Mobilitätsanalyse mit Handydaten - Wie der Lockdown-Effekt verpufft

Mi 29.04.20 | 06:40 Uhr
Mobilität
Audio: Radioeins | 20.04.2020 | Interview mit Haluka Maier-Borst | Bild: rbb|24

Trotz aller Lockerungen: Nach wie vor dauert die bundesweite Kontaktsperre eigentlich an. Doch Mobilfunkdaten legen nahe, dass inzwischen die Wirkung des Lockdowns kaum noch vorhanden ist. Das könnte Folgen haben. Von Haluka Maier-Borst

Volle Straßen, Parks und Geschäfte. Gruppen, die zusammensitzen. Subjektiv haben viele den Eindruck, dass die Leute sich kaum noch an die nach wie vor geltende Kontaktsperre halten. "Seit Ostern ist es wieder so, dass jeder macht, wie er denkt", war bereits vergangene Woche das Fazit einer Berlinerin gegenüber rbb|24 [twitter.com]. Nun gibt es zusätzlich zu diesen Eindrücken Daten. Daten, die untermauern, dass der Effekt des Lockdowns fast verpufft ist.

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Aggregierte und damit anonymisierte Handydaten von der Firma Teralytics zeigen nämlich zwei Dinge:

1. Schon vor den Lockerungen beim Lockdown in der vergangenen Woche gab es eine Veränderung. Die Mobilität war in den zwei Wochen vor Ostern deutlich niedriger als in den zwei Wochen rundum Ostern. Also noch in der harten Phase des Lockdowns wurden die Menschen mobiler.

2. Seit den Lockerungen der vergangenen Woche stieg die Mobilität noch einmal. Inzwischen ist man bei der Mobilität sogar auf dem Niveau vor der Kontaktsperre angekommen – sowohl bundesweit als auch für Berlin und Brandenburg im Speziellen.

Das wird deutlich, wenn man sich für jede der Wochen seit dem 9. März die durchschnittliche Mobilität anschaut. Ausreißer wie die Osterfeiertage, Karfreitag und Ostermontag hat rbb|24 hierfür herausgerechnet.

Allerdings muss man beim Vergleich auf Wochenbasis beachten, dass die Woche vor der Kontaktsperre kein einheitliches Bild widerspiegelte. Während am Montag den 16. März die Mobilität nur geringfügig niedriger war als im Vorjahr zur gleichen Zeit, sank sie bis zum Wochenende vor dem Lockdown gewaltig. Schon bevor die Kontaktsperre offiziell ausgesprochen wurde, reduzierten viele ihre Bewegungen.

Aktuell liegen die Werte für Deutschland, Berlin und Brandenburg zwischen diesen beiden Extremen. Man könnte sagen, wir leben nur noch in einem halben Lockdown. Und das obwohl eigentlich der Status Quo nur erste Lockerungen darstellen sollte. Auch Frank Schlosser von der Humboldt-Universität Berlin kann das bestätigen: "Der Effekt ist nur halb so stark ist wie zum Höhepunkt."

Was genau das für die Ausbreitung des Virus bedeutet, ist schwer abzuschätzen. Es könnte sein, dass der gemessene Zuwachs der Mobilität kein Problem darstellt. Das könnte entweder der Fall sein, wenn die Leute mehr unterwegs sind, aber sich stets an die Abstandsregeln halten.

Oder weil die Gesundheitsämter aufgrund von gelernten Erfahrungen und niedrigeren Neuinfektionszahlen besser die Kontakte von Erkrankten nachverfolgen können. Beides würde dazu führen, dass die steigende Mobilität keinen zweiten Ausbruch verursacht. Erste Indizien deuten jedoch in die andere Richtung und sprechen eher dafür, dass Mobilität und das Risiko zur Infektion weiterhin zusammenhängen.

So konnte Schlosser zeigen [rocs.hu-berlin.de], dass die Risikowahrnehmung und die gemessene Mobilität sich von Anfang März bis Mitte April im Gleichklang veränderten. War der Anteil an Leuten höher, die in einer Umfrage der Aussage "Ich finde die Maßnahmen, die derzeit ergriffen werden, stark übertrieben" zustimmten, lag auch die Mobilität auf einem höheren Niveau. 

