbb|24: Frau Dunkake, Schuldistanz - das klingt etwas verklausuliert. Geht es da nicht schlicht um Schulschwänzer? Können Sie erklären, was genau mit Schuldistanz gemeint ist, und ob da unterschiedliche Formen gibt?
Imke Dunkake: Schuldistanz bedeutet nicht zwangsweise nur Schulabsentismus, was man als Schulschwänzen kennt. Es gibt tatsächlich auch Schüler, die – teils recht regelmäßig - in den Schulen präsent sind, die aber trotzdem eine Schuldistanz aufweisen. Die sitzen also physisch anwesend da, verfolgen den Unterricht aber nicht. Zum Teil leiden sie unter Schulangst – auch das ist ein eigenes Themengebiet. Das heißt, es gibt Schüler und Schülerinnen, die zur Schule gehen, weil sie hingehen müssen, die sich aber äußerst unwohl fühlen. Sie haben Ängste – das haben wir auch empirisch erhoben. Sie haben damit eine andere Strategie als die Schüler, die die Exit-Strategie betreiben. Letztere verlassen irgendwann die Schule. Das ist meistens ein schleichender Prozess.
Schuldistanz ist erst einmal ein Begriff, der beinhaltet, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen keine Bindung mehr zur Institution Schule haben.
Schuldistanz betrifft also sowohl Schüler:innen, die gar nicht in den Unterricht kommen als auch solche, die sich innerlich "ausgeklinkt" haben. Welche sozialen, familiären oder schulischen Faktoren begünstigen das besonders stark?
Schuldistanz mit dem Fokus auf Schulabsentismus ist meist ein multikausales Phänomen. Da geht es oft um familiäre Bedingungen – vielfach sind Eltern nicht zuhause, sehr eingespannt im Beruf, alleinerziehend. Vielfach geht es auch um Eltern mit belastender Biografie, die also traumatische Erfahrungen gemacht haben, wo es viele Geschwisterkinder gibt oder ähnliches. Diese Eltern können sich dann mitunter nicht so kümmern in schulischen Belangen, wie es von der Schule als Institution gewünscht ist.
Wenn die Kinder dann in die Pubertät kommen, sie Erfahrungen des "Scheiterns" in der Schule gemacht haben, auf Gleichaltrige mit ähnlichen Erfahrungen treffen und noch Drogenkonsum hinzukommt, kommt es mitunter – das zeigen auch Forschungen – dazu, dass die Jugendlichen ein eigenes Normen- und Wertesystem ausbilden. Dieses geht dann teils nicht Hand in Hand mit gesamtgesellschaftlichen Werten. Ab dann wird es auch für Sozialarbeiter schwierig, sie wieder zurückzuholen.
Tragen die Schulen selbst auch dazu bei, dass Kinder und Jugendliche sich verweigern?
Ja, die Schule selbst als Einrichtung trägt auch ihren Teil dazu bei. Denn der Umgang mit Schuldistanz ist teils doch recht stiefmütterlich. An der Uni Oldenburg forschen wir seit über 30 Jahren zum Thema. Wir arbeiten hierfür viel mit Schulen zusammen, auch mit Einrichtungen in Berlin. Insgesamt zeigt sich häufig gerade an sogenannten Brennpunktschulen die völlige Überforderung aller Seiten. Das pädagogische Fachpersonal ist überfordert, denn in der Lehramtsausbildung werden Themen wie Verhaltensauffälligkeiten oder Förderbedarfe kaum thematisiert. Viele Lehrkräfte fühlen sich auch alleingelassen. Sie stehen vor Schülern, die Förderbedarf hätten, der aber nicht diagnostiziert ist. Da bräuchte man viel mehr Personal und auch ein Management, das sich um die Bindung an die Schule kümmert und prüft, ob Schulabsentismus vorliegt. Auch das Thema Mobbing spielt in diesem Zusammenhang an vielen Schulen eine wichtige Rolle.
Hinzu kommen hohe Belastungslagen und fehlendes Personal. Auch unsere Forschungen zeigen, dass da viel mehr investiert werden müsste. Die Schulen müssten Gelder bekommen und Konzepte entwickeln, damit der Ort Schule so gestaltet werden kann, dass sich dort alle wohl und willkommen fühlen. Das ist keine triviale Aufgabe.
Hier in Berlin fehlen flächendeckend Lehrer, Sozialarbeiter, teilweise ganze Schulteams - und Geld. Es handelt sich also um das Gegenteil von dem, was Sie beschreiben. Wie soll das funktionieren – muss das jetzt erst krachend an die Wand fahren?
"Jetzt erst" ist gut. Es fährt seit einigen Jahrzehnten krachend an die Wand. Wir wissen seit den 1970er Jahren, dass in Bildung mehr investiert werden muss. Finanzielle Mittel sind die Grundlage, sonst kann kein Personal finanziert werden. Wenn wir nicht in die junge Generation investieren, aus humanistischen und auch aus rein ökonomischen Gründen, fahren wir große Gruppen von Jugendlichen gegen die Wand. Dass das bereits geschieht, zeigen empirische Belege. Wir reden von Fachkräftemangel und unterstützen nicht die Kräfte, die wir haben. Aus pädagogischer Perspektive gibt es hierfür Konzepte, Vorschläge und Forschungsprogramme – dafür müsste der Weg freigemacht werden.
