Maßnahmen gegen Corona-Ausbreitung - Wie wirkungsvoll sind Ausgangssperren bei einer Pandemie?

Mo 23.03.20 | 10:37 Uhr | Von Haluka Maier-Borst
Ein Mann blickt in Berlin aus einem Fenster im elften Stock eines Hochhauses über Wohnblocks im Stadtteil Marzahn. (Quelle: dpa/Britta Pedersen)
Bild: dpa/Britta Pedersen

Seit Montag gelten in Berlin und Brandenburg schärfere Ausgangsbeschränkungen - abgestimmt mit der Kanzlerin und den anderen Bundesländern. Für wie sinnvoll hält die Wissenschaft Ausgangsbeschränkungen und -sperren? Von Haluka Maier-Borst

Was sagen Studien? Was sagen Forscher? Das war in den letzten Wochen immer wieder die Frage, wenn es darum ging, welche neuen Maßnahmen Berlin und Brandenburg oder der Bund als Ganzes im Kampf gegen Corona ergreifen sollen. Doch wenn es um die diskutierten Ausgangssperren geht, wird es schwierig, wie zum Beispiel auch Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité, am Freitag in einem Podcast zu Bedenken gab [ndr.de].

"Isolation von Infizierten, das Rückverfolgen und Isolieren derer Kontakte, das Schließen von Schulen – all das kommt zusammen. Und es ist relativ schwer zu sagen, was es bringt noch eine Ausgangssperre da oben drauf zu setzen", sagte Drosten dem NDR.

Denn zum einen wird die Maßnahme der Ausgangssperren bei Pandemien nie als Einzelmittel, sondern als eine von vielen Maßnahmen verhängt. Und zum anderen ist es für Europa und die westliche Welt sehr lange her, dass solche Schritte notwendig waren. Die letzte große Pandemie, die die westliche Welt erfasste war die Spanische Grippe in den Jahren 1918 und 1919. Das Beispiel der schnellen Reaktion von St. Louis und der abwartenden Haltung von Philadelphia im Kampf gegen die Epidemie - und die extrem unterschiedlichen Auswirkungenen dieser Strategien - ist in diesem Zusammenhang gleich mehrfach gezeigt worden, auch bei rbb|24

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Klar ist aus diesen historischen Daten: Je weniger Menschen sich nahe kommen, desto glimpflicher können Epidemien verlaufen. Umso früher diese Distanz zwischen den Menschen hergestellt wird, desto besser. Doch welche Maßnahme am besten geeignet sind, um dies zu erreichen, ist schwierig zu sagen.

Zwar gibt es einige wenige Erfahrungswerte zu Ausgangssperren zum Beispiel aus der Ebola-Bekämpfung in afrikanischen Staaten wie Liberia [hindawi.com] oder im Kontext des Sars-Virus in China [wiley.com]. Doch jeder Ausbruch einer Pandemie verläuft anders, geben Experten [newscientist.com] zu denken. Vom Einzelfall allgemeine Regeln abzuleiten sei schwierig.

Was Modellierungsstudien zu Corona sagen

Das Solideste sind darum womöglich wissenschaftliche Modellierungen, die versuchen die aktuelle Corona-Krise zu verstehen. Zum einen zeigen die Ergebnisse einer Studie für China [worldpop.org], dass das Timing der Maßnahmen besonders wichtig ist. Hätten die Behörden drei Wochen früher in Hubei eingegriffen, wären laut diesen Berechnung 95 Prozent der Infektionen vermeidbar gewesen. Wäre drei weitere Wochen nichts geschehen, läge die Zahl der Infektionen 15 mal so hoch.

Zum anderen legt die Studie aber auch dar, dass das Reduzieren von Kontakten innerhalb einer Stadt (zum Beispiel durch freiwillige Quarantänen oder einen verordneten Lockdown) nur die zweitgrößte Rolle spielt. Am wichtigsten sei bei Corona, Erkrankte zu isolieren und ihre Kontaktpersonen nachzuverfolgen, das sogenannte Contact Tracing. Als Maßnahme mit der geringsten Auswirkung auf die Fallzahlen sahen die Forscher in ihre Analyse das strikte Reiseverbot zwischen den Städten und ins Ausland.

Diese Ergebnisse decken sich mit anderen Studien. So gehen italienische und US-amerikanische Forscher ebenfalls davon aus, dass das Reiseverbot für die Region Hubei den Verlauf der Epidemie lediglich um drei bis fünf Tage für den Rest von China verlangsamt hat und somit vor allem anderen Städten half, sich vorzubereiten [sciencemag.org]. Erklären lässt sich diese geringe Wirkung von Reisestopps damit, dass es nur wenige Einzelfälle braucht, um ein Virus an andere Orte zu tragen. Wenn nur vier Fälle in ein anderes Gebiet eingeschleppt werden, liegt die Chance bereits bei über 50 Prozent, dass ein Ausbruch sich dort verfestigt [medrxiv.com]. "Eine ganze Stadt oder eine ganze Region abriegeln, das kriegen Sie einfach nicht dauerhaft hin", erklärte die Virologin Daniela Huzly vom Berufsverband der Ärzte für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie.

