Der Absacker - Zwischen Risikogebiet und Alltagstrott

Fr 14.08.20 | 19:54 Uhr
Laura Kingston
Bild: rbb|24

Wir sehnen uns alle ab und zu nach einem Tapetenwechsel. In der jetzigen Zeit vielleicht mehr denn je. Und dafür sind wir bereit, einige Risiken einzugehen. Laura Kingston über den schmalen Grat zwischen Abenteuerlust und Risiko.

Im Sommer mit den Öffis fahren ist auch ohne Pandemie mies. Die Gerüche, der Schweiß, der klebrige Arm des Nachbarn auf der nackten Haut. Jetzt noch der Schweiß-Schnurrbart, der sich unter der Gesichtsmaske bildet. Und seit wann sind die Bahnen eigentlich morgens um 7 Uhr schon voll? Ich glaube, ich habe mir Menschenmengen abgewöhnt. Also nehme ich das Rad für meinen 40-minütigen Arbeitsweg. Doch was begegnet mir an jeder zweiten Ampel? Menschenmengen - nur eben auf Fahrrädern. Teilweise so viele, dass ich es in einer Grünphase nicht schaffe, die Kreuzung zu überqueren. Corona hat mich zur Misanthropin gemacht.

1. Was vom Tag bleibt

Während ich für mich meine privaten No-Go-Bereiche abgesteckt habe (schwitzige Bahn, weiße Hosen, Make-Up im Sommer), werden auf einer größeren Skala gerade ganze Länder zu Risikogebieten erklärt - so eben passiert mit Spanien. Auch Paris ist Risikogebiet [tagesschau.de]. Und hierzulande sitzt uns ebenfalls die Frage im Nacken, ob uns bald wieder größere Einschränkungen bevorstehen. Wie viele Sorgenfalten uns die steigenden Fallzahlen - gerade in Berlin-Mitte und Neukölln - wirklich machen sollten, analysiert mein Absacker-Kollege Haluka Maier-Borst.

Zwar spielen bei den erhöhten Fallzahlen wohl vor allem Reiserückkehrende eine Rolle, aber die Berliner Gesundheitssenatorin Kalayci (SPD) will sich trotzdem nicht lumpen lassen und den illegalen Raves in Berlin, die über die vergangenen Monate an verschiedenen Orten stattgefunden haben, auf den Grund gehen. Und das mit verstärkter Kraft aus den Ordnungsämtern den Bezirken.

2. Abschalten

Während auf Malle und in Berlin das (vorläufige) Ende der Party eingeläutet wird, geht sie in Göritz erst so richtig los. Das "Wilde-Möhre"-Festival findet dieses Wochenende tatsächlich statt. Zwar mit 1.000 statt mit 7.000 Besucher*innen und unter dem Motto "Keine Maske keine Party", aber dafür mit einer Menge Platz zum Tanzen (kein Engtanz versteht sich). Zwar waren die Tickets für das Festival nach fünf Minuten im Vorverkauf weg, aber vielleicht sendet dieses kleine Festival ein bisschen Inspiration an all die anderen Festivalbetreiber*innen und Festivalfans, die sich nichts sehnlicher wünschen.

3. Und, wie geht's?

"Ich fühle mich ein bisschen wie frisch verliebt!" Dieser Satz stammt von einer Singlefreundin. Der Grund für ihre Frühlingsgefühle ist kein erfolgreiches Tinder-Date, sondern ihr Umzug in eine neue Wohnung. Jahre lang hat sie gesucht, endlich ist sie fündig geworden. Als ich mit ihr aufs neue Zuhause anstieß, dachte ich: "Was für ein Privileg, einen Tapetenwechsel in dieser Zeit zu erleben." Der Alltagstrott und das viele Daheimsein hat auch bei mir einen Wunsch nach Veränderung geweckt. Was das sein soll, ist mir jetzt noch nicht klar, aber bis dahin versuche ich, Neues im Alten zu entdecken wie die Fahrt mit dem Rad zur Arbeit - statt in der schwitzigen Bahn.

Was weckt bei Ihnen gerade Frühlingsgefühle? Oder sehnen Sie sich gerade dringend nach einem Tapetenwechsel? Schreiben Sie uns an absacker@rbb-online.de.

4. Ein weites Feld

Für Schwarze Menschen und People of Colour sind in Deutschland einige Regionen Risikogebiet. Und zwar immer. Das musste Noël Martin am 16. Juni 1996 am eigenen Leib in Mahlow erfahren. Nachdem er im Auto von Rechtsextremen verfolgt und mit einem Stein beworfen worden war, fuhr Martin gegen einen Baum - und war danach querschnittsgelähmt. Vor genau einem Monat ist er gestorben in einem Krankenhaus in Birmingham; diesen Freitag hat die Stadt Mahlow eine Trauerfeier für ihn organisiert. Zu diesem Anlass möchte ich Ihnen einen Ausschnitt aus einem Interview mit Martin zeigen, der mich besonders berührt hat:

"Diese beiden Typen überlasse ich Gott. Sie werden eines Tages ihre Strafe bekommen, wenn sie alt sind. Irgendwann wird ihre Tochter oder ihre Enkeltochter oder Urenkelin mit einem Schwarzen Menschen nach Hause kommen und sagen: "Papa, das ist der Mensch, den ich liebe – und du bist zu alt um etwas dagegen zu tun. Also find dich damit ab!" Das allein wird ihre Strafe sein."

Auf diese inspirierenden Worte folgen noch ein paar weniger inspirierte von mir: Passen Sie auf sich auf und bewahren Sie ein Lächeln (unter Ihrer Schutzmaske)!

Ihre Laura Kingston

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