Kampf gegen das Coronavirus - Wie es sich mit dem schwedischen Sonderweg lebt

Do 09.04.20 | 12:57 Uhr | Von Anke Fink
Die Menschen in Stockholm auf einem Marktplatz, sitzen und bewegen sich frei. (Quelle: dpa)
Bild: dpa

Kitas und Grundschulen gefüllt, Geschäfte und Restaurants geöffnet: Der Kampf gegen das Coronavirus wird in Schweden vergleichsweise gelassen angegangen. Warum dieser Sonderweg gleichzeitig zu Dankbarkeit und Kopfschütteln führt. Von Anke Fink

Freundschaften mit Schweden zu schließen ist so ziemlich das Schwierigste, was man sich in dem Land mit seinen etwas mehr als zehn Millionen Einwohnern vornehmen kann. Die Schweden sind freundlich, hilfsbereit und sprechen alle Englisch. Aber sie laden dich nie zu sich nach Hause ein und lassen sich auch nicht so gern nach Hause einladen. Sie grüßen freundlich, aber erzählen nur ganz wenig Persönliches. Einen Schweden zum richtigen Freund zu haben, ist nahezu unmöglich. Die Schweden tun sich auch untereinander schwer damit.

In der aktuellen Corona-Krise scheint das ein Vorteil zu sein. Abstandhalten ist ohnehin oberste Maxime. Wenn sich Bekannte zufällig in der Stadt beim Einkaufen treffen, wird sich zur Begrüßung zugenickt und in einer Distanz von anderthalb Metern geplaudert – so wie immer. Herzliche Umarmungen und Küsschen zur Begrüßung sind wirklich ganz und gar unschwedisch - was aktuell womöglich lebensrettend ist.

Es ist viel geschrieben worden über den schwedischen Sonderweg in der Corona-Krise, aber ganz so kopflos, wie es vielfach kommentiert wird, ist das Agieren der Regierung nicht.

Maxime: Virus bremsen, aber gleichzeitig die Freiheit der Bevölkerung sichern

Als die ersten Infektionsfälle auch hier im Norden registriert wurden, hat man sich zunächst angesehen, wer diese Leute waren. Die meisten hatten sich bei den Skiferien in Italien und Österreich Ende Februar mit dem Virus infiziert. Die Betroffenen waren also jüngere Menschen, die nicht aus den sogenannten Risikogruppen stammen.

Zudem hat die Regierung sehr wohl reagiert. Um einen Ansturm auf die Krankenhäuser zu verhindern, hat sie die Bevölkerung aufgerufen, sich die Hände zu waschen, bei Krankheitssymptomen konsequent zu Hause zu bleiben und auf unnötige Reisen zu verzichten. Universitäten haben auf Distanzunterricht umgestellt, ebenso die Schulen ab Jahrgangsstufe 9.

Inzwischen sind auch Besuche in Pflegeheimen verboten, die Skigebiete geschlossen und Personen aus den Risikogruppen aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Die Regierung appelliert an die Eigenverantwortung jedes einzelnen, mit seinem Verhalten die Gemeinschaft zu schützen. Es gilt ebenso die Freiheit der Schweden zu sichern wie das Virus zu bremsen.

So ganz überzeugt klingt der Staatsepidemiologe nicht mehr

Der Staatsepidemiologe Anders Tegnell ist der Stratege hinter diesen Entscheidungen. Er argumentierte etwa, dass die Fallzahlen wenig stiegen und die Behandlung der Intensivpatienten von den Krankenhäusern zu schaffen sei. Die Maßnahmen im Land zeigten Wirkung - im Gegensatz zu den Ländern, die es schwerer getroffen hätte. So ganz überzeugt klingt er in den täglichen Pressekonferenzen inzwischen auch nicht mehr. Laut Johns-Hopkins-Universität sind, Stand Mittwochabend (8.4.), mehr als 8.400 Schweden an Covid-19 erkrankt und 687 Menschen gestorben.

Dennoch: Die Kitas sind offen, die meisten Grundschulen ebenso, man darf im Restaurant essen und zum Friseur gehen. Aber de facto ist Stockholm aktuell so leer wie sonst nur im Juli, wenn das ganze Land Sommerferien macht und öffentliches Leben nur noch auf ganz kleiner Flamme kocht. Denn der Ministerpräsident Stefan Löven hatte in einer seiner seltenen Fernsehansprachen die Schweden gebeten, im Home-Office zu arbeiten, wenn es ihnen möglich ist – was von den Schweden weniger als Bitte, sondern vielmehr als eine Art Befehl aufgefasst wurde.

Die schwedische Konsensgesellschaft ist für Außenstehende schwer zu durchschauen

In diesem Land geht es immer darum, Konflikte zu vermeiden und Kompromisse zu finden. Deswegen dauert manches ewig, weil keine klaren Aussagen getroffen werden. Diese Konsensgesellschaft ist für Menschen aus anderen Ländern recht schwer zu durchschauen. Wir Deutschen etwa werden zwar als Arbeitsnehmer geschätzt wegen unseres Pflichtbewusstseins, werden aber schief angeguckt für unsere Direktheit.

