Der Absacker - Hauptsache, dein Tiger lacht

Do 01.10.20 | 22:18 Uhr | Von Sebastian Schöbel
Illustration. (Quelle: privat/Leo Matthey)
Bild: Leo Matthey

Kitastreiks in Brandenburg wecken bei Sebastian Schöbel Erinnerungen an das Corona-Betreuungschaos, in Berlin fliegen menschenverachtende Chatnachrichten von Polizisten auf und die Debatte um einen kostenlosen ÖPNV lässt unsere Leser*innen nicht los.

Erziehungstechnisch war die Pre-Corona-Normalität bei uns daheim fast schon wiederhergestellt. Soll heißen: Kinder und Eltern konnten das alltägliche Emotionschaos in den Morgenstunden mit viel Hektik und Geschrei einläuten, um es dann am Abend bei belegten Broten, multimedialem Unterhaltungsprogramm sowie Vorlesen und Kuscheln wieder zu befrieden. Dazwischen ging jeder seiner Hauptbeschäftigung nach: Mama und Papa wuselten im Hamsterrad des Kapitalis… Verzeihung, der sozialen Marktwirtschaft, während die Kinder unter ihresgleichen die lokale Kita auseinandernahmen - mit den "Kollegen", wie mein Fünfjähriger inzwischen sagt.

Und dann kam der Kita-Streik. Zwar lief der nur in drei Brandenburger Städten - Potsdam, Kremmen und Hennigsdorf - , aber weil ich in einer davon lebe, war der heutige Donnerstag für mich ein Corona-Dejá-vu: werktägliche Kinderbetreuung ohne Netz und doppelten Boden.

1. Was vom Tag bleibt

Wobei meine Nerven dabei besser hielten als beim Streik der Potsdamer Stadtentsorgung. Da kam es zu Rangeleien zwischen streikenden Mitarbeitern und Geschäftsleitung. Ein Banner wurde entrissen und zeitweise gar entführt, böse Worte fielen, Gemüter kochten… Situationen also, die Eltern aus der Home-Office-Erziehungszeit kennen dürften.

Keine Kinderstube haben offenbar auch mehr als ein Dutzend Berliner Polizeibeamte genossen. Wie das ARD-Magazin "Monitor" [wdr.de] herausfand, haben sich jahrelang 25 von ihnen wiederholt rassistisch, ausländerfeindlich und insgesamt einfach menschenverachtend in einem Chat ausgetauscht. Damit schwappt der Polizeiskandal aus NRW und Hessen nun endgültig auch nach Berlin. Die Berliner Polizei hat in der Sache inzwischen ein Strafverfahren eingeleitet.

Und weil es immer noch schlimmer geht: In Berlin wurde erneut ein schlafender Obdachloser angezündet. Ein Mensch also, dem es ohnehin schon dreckig genug geht, wurde Zielscheibe eines besonders heimtückischen Angriffs. Schon wieder. Der Mann erlitt Brandverletzungen im Rückenbereich, Lebensgefahr besteht zum Glück aber nicht. 2018 war ein 47-jähriger Obdachloser nach so einem Angriff gestorben.

2. Abschalten.

Bei so viel Hässlichem möchte man eigentlich nur noch die Flucht antreten. Weil Reisen aber gerade nicht so angesagt ist (und sowieso jeden Tag mehr Corona-Risikogebiete dazukommen), bleibt nur die Nostalgie. Die wiederum passt zum 100. Jahr seit der großen Berlin-Erweiterung: 1920 wurde aus einer vollgestopften Kleinstadt an der Spree eine echte Metropole. Meine Kollegin Caroline Winkler hat alte Fotos von damals herausgekramt und ist an die abgebildeten Orte gefahren, um sie erneut abzulichten, für einen 1-zu-1-Vergleich.

Schon merkwürdig: Die alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen wirken dabei gelegentlich einladender als die modernen Ansichten…

3. Und, wie geht's?

Bestimmte Themen kann man ja blind ins Internet hinausbrüllen und bekommt immer eine Antwort - meistens mindestens genauso laut auch zurück. Trump. Radfahrer. Und natürlich: ÖPNV.

