Modellrechnungen zur Epidemie - Corona ist ein Marathon, kein Sprint

Di 14.04.20 | 17:49 Uhr
Wie die Fallzahlen sich verändern könnten
Bild: rbb|24

Am 20. April werden die bisherigen Maßnahmen gegen Corona auslaufen. Doch was kommt dann? Modelle legen nahe, dass eine Verlängerung des Lockdowns prinzipiell helfen kann. Am wichtigsten ist aber, was danach kommt. Von Haluka Maier-Borst und Arne Schlüter

So schnell wird keiner die letzten Wochen vergessen. Selbst Ostern fand unter anderen Bedingungen statt. Aktuell wollen die Regierenden von Bund und Ländern gemeinsam mit Wissenschaftlern beraten, wie sehr die Maßnahmen gewirkt haben und wie es weitergehen soll. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller (SPD), erwägt zum Beispiel bereits, den Lockdown mindestens bis zum 27. April fortzuführen. Auch das Robert-Koch-Institut rät davon ab, bereits die Maßnahmen zu lockern.

Doch wie groß ist die Wirkung von ein paar Wochen andauernden, rigiden Einschränkungen? Und wie groß ist die Wirkung von weniger strengen, aber dauerhaften Maßnahmen? rbb|24 versucht diesen Unterschied mit einem vereinfachten Modell zu skizzieren und die grundlegenden Mechanismen zu erklären.

Was dieses Modell aber nicht kann und soll: analysieren, was bisher in Deutschland, Berlin oder Brandenburg geschehen ist. Oder gar Vorhersagen darüber treffen, wie sich die Fallzahlen künftig verändern. Darum sind auch alle Zahlen an dieser Stelle zwar an Deutschland angenähert. Wir beziehen uns aber bewusst an keiner Stelle auf echte Fallzahlen, um nicht Modell mit Realität zu vermischen.

1. Was ein Lockdown langfristig bewirkt

Zunächst einmal soll ein Quasi-Lockdown wie der aktuelle eins bewirken: Insgesamt sollen sich weniger Menschen treffen. Dadurch sollen auch die bereits Infizierten in der Bevölkerung weniger draußen sein und weniger weitere Menschen anstecken. Wir sind hier für das Modell vereinfachend davon ausgegangen, dass jeder Infizierte 50 Prozent weniger Menschen neu ansteckt als normalerweise. Als Folge sollte die Zahl der Neuinfektionen pro Woche entweder nicht weiter rapide steigen oder sogar sinken.

Wie lange ein Lockdown dafür dauern muss, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Benjamin Maier von der Humboldt-Universität erklärte gegenüber rbb|24 Mitte März, dass er mindestens die doppelte maximale Inkubationszeit, also die Zeit zwischen Ansteckung und Ausbrechen einer Covid19-Erkrankung, veranschlagen würde. Dies entspricht ziemlich genau der aktuellen Lockdown-Dauer von vier Wochen. Doch egal ob der Lockdown nun vier oder ein paar Wochen mehr dauert – fährt man anschließend das öffentliche Leben wieder auf Normalniveau hoch, passiert Folgendes.

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Schaut man auf das große Ganze, hat sich der Höhepunkt der Epidemie lediglich um ein paar Wochen nach hinten verschoben. Ähnlich wäre der Effekt, wenn die Maßnahmen in dieser Lockdown-Phase drastischer wären und jeder Infizierte noch weniger Menschen ansteckt. Sobald die Maßnahmen restlos gelockert werden, geht es wieder los.

Der Grund dafür ist, dass ein paar Wochen mehr oder noch strengere Maßnahmen an einem Hauptproblem nichts ändern: Bisher haben nur wenige Menschen die Erkrankung durchgemacht und sind damit wohl immun.

Wenn aber nur sehr wenige immun sind, kann die Epidemie sofort wieder Fahrt aufnehmen. Die Kurve steigt an und schnell sind Kliniken überfordert. Um die Kurve insgesamt abzudämpfen, ist ein zeitweiliger Lockdown also nicht hilfreich. Der Sinn vom Lockdown erschließt sich nicht, wenn man sich nur das Gesamtbild anschaut. Es ist wichtig, dass man gewissermaßen hineinzoomt, auf den Verlauf der Fallzahlen während der Zeit des Lockdowns.

2. Was ein Lockdown kurzfristig bewirkt

Ein Lockdown kann zumindest für die Zeit seiner Dauer das Wachstum der Fälle deutlich abbremsen. Hier sind wir wieder davon ausgegangen, dass während eines vierwöchigen Lockdowns Infizierte 50 Prozent weniger Menschen anstecken als sonst. Der Vergleich dazu ist die Situation ohne jegliche Maßnahmen.

Wenn weniger Menschen sich neu infizieren, eröffnen sich wieder Maßnahmen, die derzeit kaum möglich sind oder Vorbereitung brauchen. Was nämlich ein solch simples Modell nicht kann, ist einzelne Maßnahmen abzubilden. Es interessiert sich nur dafür, ob weniger Menschen sich anstecken. Wie das erreicht wird, ist dem Modell egal, aber nicht der Realität.

