Gefahr der häuslichen Gewalt - Warum Kinderschutz in Corona-Zeiten so schwer ist

Fr 17.04.20 | 06:33 Uhr | Von Robin Avram
Symbolbild: Kindesmissbrauch
Bild: imago images / blickwinkel

Seit einem Monat sind Kitas und Schulen geschlossen. Die Berliner Polizei verzeichnet seither nur einen leichten Anstieg häuslicher Gewalt – doch vermutlich wird auch das Dunkelfeld der Gewalttaten größer. Engagierte Sozialarbeiter halten dagegen. Von Robin Avram

"Kind in Not? Familie in der Krise?", fragen digitale Plakate seit vergangener Woche zehntausende Wartende an Berliner S- und U-Bahnhöfen. Mit der Info-Kampagne für die "Hotline Kinderschutz" will die Senatsbildungsverwaltung dazu beitragen, das mutmaßlich wachsende Dunkelfeld häuslicher Gewalt auszuleuchten.

Denn seit einem Monat sind die Kitas, Schulen und Jugendzentren dicht – und die allermeisten Kinder viel häufiger zu Hause. Das könne gerade auch für Kinder gefährlich werden, warnte die Opferschutz-Organisation Weißer Ring. Dort, wo es bereits Gewalt gebe, werde sie noch einmal schlimmer, erklärte auch die Psychologie-Professorin Tanja Michael Ende März im Spiegel.

Polizei: noch kein Beleg für Zunahme häuslicher Gewalt durch Pandemie-Auflagen

Doch glaubt man nur den offiziellen Statistiken, wirkt es so, als wären diese Warnungen übertrieben gewesen. Die Berliner Polizei rückte in den vergangenen vier Wochen zwar rund ein Drittel häufiger als im Vorjahreszeitraum aus, um Notrufen wegen häuslicher Gewalt nachzugehen. Doch die tatsächlichen eingeleiteten Ermittlungsverfahren stiegen nur um moderate zehn Prozent - und zwar sowohl im Februar als auch im März.

 

Bei der Bewertung dieses Anstiegs ist die Polizei zurückhaltend: "Derzeit kann noch keine Aussage darüber getroffen werden, ob der leichte Fallzahlenanstieg mit den derzeitigen Pandemie-Auflagen im Zusammenhang steht oder möglicherweise mit der generellen Steigerung der Fallzahlen in den letzten Jahren", schreibt ein Polizeisprecher auf Anfrage von rbb|24.

Doch auch der Krisenstab der Polizei weiß, dass die Statistiken nicht die ganze Wahrheit sagen. "Eine tatsächliche Aussage zu einem Anstieg von Fällen 'Häuslicher Gewalt' ist derzeit nicht möglich, da diverse Kontrollinstanzen derzeit nicht aktiv an/mit Familien arbeiten können (Schulen, Kindergärten, Kinder-/Jugendeinrichtungen etc.)" heißt es in einem internen Lagebericht des Senats zu häuslicher Gewalt.

Mit anderen Worten: Wenn Sozialarbeiter nicht mehr bemerken, dass ein Kind mit blauen Flecken zur Schule kommt, können sie auch nicht mit den Eltern sprechen oder notfalls Jugendamt und Polizei einschalten. Mögliche Folge: Durch die Corona-Krise werden zwar mehr Kinder geschlagen. Aber in den Statistiken spiegelt sich das nicht wieder, weil Jugendamt und Polizei seltener von der Gewalt erfahren.

Was Sie jetzt wissen müssen

So erlebt ein Jugendsozialarbeiter den "Kontrollverlust"

Anruf bei einem Jugendsozialarbeiter. "Ich dachte, endlich ruft mal ein Kind an", sagt er und lacht. Der Mann, der anonym bleiben will, ist solch eine "Kontrollinstanz", die hauptberuflich über das Kindeswohl wachen. Er betreut seit einem Jahr an einer Grundschule im Stadtteil Tiergarten rund 200 Kinder. Solche Jugendsozialarbeiter gibt es laut Bildungsverwaltung inzwischen an jeder dritten öffentlichen Schule Berlins. Jeden Tag bieten er und seine Kollegin nun telefonische Sprechzeiten an, damit die Kinder mit ihnen über ihre Anliegen und Sorgen sprechen können.

"Nachdem unsere Schule schließen musste, haben wir alle Familien angerufen, bei denen wir ein unwohles Gefühl hatten", erzählt der Mann. Die Familie des Kindes, das häufig unpünktlich zur Schule kam und meist auch kein Pausenbrot dabei hatte. Die Familie, bei dem zehn Kinder auf engem Raum zusammenleben.

Mit allen seinen Sorgenkindern konnte er schließlich sprechen, keines berichtete davon, dass es ihm zu Hause nicht gut gehe. Das erleichterte ihn zunächst. "Aber natürlich kann ich per Telefon nicht so eine Verbindung mit den Kindern herstellen, wie es sonst möglich ist," sagt er. 

Familien zu Hause besuchen, Spaziergänge mit den Kindern

Der Sozialarbeiter versuchte deshalb auch, über die sozialen Medien mit den Kindern in Kontakt zu bleiben. Doch das ist mit Grundschülern wesentlich schwieriger als mit älteren Kindern. Über eine Instagram-Gruppe erreichte er nur 10 "seiner" 200 Kinder, von den anderen hat er bislang keine Handynummer. Bald will er einen Blog in die digitale Lernplattform der Schule integrieren, über die die Kinder ihre Hausaufgaben bekommen. Sein Ziel: möglichst mit allen Kindern in Kontakt kommen.

Denn je länger der Shutdown dauert, desto mehr macht sich er Gedanken darüber, wie es in all den Familien zu Hause läuft, die er bislang nicht auf dem Radar hatte. Gibt es Väter oder Mütter, die unter dem Stress der Corona-Krise die Nerven verlieren? "Wenn wir wirklich wissen wollen, wo was brennt, müssen wir eigentlich alle Kinder besuchen", sagt er.

Jetzt, wo der Shutdown noch einmal verlängert wurde, will er deshalb endlich wieder in persönlichen Kontakt kommen. Seine Idee: "Ich würde gerne bei den Familien klingeln und mit den Kindern alleine zusammen einen Spaziergang machen - natürlich mit dem Sicherheitsabstand von 1,5 Metern." Ob das machbar ist, muss er allerdings noch mit der Schulleitung besprechen. In jedem Fall hofft er, dass die Grundschule möglichst bald wieder öffnen kann. "Ich freue mich, wenn ich am 4. Mai alle Kinder hier wieder wohlbehalten begrüßen kann."

Jugendämter und Beratungsstellen für Kinderschutz bieten weiter Hilfe an

So wie der Jugendsozialarbeiter tun auch tausende andere professionelle Kinderhelfer während der Corona-Krise ihr Möglichstes, um gewaltgefährdeten Kindern zu helfen. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) sagt: "Gerade jetzt ist Kinderschutz das oberste Gebot. Die Jugendämter helfen auch jetzt. Ihre Angebote für Krisenfälle und die Hilfen zur Erziehung laufen weiter. Die Erziehungs- und Familienberatungsstellen und auch andere Beratungsstellen im Kinderschutz sind ebenfalls weiter für Familien da und bieten ihre Unterstützung an."

Denn auch wenn die offizielle Statistik es noch nicht wiederspiegelt: Das lange Zusammenleben auf engem Raum, ie Sorgen um die Zukunft – all das kann zu Krisen führen oder bestehende Konflikte innerhalb der Familie verschärfen.

Beitrag von Robin Avram

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Antwort auf [Frank S.] vom 18.04.2020 um 03:06
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