Welche langfristigen Folgen hat die Schuldistanz für die betroffenen Jugendlichen?
Das hat auf ganz vielen Ebenen Folgen. Eine davon kann der "Drop-Out" sein. Offiziell liegen die Daten der Schulabbrecher bei 6,8 Prozent. Diese Zahl ist aber wahrscheinlich nicht korrekt, sie dürfte deutlich höher sein. Die Betroffenen haben sehr schlechte Optionen auf dem Arbeitsmarkt. Insgesamt hat ein solcher Werdegang Auswirkungen auf die Psyche dieser jungen Menschen, Depressionen beispielsweise. Diese Menschen haben oft Probleme im Führen von Partnerschaften – auch dazu gibt es Untersuchungen.
Das klingt, als ginge es da vielen jungen Menschen nicht gut. Berlin beispielsweise hat gerade die Abwesenheitsregelungen strenger reglementiert. Fehlen Schüler zu oft unentschuldigt, gibt es eine Versäumnisanzeige beim Jugendamt. Dann drohen den Familien ober Jugendlichen im schlimmsten Fall – neben Geldstrafen - auch die Zuführung zur Schule durch die Polizei. In einigen Bundesländern kommen sie sogar in Arrest. Lösen solche Maßnahmen das Problem?
Nein, absolut nicht. Diese Maßnahmen haben pädagogisch keinen nachhaltigen Wert. Sie können in absoluten Einzelfällen vielleicht effizient sein. Aber im Grundsatz lösen sie nicht das Problem, denn es gibt mannigfaltige Gründe, warum Schüler und Schülerinnen nicht zur Schule kommen. Hinzu kommt, dass Bußgeldverfahren häufig Familien belasten, die gar nicht die Möglichkeit haben, das zu finanzieren. Sie ziehen sich teils über Jahre, dann sind die Jugendlichen volljährig und das Kind längst im Brunnen.
Bei den Maßnahmen muss es darum gehen, dass Schule – idealerweise in Kooperation mit den Eltern – versuchen sollte, die Situation zu identifizieren und sich dann zu fragen, wie sie einen jungen Menschen unterstützen und ihm helfen kann, gern an die Schule zu kommen. Sodass er seinen weiteren Entwicklungsweg gehen kann. Pädagogisch hilft es nur, positive Anreize zu schaffen.
Dass es zu den Schulabbrechern offenbar keine verlässlichen Zahlen gibt, hatten Sie schon gesagt. Gibt es die denn für schuldistanzierte Kinder und Jugendliche?
Nein, auch nicht. Vor einigen Jahren kursierte, 200.000 Schüler und Schülerinnen seien betroffen. Diese Zahl ist aber nicht evidenzbasiert. Das Dunkelfeld ist riesengroß. Was auch damit zusammenhängt, dass viele Schulen die Anwesenheit – vom Wohlbefinden will ich gar nicht sprechen – nicht erfassen und evaluieren. Und wenn, wird es nicht einheitlich gemacht. Aus der qualitativen Forschung wissen wir, dass die Zahl vom Eindruck her – gerade in Stadtstaaten wie Berlin, Hamburg oder Bremen – an den sogenannten Brennpunktschulen als sehr hoch empfunden wird.
In Berlin scheint der Umgang mit schuldistanzierten Kindern nicht einmal bezirksübergreifend geregelt. Müsste man das Thema am besten bundesweit einheitlich regeln?
Es wäre wünschenswert, dass es einen vernünftigen empirischen Überblick gibt. Es sollte trotzdem jede Schule die Autonomie haben, ihren eigenen Weg zu gehen. Da geht es ja auch darum, was praktikabel ist.
Gibt es positive Beispiele aus Berlin oder anderen Regionen, wo Projekte oder Ansätze Schuldistanz erfolgreich reduziert haben?
Ja, absolut. Ich weiß von einer sogenannten Brennpunkt-Schule in Wuppertal, die vor einigen Jahren auch den Schulpreis gewonnen hat. Und ich habe auch kürzlich von einer Schule aus Berlin gelesen, die sich durch die Reststrukturierung der Schulkultur sehr positiv entwickelt hat, was Schuldistanz angeht.
Was helfen kann, ist die Schulzeiten zu verändern, eine Willkommenskultur einzuführen, auf möglichst gewaltfreie Kommunikation zu achten. Gut ist auch, wenn Lehrkräfte im Tandem arbeiten und sie zentrale Ansprechpartner haben. Lehrkräfte müssen nicht Experten für alles sein, aber sie müssen Anlaufstellen haben, an die sich wenden können. Das bedeutet auch, dass die Anzahl der Sonderpädagog:innen und Schulsozialarbeiter:innen ganz klar aufgestockt werden muss.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24