Ein Lockdown ist sozusagen der Rasenmäher unter den Maßnahmen. Um die Zahl der Neuinfizierten pro Infiziertem zu halbieren, halbiert man die Kontakte aller. Man kann aber durchaus präzisere Maßnahmen vornehmen, die nicht alle betreffen. Aus verschiedenen Modellstudien ist zum Beispiel klar, dass Contact-Tracing, also das Nachverfolgen von Kontakten von Infizierten, eine der besten Maßnahmen ist [worldpop.org]. Nur ist es so, dass für jeden Corona-Infizierten schätzungsweise 36 Kontakte nachverfolgt werden müssen [medrxiv.org]. Das kann ab einer gewissen Anzahl an Fällen schlicht nicht mehr geleistet werden. 

Aktuelle Studien [sciencemag.org] legen zudem nahe, dass fast die Hälfte der Ansteckungen passieren, noch bevor die Betroffenen selbst Symptome zeigen. Sprich andere Maßnahmen wie das Isolieren von Menschen, die schon krank sind, helfen nur bedingt. Denn zu diesem Zeitpunkt haben diese Infizierten längst schon andere angesteckt. Entsprechend muss das Contact-Tracing besonders früh erfolgen und schnell geschehen. Auch darum wird diskutiert, ob eine Handy-App helfen könnte. Die App könnte potenziell das Ausfindigmachen und Warnen von Kontakten verschnellern, sofern genügend Menschen diese App nutzen würden. Die Zeit des Lockdowns kann also auch dabei helfen, solche Maßnahmen vorzubereiten. Das könnte für die Zeit danach wichtig sein.

3. Was nach einem Lockdown passiert

Wie schon oben erklärt: Ein mehrwöchiger Lockdown ändert an der Gesamtlage nichts. Was zählt, ist, was danach geschieht. Werden keine Maßnahmen getroffen oder sind diese wirkungslos, hat der Lockdown nur die Spitze der Epidemie nach hinten verschoben. Wenn aber im Anschluss dauerhaft die Ausbreitung gebremst wird, wird die Spitze der Epidemie deutlich kleiner – und das rapide. Damit am Höhepunkt der Epidemie die Höchstzahl an Infizierten sich in etwa halbiert, müsste jeder Infizierte im Schnitt nur 30 Prozent weniger Menschen anstecken. Die Höchstzahl der Infizierten wird sogar fast geviertelt, wenn jeder Infizierte im Schnitt 40 Prozent weniger Menschen ansteckt.

Veränderung der Situation durch Maßnahmen nach dem Lockdown

Gleichzeitig muss aber beachtet werden, dass eine niedrigere Infektionswelle über eine längere Zeit an- und wieder abschwillt. Das Gesundheitssystem wird also zwar weniger auf einmal belastet, dafür aber dauerhafter. Eine wie große Last das Gesundheitssystem schultern und wie viele Einschränkungen die Gesellschaft aushalten kann - das sind die Fragen, die derzeit Wissenschaftler und Politiker versuchen zu beantworten. 

Es folgen noch viel schwierigere: Welche Maßnahme senkt die Ausbreitung wie stark und wie sehr belastet das die Bevölkerung? Wie groß ist der Effekt einer Maskenpflicht? Wieviel bringen geschlossene Schulen?

Nur um einmal zu verdeutlichen, wie komplex gerade das Abwägen jeder Maßnahme ist, sei die Spannweite der Ergebnisse für die Frage der Schulschließungen skizziert. Zahlreiche Studien [cdc.gov] zu anderen Epidemien suggerieren, dass Schulschließungen helfen, Epidemien einzudämmen. Auch eine Studie, die am 25. März im Fachmagazin Lancet Public Health [thelancet.com] erschien, fand heraus, dass in China das Schließen der Schulen eine der wichtigeren Maßnahmen beim Stoppen der Ausbreitung von Corona war. 

Auf der anderen Seite wurde am 6. April eine Studie im gleichen Fachmagazin [thelancet.com] veröffentlicht, die vorrechnete, dass in den USA womöglich die Schulschließungen mehr Leben kosten als retten. Denn durch die Schulschließungen müssten viele Alleinerziehende im medizinischen Personal zu Hause bleiben. Sie würden bei der Versorgung von Patienten fehlen. Inwiefern welche der Studienergebnisse auf Deutschland übertragbar sind, ist aufgrund von vollkommen anderen Gesellschaftsstrukturen in den USA und China ebenfalls fraglich.

Was aber hoffentlich ein wenig klarer wird durch die simple Modellrechnung, ist, dass es eben darauf ankommt, was auf den Lockdown folgt. Einen normalen Alltag wird es wohl vorerst nicht geben.

Methodik: Verwendet wurde ein SEIR-Modell. Wir sind davon ausgegangen, dass zum Startzeitpunkt 1.000 Infizierte auf 80 Millionen Einwohner kommen und die Basisreproduktionszahl R0 bei 2,5 liegt. Ferner haben wir angenommen, dass nach 30 Tagen ein Lockdown eingeführt wird, der die Reproduktionszahl R zu diesem Zeitpunkt auf die Hälfte von R0 bringt und dieser Lockdown 4 Wochen dauert bzw. je nach gewählter Option auch bis zu 8 Wochen. Für die Zeit nach dem Lockdown haben wir wiederum Werte von R zwischen R0 und der Hälfte von R0 angenommen. Den Code hinter der Simulation können Sie hier nachvollziehen [github.com].

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Antwort auf [Patrick Kaiser] vom 14.04.2020 um 14:28
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