Interview | Eckhard Baumann Straßenkinder e.V. - "Einige Jugendliche hauen vor häuslicher Gewalt ab"

Di 07.04.20 | 06:54 Uhr
Junger Mann mit Kapuze an einem Ufer in Potsdam (Bild: imago images/Rolf Zöllner)
Bild: imago images/Rolf Zöllner

Viele Kinder und Jugendliche durchleben in der Corona-Krise eine besonders schwierige Zeit. Der Verein Straßenkinder stellt fest, dass es einige zuhause nicht mehr aushalten und ausreißen. Ein Gespräch mit Eckhard Baumann, Leiter von Straßenkinder e.V.

Was Sie jetzt wissen müssen

Im Oktober 2000 wurde Straßenkinder e.V. in den Räumen des Foyers an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Zoologischen Garten offiziell gegründet. Das Engagement des Vereins war und ist motiviert von christlicher Nächstenliebe und begann zunächst ganz einfach mit einer wöchentlichen Teestube als Anlaufstelle für die auf dem Breitscheidplatz "abhängenden" Straßenkinder und Straßenjugendlichen. Von Anfang an dabei ist der Leiter des Vereins, Eckhard Baumann.

rbb: Wegen der Corona-Krise ist das Kinderhaus Bolle geschlossen. Über Whatsapp haben Sie aber Kontakt zu den Kindern und den Eltern. Wie gehen Eltern und Kinder im Moment damit um, dass sie nicht raus können?

Eckhard Baumann: Für viele Kinder ist es eine sehr schwierige Zeit. Sie wohnen nicht im Berliner Vorort, sondern in einer kleinen Wohnung, sehr oft mit ihren Eltern. Ihnen fällt eigentlich die Decke auf dem Kopf und Schulaufgaben sind nach wie vor zu tun. Aber für viele Eltern ist es das erste Mal, dass sie ihren Kindern in dieser Intensität helfen müssen. Das ist für viele sehr schwierig.

Die häusliche Gewalt nimmt - so wie von Experten erwartet - zu. Wird die Situation dramatisch?

Viele Familien versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber es gibt auch eine ganze Menge und eine zunehmende Zahl, wo es schwierig wird, wo den Leuten tatsächlich die Decke auf den Kopf fällt und wo es auch wohl zu häuslicher Gewalt kommt. Dieser Ausnahmezustand sollte nicht länger andauern.

Haben Sie Möglichkeiten, für diese Kinder irgendwas zu tun?

Ja, wir haben ein Sorgentelefon für Eltern und Kinder. Wir halten Kontakt in den Whatsapp-Gruppen. Wir haben auch eine tägliche Challenge, wo die Kids Aufgaben bekommen. Die können sie per Video einschicken. Es wird ein Tages- und ein Wochensieger gekürt. Außerdem bieten wir auch eine Hausaufgaben-Online-Betreuung an und versuchen eigentlich alles, um an den Kids dranzubleiben. Bei vielen gelingt uns das auch. Allerdings nicht bei allen. Und das sind dann auch unsere Sorgenkinder, die wir momentan nicht erreichen.

Was bedeutet das, wenn Sie diese Kinder nicht erreichen können?

Man kann derzeit nicht mal schnell vorbeigehen. Wir kennen Fälle, wo wir wissen, dass es eine relativ grenzwertige Situation gibt. Und klar versuchen wir dann, Kontakt zu bekommen. Aber wir können den Kontakt ja auch nicht erzwingen.

Was fehlt den Eltern und vor allem den Kindern?

Für die Kinder ist es unheimlich schwer, in einer kleinen Wohnung eingepfercht zu sein, nicht auf die Spielplätze zu können oder ins Kinderhaus "Bolle" zu kommen. Es herrscht Langeweile. Bei dem schönen Wetter ist auch nahezu unerträglich, ständig drin zu sein.

Ihr Verein betreut auch Straßenkinder. Wie hat sich die Situation für diese Kinder verändert?

In unserer Straßenkinder-Arbeit ist die Situation sehr schlimm. Nachdem die Ausgangsbeschränkungen erlassen wurden, haben wir festgestellt, dass nach wenigen Tagen einige Jugendliche von zuhause abgehauen sind, weil sie Streit haben oder vielleicht auch Gewalterfahrung bekommen haben. Auf der Straße verbringen sie Zeit mit schon bestehenden Gruppen an jungen Obdachlosen, nächtigen dort und trinken aus einer Flasche. Also da haben wir eine Zunahme beobachtet. Das ist keine schöne Situation, weil auch diele Kälte-Hilfsmaßnahmen Ende März schon geendet sind. Infolgedessen sind unsere Mitarbeiter momentan wahnsinnig eingespannt. Teilweise arbeiten sie bis zu zwölf Stunden, natürlich mit Mundschutz und Schutzhandschuhen. Die Situation in der Straßenkinder-Arbeit ist wirklich sehr prekär.

Ihr Verein ist zu 100 Prozent spendenfinanziert. Wie bei Ihnen derzeit die Situation?

Wir bemerken einen Spendenrückgang. Gleich zu Beginn der Krise hat uns eine Firma kontaktiert, die für uns sehr wichtig ist, ob wir nicht ohne ihre Fördermittel auskommen könnten. Das heißt, es gibt schon einen Rückgang. Aber wir brauchen diese Spenden, weil uns zu hundert Prozent aus diesen Spenden finanzieren. Und ehrlich gesagt befürchte ich, dass es bei uns auch zeitversetzt noch ein bisschen dramatischer wird, weil die Unternehmen jetzt erst diese Umsatzeinbußen haben. Das heißt höchstwahrscheinlich in zwei, drei Monaten, werden wir das Ausmaß der Krise auch finanziell noch mehr zu spüren bekommen.

Wie kann man Ihren Verein unterstützen, finanziell oder vor Ort?

Wir brauchen jede Menge finanzielle Unterstützung, weil uns das wegbricht. Mit dem praktischen Einsatz ist es wesentlich schwieriger. Man braucht Masken und Handschuhe. Wir brauchen eigentlich Fachkräfte, die wir aber haben. Es ist uns nicht mit geholfen, wenn Menschen ehrenamtlich für uns arbeiten wollen. Das hilft wenig, weil sie auch nicht eingearbeitet sind. Das zu koordinieren ist zurzeit ein Riesenaufwand. Das Anlernen ist auch schwierig, denn es ist keine Arbeit, die jetzt ganz einfach ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Eckhard Baumann führte Miriam Keuter, rbb88,8.

Sendung: Abendschau, 06.04.2020, 19:30 Uhr

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Antwort auf [RaSt1957] vom 07.04.2020 um 15:06
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