Interview | Seelsorgerin im Krankenhaus - "Wir sind noch leibhaftig anwesend"

Mi 25.03.20 | 06:09 Uhr
Eine Seelsorgerin am Bett (Quelle: imago images)
Bild: imago images

Seelsorger stehen Menschen bei, die Ängste haben oder Trost suchen. Doch wie kann man menschliche Nähe geben, während Abstandhalten so wichtig ist, um das Coronavirus einzudämmen? Krankenhaus-Seelsorgerin Annette Sachse über ihren neuen Alltag.

Was Sie jetzt wissen müssen

rbb|24: Frau Sachse, was leistet Seelsorge in normalen Zeiten?

Annette Sachse: Der Charité Campus Benjamin Franklin verfügt in etwa über 900 Betten. Dort sind wir für die Patientinnen und Patienten zuständig, für die Angehörigen, aber auch für die Mitarbeitenden. In der evangelischen Seelsorge haben wir zwei volle Stellen für die Klinik. Sie können daraus schon ableiten, dass wir nicht flächendeckend arbeiten können. Also versuchen wir, alle zeitnah aufzusuchen, die Seelsorge wünschen. Wir gehen auch über die Stationen, stellen uns vor und kommen manchmal tatsächlich im richtigen Moment mit den Patienten in Kontakt. Wir haben drittens das Glück, dass wir sehr zentral liegen. Unser Büro ist gut auffindbar gleich neben der Kapelle. Zu normalen Zeiten bewegen sich große Besucherströme dort entlang; und viele wagen dann auch den Schritt in die Seelsorge. Zudem gibt es Fälle, in denen das medizinische Personal oder Angehörige die Wünsche der Patienten an uns weitergeben.

Wie findet so ein Gespräch statt? Welches Ziel verfolgen Sie dabei?

Wir haben kein Ziel außerhalb der Begegnung. Wir versuchen, die Menschen erst einmal kennen zu lernen und wahrzunehmen, was sie beschäftigt. Wir fragen, was sie auf dem Herzen und auf der Seele haben und versuchen, ein menschliches Gegenüber zu sein, was stärkt und stützen kann. Manchmal ist Seelsorger sein einzig und allein das: Zuhören. Aber oft genug geben wir auch Resonanz. Sagen, was wir verstehen und versuchen, mit den Menschen gemeinsam nachzudenken. Man könnte sagen, Seelsorge ist ein Stück Lebensbegleitung und vielleicht auch Lebensdeutung. Wir haben ja auch eine entsprechende Ausbildung.

Wenn Menschen mehr als ihre Situation bedenken wollen, sie spezielle Fragen haben, die sie umtreiben, dann wollen wir hilfreich zur Seite zu stehen. Sofern gewollt, natürlich innerhalb des Horizonts des christlichen Glaubens. Für viele Seelsorger und Seelsorgerinnen ist auch klar, dass wir unsere Gespräche in Anwesenheit eines Dritten führen, auch wenn wir vielleicht gar kein frommes Wort sprechen. Aber dass Gott das Seine beiträgt zur Tröstung, zur Verstärkung und zur Ausrichtung eines Menschen. Trost kann man natürlich nicht machen, der ereignet sich.

Ich kann mir vorstellen, dass Sie Situationen erleben, die den Betroffenen ausweglos erscheinen. Dass Sie Gespräche führen, in denen es um Einsamkeit geht oder das Gefühl, verlassen zu sein.

Natürlich sind Einsamkeit, Verunsicherung und Verzweiflung auch oft Themen. Aber auch, wie sich Angst in Vertrauen wandeln kann. Häufig geschieht das durch Begegnung, durch diese Wahrnehmung durch andere. Wenn die Patienten spüren: 'Ich bin nicht allein. Hier ist ein Team für mich da, das tut, was es kann. Ich bin ja nicht verlassen. Ich habe hier Menschen um mich, die auch Anteil nehmen an dem, was mich bewegt.' Das hilft oft schon sehr.

