Absacker - Vom Privileg des normalen Lebens

So 21.06.20 | 19:13 Uhr
Menschen an der Spree / Quelle: imago images / Jochen Eckel
Bild: imago images / Jochen Eckel

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und wenn ihm die Gewohnheiten genommen werden, wird er sauer. Das Gefühl von Normalität ist allerdings keine Selbstverständlichkeit nach Corona. Laura Kingston über das Privileg, ein "Normalo" zu sein.

Ich starre auf den Bildschirm - inzwischen seit gut einer Stunde - und mir fällt einfach nicht ein, wie ich diesen Absacker beginnen soll. Ist es der eine Sekt zu viel, den ich gestern Abend hatte, der a) meine letzten funktionierenden Gehirnzellen getötet und b) die Lust auf einen Absacker verdorben hat? Oder liegt es daran, dass sich für mich inzwischen alles einfach wieder normal anfühlt. Ich weiß, das Gefühl mit einer Reihe von Privilegien zusammenhängt: Dass ich immer (und in der Hochphase der Pandemie sogar mehr) Arbeit hatte. Dass ich gesund geblieben bin. Dass es allen in meiner Familie, gemessen an den Umständen, gut geht. Normalität ist ein Privileg.

1. Was vom Tag bleibt

Und wenn den Menschen dieses Privileg genommen wird, bäumen sie sich auf. Das erkennt man nicht nur daran, dass es nach wie vor Hygienedemos gibt - wenn auch nicht mehr in dem Ausmaß wie noch vor ein paar Wochen. Es zeigt sich auch an den "geheimen" Raves in der Hasenheide. Einer davon wurde von einem Kollegen der rbb Abendschau festgehalten. Mich hat vor allem das Statement eines Feiernden zum Nachdenken gebracht: "Am Ende ist man irgendwie Mensch, man ist jung und man hat nur diese Zeit, der Sommer geht flöten... und dann macht man Sachen, die vielleicht nicht ganz so klug sind."

Nicht ganz so klug war auch das, was vergangene Nacht 400 bis 500 Personen in Stuttgart veranstaltet haben: Nach einer Drogenkontrolle im Schlosspark (so wie die Hasenheide offenbar ein beliebter Ort zum Feiern) haben nach Tagesschau-Informationen mehrere Hundert Menschen Polizist*innen angegriffen. Es kam zu 24 Festnahmen.

Ist das die "Spaßgesellschaft", von denen - auch in vielen Kommentaren auf rbb|24 - immer die Rede ist?

 

2. Abschalten

Abschalten fällt mir gerade extrem schwer, denn: Ich bin twittersüchtig. Das, was vergangene Nacht in Stuttgart passiert ist, habe ich heute morgen durch den Trend #Stuttgart erfahren. Aus dem ist inzwischen #Bürgerkrieg geworden. Eine Eskalation in Form von Hashtags. Und die ist nicht selten. Sogenannte "Meinungen" werden immer radikaler - auch wenn das soziale Netzwerk nur ein kleiner Ausschnitt der Realität ist.

Der Ton wird dennoch immer rauer - auch in Kommentaren auf anderen Webseiten. Deswegen ist mein Tipp zum Abschalten ein altbekannter und dennoch nicht zu unterschätzender: Wenn Sie es gerade gar nicht gebrauchen können, dass ihr Tag versaut wird, dann vermeiden Sie Kommentarspalten und zu lange Twitter-Aufenthalte. Das werde ich für den restlichen Tag auch tun... vielleicht.

3. Und, wie geht's?

"Wie die Leute zu Beginn der Pandemie hamsterten, bekamen wir auch in unserem Laden mit. Bei uns war es nicht Klopapier, sondern Kartoffeln, Mehl und Schnaps. Sonst verkaufen wir rund 600 Kilo Kartoffeln pro Woche und im März fast doppelt so viele! Da die Mühle nicht hinterherkam, blieb zwei Wochen das Regal mit dem Mehl leer."

Stefanie Peters beschreibt die Zeit im März, als das Hamstern gerade Trend wurde. Sie ist in der Produktionskette ganz am Anfang, denn sie arbeitet als Landwirtin in Nauen. Inzwischen hat sich bei ihr allerdings alles wieder normalisiert:

"Was ich durch die Pandemie gelernt habe: Das wertzuschätzen, was uns zuvor so selbstverständlich erschien, was dann aber ein paar Wochen lang gar nicht möglich war. Dazu gehört, meine Freunde zu sehen. Jetzt geht es wieder, und ich freue mich riesig darüber."

Stefanie Peters erzählt in der Rubrik #Wiegehtesuns? ausführlich, wie es ihr geht.

Welche Anekdoten erzählen Sie Freundinnen und Freunden, wenn Sie über die letzten Monate nachdenken? Was hat Corona mit Ihnen gemacht? Schreiben Sie uns an absacker@rbb-online.de.

 

4. Ein weites Feld

So unterschiedlich die Erfahrungen sind, die wir in der Pandemie gemacht haben, eines haben wir, glaube ich, gemein: Das Ringen um Normalität. Endlich wieder essen gehen, endlich wieder feiern (wenn auch illegal im Park), endlich wieder Freunde umarmen, endlich wieder reisen. Vielleicht können uns die Beschränkungen der letzten Monate aber auch lehren, dass wir in der Lage sind, uns zu verändern und "normal" neu zu denken: Muss es (nach dem Skandal in mehreren Schlachthöfen) wirklich das Billigkotelett zu Abend sein? Muss ich alle paar Monate fliegen? Und ist zu Hause kochen nicht eigentlich auch ganz schön?

Wie auch immer ihre neue Normalität aussehen mag, passen Sie auf sich auf und bewahren Sie ein Lächeln unter der Schutzmaske.

Ihre Laura Kingston

Was Sie jetzt wissen müssen

Kommentar

Bitte füllen Sie die Felder aus, um einen Kommentar zu verfassen.

Kommentar verfassen
*Pflichtfelder

Nächster Artikel

Das könnte Sie auch interessieren