Mein Kollege Haluka Maier-Borst ließ gestern Leser "Seb" zu Wort kommen, der sich nach der angekündigten Fahrpreiserhöhung des VBB einen kostenlosen, aus der CO2-Steuer finanzierten ÖPNV wünschte. Woraufhin Haluka ganz spitzbübisch fragte: "Was denken Sie?"

Hier kommt prompt die Antwort von Leser Günther:

Das Thema Fahrpreise für den ÖPNV gehört zu den Themen, bei denen hierzulande eine gewisse Weltfremdheit herrscht. Ich besitze selbst ein Auto und kann daher die Kosten dafür benennen: Allein für den Unterhalt (Versicherung, Werkstatt, Parken, Steuer etc.) ohne Tanken gebe ich auf den Monat umgerechnet fast 400 Euro aus. Ich könnte also jeden (Arbeits-) Tag sogar mit einem Einzelfahrschein zur Arbeit und wieder nach Hause fahren, und würde nur ein Drittel davon ausgeben! Also, an einem vielleicht zu teuren Fahrpreis liegt es sicher nicht, warum Autofahrer*innen nicht auf Bus und Bahn umsteigen.

Von daher halte ich kostenlose Tickets weder für einen notwendigen Anreiz, noch für sozial verträglich. Oder warum soll ein/e Berlin-Besucher*in (die/der die von der Fahrpreiserhöhung betroffenen Einzel- und Tagestickets zumeist kauft) umsonst fahren, obwohl sie/er hier weder durch CO2- oder sonstige Umlagen einen Beitrag für den ÖPNV leisten? Oder der/die Gutverdiener*in auch noch diesen Vorteil mitnehmen, obwohl sie/er für ihr/sein SUV ein vielfaches davon ohne mit der Wimper zu zucken ausgibt?

Meine Meinung: Es muss endlich eine ehrliche Diskussion über die wahren Kosten und Umweltzerstörungen der Automobilität geführt werden (ja, und dazu gehört auch, wo das Lithium für die schicken E-Autos herkommt) und plötzlich wären 624 Euro für ein Senioren-Jahresticket weniger als die sprichwörtlichen Peanuts!

Hat Günther recht? Oder "Seb"? Schreiben Sie uns an: absacker@rbb-online.de

4. Ein weites Feld

Die Ganztagsbetreuung-im-Home-Office-Herausforderung habe ich dann übrigens ganz ordentlich gemeistert. Sprich: Es gab keine menschlichen und nur wenige materielle Verluste. Das zusammengepanschte Mittagessen kam gut an, das Eis danach noch besser, und es wurden eine Matratzenfalle über der Kinderzimmertür und ein Drachenreiter-Kostüm gebastelt. Über die Fingerfarbe im Wohnzimmer decken wir mal den Mantel des Schweigens.

Die Sache mit Calvin und Hobbes hätte ich mir allerdings zweimal überlegen sollen. Der Junior hat nämlich eines meiner alten Comics aus der Feder des begnadeten Bill Watterson gefunden - das mit dem Titel "Psycho-Killer-Dschungelkatze". Und es prompt in eigene "Calvin und Hobbes"- Comics umgesetzt. Was niedlich ist... bis man merkt, dass er zwar die zum Teil sehr philosophischen Texte nicht lesen, wohl aber die Attitüde des rebellischen, hyper-kreativen und unkontrollierbaren Jungen Calvin absolut barrierefrei verstehen kann. Und weil Calvin mit seinem Plüsch-Tiger Hobbes (in seiner Fantasie absolut lebendig) essentielle Fragen über das Leben, die Menschen und alles was dazugehört bespricht, muss man beim Vorlesen plötzlich sehr komplexe Fragen beantworten.

Illustration. (Quelle: privat/Leo Matthey)
Bild: privat/Leo Matthey

Dass die Lektüre vielleicht doch kein Fehler war, habe ich mir dann bei der US-Journalistin Molly Pascal angelesen. Die stand nämlich als Mutter mit ihrem Siebenjährigen vor der gleichen Situation und schrieb später in der Washington Post:

"Vielleicht ist der ausgestopfte Hobbes eine symbolische Darstellung elterlicher Beschränktheit und Unzulänglichkeit, durch die wir aus den Augen verlieren was es heißt, Kind zu sein. Hobbes ist echt, weil die Gefühle von Kindern echt sind."

Also: Lassen Sie Ihren Tiger lachen.

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Beitrag von Sebastian Schöbel

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