Als wesentlich wirksamer gilt hingegen laut Studienlage das frühe Isolieren von Infizierten und Contact Tracing - also die Rückverfolgung von Kontaktpersonen. Doch auch das hat seine Tücken. Im Schnitt müssten bei Corona für jeden Infizierten 36 weitere Personen nachverfolgt werden [medrxiv.com]. Die Gesundheitsbehörden von Berlin und Brandenburg bringt das an ihre Grenzen, angesichts von insgesamt 150 neuen Infektionen pro Tag. Genau deshalb plädieren einige Experten dafür, soziale Kontakte auch für Gesunde zu beschränken. "Ein Shutdown kann wie ein Reset wirken", sagte der Biologe Benjamin Maier diese Woche rbb|24.

Was die Kombination der verschiedenen Maßnahmen bewirken können und was passiert, wenn sie eben nicht durchgeführt werden, das hat eine Gruppe von Forschern des Imperial College in London gerade mit drastischen Zahlen für das britische Gesundheitssystem vorgeführt.

Die Forschergruppe um den britischen Epidemiologen Neil Ferguson [imperial.ac.uk] geht für Großbritannien davon aus, dass im schlimmsten Fall 550.000 der über 60 Millionen Briten sterben könnten, wenn nichts gegen die Ausbreitung unternommen würde. Der glimpflichste Ausgang von rund 5.600 Toten sei hingegen nur dann erreichbar, wenn man

- positiv getestete Menschen konsequent isoliere,

- Familie, Partner oder Mitbewohner des positiv Getesteten in Heimquarantäne schicke,

- sowohl Schulen schließen würde,

- als auch das soziale Leben weitgehend herunterfahre.

Des Weiteren plädieren sie dafür, diese Maßnahmen als eine Art Epidemie-Bremse zu nutzen. Immer wenn die Fallzahlen sinken würden, könne man zeitweilig Schulen öffnen und das soziale Leben herauffahren. Sobald aber wieder mehr Intensivbetten in den Krankenhäusern für Corona-Patienten benötigt würden, müsse man auf die Bremse treten und beides wieder herunterfahren. Nur so könne man sicherstellen, dass das Gesundheitssystem nicht an seine Grenzen kommt und innerhalb der Bevölkerung schrittweise eine Immunität aufgebaut wird.

Auf Quarantänezwang reagieren Menschen nur mäßig

Gleichwohl zeigt sich: speziell wenn die Fallzahl der Infizierten zu hoch ist, kann eben nur noch Social Distancing zwischen den Gesunden helfen, die Zahl der Neuinfektionen zu senken. Egal ist dabei, ob die Menschen aus eigener Einsicht Abstand voneinander halten oder wegen einer Zwangsmaßnahme wie einer Ausgangssperre. Zumindest mathematisch gesehen.

Eine Studie aus Kanada [liebertpub.com] zeigt aber, wie wichtig es ist, nicht nur auf den gesetzlichen Zwang zu setzen. Als 2003 in der Metropole Toronto Fälle von Sars auftraten, wurden 22.000 Menschen unter Quarantäne gestellt. Später fragten Wissenschaftler, wie gewissenhaft sich die Betroffenen daran hielten. Dabei stellten sie fest, dass eine wirkungsvolle Quarantäne von zwei Faktoren abhing: Ob den Menschen der Sinn der Maßnahme klar war und, ob sie das Gefühl hatte, auch in der Isolation mit dem Wichtigsten versorgt zu werden.

Seien es nun Lohnfortzahlungen oder die Versorgung mit Essen, all diese Maßnahmen stärkten den Willen der Betroffenen sich an die Quarantäneregeln zu halten. Die Androhung einer Zwangsquarantäne überzeugte die Betroffenen hingegen weniger. Das Gefühl von Sicherheit war also wichtiger als das von drohender Staatsgewalt.

Außerdem setzte sich eine weitere Studie mit der finanziellen Auswirkung dieser Quarantäne in Toronto auseinander. Dort berechneten die Forscher, welche Kosten durch die Quarantäne entstanden und wie viel eine weitere Ausbreitung gekostet hätte. Der entscheidende Satz aus der wissenschaftlichen Arbeit [Journal of Infection]: "Trotz hoher Anfangskosten: Quaränten können Leben schützen und Geld sparen."

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Beitrag von Haluka Maier-Borst

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Antwort auf [nele] vom 23.03.2020 um 12:58
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