Keine Richtlinien für Ergotherapeuten - "Wir Heilmittelerbringer wurden vergessen"

Do 19.03.20 | 06:18 Uhr | Von Frank Preiss
Ergopraxis May (Quelle: Carsten Kampf)
Bild: Carsten Kampf

Supermärkte und Apotheken dürfen in Berlin weiter öffnen, Schwimmbäder und Fitness-Studios nicht. Und was ist mit Praxen für Physio- und Ergotherapie, die für Viele unverzichtbar sind? In der Branche herrscht große Verunsicherung. Von Frank Preiss

Was Sie jetzt wissen müssen

Seit fast 20 Jahren gibt es in der Cranachstraße in Friedenau die Ergotherapie-Praxis von Daniela May, bislang begaben sich dort täglich mehrere Dutzend Menschen in die helfenden Hände der insgesamt fünf Therapeutinnen. Etwa 200 Patienten wurden zuletzt versorgt, im Alter von 0 bis 85 Jahren. Menschen, die nach schweren Unfällen, nach Schlaganfällen oder für ihre Kinder Hilfe brauchen, um ihren Alltag besser bewältigen zu können. Doch in den letzten Tagen ist nahezu ein Drittel des Patientenstamms weggebrochen.

"Inzwischen wird bei uns jeder dritte Termin abgesagt", berichtet Ergotherapeutin Simone Mach, die seit neun Jahren der Praxis angehört. "Uns sagen vor allem Familien, Eltern von Kindern, ab. Unsere älteren Patienten sind erstaunlich entspannt und haben eher die Tendenz, weiter kommen zu wollen. Viele von ihnen haben oft ja auch keine anderen sozialen Kontakte und haben Angst, auch den letzten Anschluss zu verlieren", berichtet die 44-jährige Therapeutin.

Mitarbeiterin Simone Mach in der Ergotherapiepraxis für Erwachsene und Kinder. (Quelle: rbb/Carsten Kampf)Simone Mach

Therapeutinnen vor schwierigen Entscheidungen

Doch genau darin liegt auch das Risiko, dem sich die Praxis Tag für Tag aussetzt. Unter den älteren Patienten sind viele, die einen Schlaganfall erlitten haben, Menschen mit rheumatischen, neurologischen und geriatrischen Erkrankungen, also Personen, die in besonders große Gefahr geraten, sollten sie sich mit dem Coronavirus infizieren. "Wir besprechen uns mit solchen Patienten und empfehlen ihnen, daheim zu bleiben. Aber die meisten wollen lieber kommen, sie beharren auf ihrem festen Termin, den sie wahrnehmen wollen", so Mach.     

Sie und ihre Kolleginnen stehen dann immer wieder vor schwierigen Abwägungen: "Wir tragen eine hohe Verantwortung für unsere Patienten und müssen individuell entscheiden, bis zu welchem Punkt es in Ordnung ist, zu behandeln. Ein Schlaganfallpatient, der seit fünf Jahren in Therapie ist, kann auch mal für ein paar Wochen pausieren. Aber was machen wir mit Akutfällen wie frisch Operierten, mit Schreibabys und betroffenen Eltern, die wir coachen, mit der Behandlung von Kindern, deren Entwicklung dringend gefördert werden muss?", fragt sich Mach.

Ergotherapie-Praxis für Erwachsene und Kinder. (Quelle: D. May)Das Wartezimmer der Ergotherapie-Praxis in Friedenau

Berliner Verordnung ließ Therapeuten außen vor

Antworten darauf bekommt sie und ihre gesamte Branche bislang weder von der Politik noch vom Branchenverband, dem Deutschen Verband der Ergotherapeuten (DVE). "Vom DVE kam gar nichts", beklagt Mach. Vom Gesetzgeber fühlt sie sich genauso komplett allein gelassen: "Für uns gibt es gar keine gesetzlichen Vorgaben, es gibt keine Empfehlungen und Richtlinien. Wir  Heilmittelerbringer wurden komplett ausgelassen, wir tauchen nirgends auf. Das macht es uns unmöglich, sinnvolle Entscheidungen zu treffen", klagt Mach. Tatsächlich kommen Praxen von Ergotherapeuten in der "Verordnung zur Eindämmung des Coronavirus in Berlin" [berlin.de] des Senats nicht vor. Physio- und Ergotherapeuten sowie Logopäden und Podologen schweben derzeit in Berlin im luftleeren Raum.