Allerdings gilt es bei der Umfrage zu beachten, dass zwar rund 1000 Teilnehmer befragt wurden, das aber bislang nur für sechs Wochen. Dennoch geht Schlosser davon aus, dass die Mobilität ein guter Indikator ist: "Es sollte weiterhin einen Zusammenhang geben zwischen Mobilität und sozialen Kontakten geben." 

Auch die Nachrichten vom Robert-Koch-Institut (RKI) sind nicht beruhigend. Seit dem 16.4. steigt die für Gesamtdeutschland errechnete Reproduktionszahl R langsam wieder. Anfang der Woche lag der mittlere Wert der Schätzung, der "Best Guess", erstmals wieder bei 1,0. Das Konfidenzintervall, das die Unsicherheiten mit einberechnet, lag bereits seit einigen Tage über dem Wert. Es sagt aber auch, dass auch ein Wert unterhalb 1 möglich wäre.

Zur Erinnerung: Nur wenn R nicht über 1 liegt, ist die Epidemie im Griff zu halten, weil jeder Infizierte im Schnitt nur eine Person ansteckt. Dabei gilt es aber zu beachten, dass R sich nur mit Zeitverzug ändert. Zum einen weil im Mittel 4 Tage vergehen, bis jemand der sich heute angesteckt hat, Symptome zeigt. Zum anderen weil für die Berechnung von R das RKI sich einen Zeitraum von 4 Tagen anschaut. Sprich: R verändert sich mit der Verzögerung von 4 bis 8 Tagen. Der aktuelle Anstieg würde also wohl nur die ersten Tage mit offiziellen Lockerungen reflektieren und er könnte noch teilweise den Effekt der nicht-offiziellen Lockerung nach Ostern zeigen.

Auch lokal zeichnet sich ab, dass womöglich die Zahl der Neuinfizierten wieder in Folge von mehr Mobilität steigen könnte. So ist zum Beispiel aktuell zu sehen, dass für Brandenburg der von rbb|24 errechnete Trend für die Neuinfektionen nicht mehr sinkt. Dabei muss aber beachtet werden, dass in Brandenburg durch den Ausbruch in einer Klinik vergangene Woche es einen lokalen, besonders großen Infektionsherd gab.

Interessant ist, dass der Lockdown nach wie vor eine klare Stadt-Land-Kluft zeigt. Die Bewegung in der Stadt nahm deutlich mehr ab als auf dem Land, als am 23. März die Kontaktsperre verordnet wurde. Auch jetzt, wo die Mobilität überall zunimmt, bleibt ein klarer Unterschied zwischen den Landkreisen in Brandenburg und Berlin bestehen. Welchen Effekt dieser Unterschied auf das Infektionsgeschehen hat, wird sich womöglich in den nächsten Wochen zeigen.

Und es gibt noch etwas, dass Schlosser und seine Kollegen bei ihren Analysen sehen konnten. Die kurzen Bewegungen innerhalb von Gebieten würden zunehmen, nicht aber so sehr die längeren Trips zwischen Landkreisen und Stadtteilen. Das könnte zumindest bedeuten, dass weniger Infektionen eingeschleppt werden, was ein wenig die Kontaktverfolgung erleichtern könnte. Doch ob das alleine reicht, bleibt fraglich.

Anmerkung der Redaktion: Wir haben geschrieben, dass in den zwei Wochen nach Ostern die Mobilität höher lag. Das stimmt. Tatsächlich wollten wir aber sagen, dass zwischen den ersten 2 Wochen des Lockdowns und den 2 Wochen rundum Ostern (die Woche mit Karfreitag und die Woche mit Ostermontag) eine Differenz besteht. Und dann in der Woche mit Lockerungen nochmal die Mobilität stieg. Das haben wir oben angepasst. Verzeihen Sie bitte die Verwirrung.

Sendung: Radioeins, 29.04.2020, 12:10 Uhr

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