Solche menschlichen Kontakte sind in der jetzigen Situation ein Problem. Ein Schlagwort der Corona-Krise ist Social Distancing. Wir sollen uns fernhalten von Personen, die besonders geschwächt oder alt sind. Das muss Ihre Arbeit und das Leben der Patienten ungemein beeinflussen.

Im Moment ist es tatsächlich so, dass Besuche im Krankenhaus in der Regel nicht mehr stattfinden; dass die Kontakte zu den Angehörigen rein telefonischer Art sind. Das macht für alle Patienten einen großen Unterschied aus. Insbesondere für alle, die durch schwere Erkrankungen gehen. Für die ist das etwas, was sie zusätzlich verschmerzen müssen. Das ist nicht leicht. Seelsorge ist nach der Corona-Verordnung des Landes Berlin auch weiterhin zulässig. Das gibt uns Kontinuität, natürlich unter Auferlegung der erforderlichen Verhaltensmaßregeln. Das heißt, wir können die Menschen weiter besuchen, aber auch wir sind dabei geschützt. Ich trage bei meinen Besuchen jetzt Mundschutz und halte den vorgeschriebenen Abstand von mindestens zwei Metern ein. Dadurch geht ein Stück Unbefangenheit verloren. Da wir keine Gottesdienste mehr durchführen können, rufen wir zu einem gemeinsamen Gebet täglich um 12 Uhr auf. Aber das erste, was wir vermittelt haben, war: Wir als Seelsorger und Seelsorgerinnen sind weiter für euch da. Wir sind noch leibhaftig anwesend.

Wenn Seelsorger mit einer Maske ins Zimmer kommen und Abstand halten müssen, was macht das mit den Menschen, die betroffen sind?

Ich bin mir nicht sicher, was ich in 14 Tagen oder vier Wochen sagen werde, wenn ich mehr Erfahrungen gesammelt habe. Jetzt nehme ich wahr, dass die Menschen tapfer sind. So wie Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sehr einverstanden ist mit allen Sicherheitsmaßnahmen, erlebe ich das auch im Krankenhaus. Ich glaube, Patientinnen und Patienten erleben das auch als eine Art Verantwortung von unserer Seite, wenn wir alle Sicherheitsmaßnahmen einhalten. Ich erlebe derzeit auch eine große Freude. Manche sagen: 'Ach ja, das ist schön, wenn Sie kommen, weil wir ja jetzt keinen Besuch haben dürfen.' Ich glaube ohnehin, dass Menschen, die durch schwere Erkrankungen gehen, oftmals seelische Widerstandskräfte entwickeln. Viele sagen mir, dass sie sich im Krankenhaus jetzt sicherer fühlen als draußen.

Natürlich gibt es auch Menschen, die das anders erleben. Vor Kurzem sagte eine Frau zu mir, alle Übel kämen jetzt für sie zusammen. 'Ich bin krank', sagte sie. 'Ich kann meine Leute nicht mehr hier empfangen. Ich ahne, dass es noch mehr Einschränkungen geben wird, dass die medizinische Aufmerksamkeit in Richtung der Behandlung von Corona-Patienten geht' und für sie verloren geht. Ich glaube das nicht. Ich hoffe das nicht.

Wir erleben derzeit immer wieder, dass ausgerechnet Maßnahmen, die Distanz herstellen sollen, auch ein Gemeinschaftsgefühl auslösen. Schließlich sind wir alle betroffen. Ganze Stadtviertel oder Städte verabreden sich dazu, gemeinsam auf ihre Balkone zu kommen, um gemeinsam für Helfer zu klatschen.

Was es langfristig bedeuten wird, wenn keiner, den du liebst, schnell ins Krankenhaus zu dir kommen kann, vermögen wir jetzt noch nicht zu sagen. Aber diese bekundete Verbundenheit durch E-Mails, durch SMS, durch Telefonanrufe, die spüren im Moment auch stark die Patienten. Dass auch das medizinische Personal, das stark bleibt, ganz viel Anerkennung zuteil wird, tut ihnen gut. Das brauchen die Schwestern und Ärzte auch sehr.

Frau Sachse, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führt Oliver Noffke, rbb|24

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Antwort auf [Jörg] vom 25.03.2020 um 10:20
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