Ergopraxis May (Quelle: Carsten Kampf)Ergotherapie-Praxis in der Cranachstraße

Das müsse sich ganz schnell ändern, fordert Ergotherapeutin Mach: "Wir brauchen klare Vorgaben dafür, wo wir rechtlich stehen, wozu wir verpflichtet sind, welche Patienten wir noch behandeln dürfen und welche nicht. Und was passiert, wenn gar keine Parienten mehr kommen. Was wirtschaftlich aus uns wird."

Schon die Absagequote von 30 Prozent trifft die Praxis ins Mark, denn meist handelt es sich dabei um langfristig abgesagte Termine, was besonders weh tut. "So können wir höchstens vier Wochen überbrücken, danach stehen wir vor dem Aus", warnt Mach, deren Berufsgruppe sich bislang keine großen Sorgen um Arbeitsplätze machen musste, da auch unter Ergotherapeuten ein akuter Fachkräftemangel herrscht.

Auf Hygiene wird schon immer geachtet

Grundsätzlich können sich Patienten in der Friedenauer Praxis gut aus dem Weg gehen und genügend Abstand zueinander einhalten. Es gibt vier Behandlungsräume und einen Handbehandlungsraum. Zu Stoßzeiten halten sich vier Therapeuten und vier Patienten, manchmal noch eine Mutter oder ein Vater eines behandelten Kindes in den Räumlichkeiten auf. "Eng werden kann es im Wartezimmer, aber das können wir gut entzerren über den Innenhof, den man auch zum Warten nutzen kann", meint Mach.

Hygiene wird in der Praxis schon immer groß geschrieben, "wir waschen uns selbstverständlich vor und nach den Therapien immer die Hände und desinfizieren sie. Und wir achten natürlich auf genügend Abstand zum Patienten, wobei das bei Säuglingen und Kindern nicht immer möglich ist. Wir haben aber auch genügend Gummihandschuhe und Mundschutze, die wir bei der Therapie tragen können", betont Mach. Wenigstens das ist der Praxis noch nicht ausgegangen. Keine Selbstverständlichkeit in diesen unübersichtlichen und ungewissen Zeiten.

FAQ zum Umgang mit dem Coronavirus

  • Ich fürchte, infiziert zu sein. Was tun?

  • Was passiert mit möglichen Infizierten?

  • Was passiert mit Kontaktpersonen?

  • Welche Kapazitäten haben die Kliniken?

  • Welche Reisebeschränkungen gibt es?

  • Wie viele bestätigte Fälle gibt es?

  • Ist das Virus meldepflichtig?

  • Was ist das Coronavirus?

  • Woher kommt das Virus?

  • Wie geschieht die Krankheitsübertragung?

  • Wie ansteckend ist das Virus?

  • Wer ist besonders gefährdet?

  • Wie funktioniert der Test?

  • Was sind die Symptome?

  • Wie kann ich mich schützen?

  • Welche Behandlung gibt es für Infizierte?

  • Gibt es Immunität gegen das Virus?

  • Wie hoch ist die Sterberate?

Beitrag von Frank Preiss

Kommentar

Bitte füllen Sie die Felder aus, um eine Antwort zu verfassen.

Antwort auf [rbb24] vom 19.03.2020 um 11:26
Kommentar verfassen
*Pflichtfelder

Nächster Artikel

Das könnte Sie auch interessieren