Die Schweden können schlecht nein sagen und lavieren beim Antworten mitunter herum – Missverständnisse mit ausländischen Kollegen sind da programmiert. Es soll sogar schon Seminare geben, in denen Schweden das Nein-Sagen beigebracht wird. Das alles muss man wissen, um zu verstehen, dass der schwedische Sonderweg gar nicht so sonderlich ist.

Ein TV-Korrespondent wird zur Berühmheit - weil er kritische Nachfragen stellt

Die Schweden halten sich an die Anweisungen ihrer Regierung und vertrauen zumeist darauf, dass es schon stimmt, was die Politiker sich überlegt haben. Eigenverantwortlich zu handeln im Sinne der Gesellschaft ist das oberste Gebot.

Dass im Hinblick auf die restriktiven Maßnahmen der Nachbarländer und die steigenden Todeszahlen auch einige Zweifel über diesen Kurs aufkommen, wird besonders an der Situation des deutschen ARD-Fernsehkorrespondenten Christian Stichler deutlich. Er, der eigentlich nur seinen Job macht, hat es zu einiger Berühmtheit in Schweden gebracht, weil er bei den Pressekonferenzen mit dem mächtigen Staatsepidemiologen Tegnell immer wieder gefragt hat, warum Schweden bei seiner lockeren Strategie im Umgang bleibe und wie sich das Virus verbreite.

Als Folge berichteten schwedische Zeitungen über diesen mysteriösen Deutschen, der den Epidemiologen unter Druck setzt. Auch schwedische Radiosender interviewten Stichler dazu und zeigen damit, dass es sehr wohl Zweifel an dem Kurs der Regierung gibt. Inzwischen sprechen den deutschen Journalisten sogar Leute an, um mit ihm gemeinsam den Kurs der Regierung zu ändern, wie er auf der Facebook-Seite der "Tagesschau" berichtete.

Die jetzige Strategie ließe sich locker einige Monate durchhalten

Zu einer Änderung der schwedischen Strategie wird es womöglich ohnehin kommen, wenn die Todeszahlen weiter steigen und die Intensivbetten des Landes belegt sind. Die demokratische Legitimation dafür hat sich die Regierung gerade geholt und vom Parlament weitreichende Befugnisse bekommen, etwa Ausgangssperren oder die Schließung von Geschäften verhängen zu können. Außerdem will die Regierung Krankenhaus-Ausrüstung zwischen den Regionen umverteilen dürfen. Der Ministerpräsident rechnet mit vielen Toten - und er rechnet auch damit, dass die Pandemie sein Land noch Monate beschäftigen wird, wie er in einem Interview mit der schwedischen Zeitung "Dagens Nyheter" vom Sonntag sagte.

Die Einschränkungen im Alltag werden also nicht nach Ostern aufhören. Auch das ist ein Argument der schwedischen Führung, nicht auf einen kompletten Lockdown zu setzen. Die jetzige Strategie ließe sich eben locker einige Monate durchhalten. Der Appell des Ministerpräsidenten zum Arbeiten im Home-Office etwa gilt bis zum Ende des Jahres 2020.

Bislang ist in Schweden ein verhältnismäßig entspanntes Leben möglich

So verbreitet sich das Virus in Schweden zwar etwas langsamer als ganz ohne Einschränkungen, aber es wird irgendwann 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung erreicht haben, ehe es nicht mehr weiterspringen kann. Das viel gescholtene Kalkül einer Herdenimmunität ist auch ein Argument, das in die schwedische Strategie einfließt und den Menschen hier bislang ein verhältnismäßig entspanntes Leben ermöglicht.

Die Schweden sitzen in den ersten richtig warmen Sonnenstrahlen des Frühlings im Café oder auf Parkbänken. Die Busse sind am Morgen und Nachmittag voll mit Schülern, die weiterhin zur Schule fahren, wobei jetzt auch erstmal Osterferien sind. Im Supermarkt gibt es Markierungen für den Sicherheitsabstand, und das Kassenpersonal sitzt jetzt häufig hinter Plexiglas, gezahlt wird ohnehin alles kontaktlos mit Karte oder Handy. Menschen mit Mundschutz sieht man ganz selten.

Sollte man dankbar sein - oder die Schweden für wahnsinnig halten?

Wir als deutsche Familien in Stockholm sind hin- und hergerissen: Sollten wir nun den Schweden danken oder sie für wahnsinnig halten? Freunde aus Berlin erzählen, wie ihnen bange werde bei der Obrigkeitshörigkeit einiger Menschen. Sie berichten, wie die Polizei Leute von Parkbänken hochjage, und haben Angst, einen Ausflug mit dem Auto nach Brandenburg zu machen, weil das zwar nicht so richtig verboten sei, aber die Einheimischen rumpöbeln könnten - die Kennzeichen verrieten einen ja.

Da sitzen wir hier in Schweden tatsächlich vergleichsweise gelassen in unserem Home-Office, sind froh so arbeiten zu dürfen, weil viele bei ihrem Job nicht diese Möglichkeit haben. Wir freuen uns, dass das Fußballtraining bei den Jungs weiterläuft, Geburtstage gefeiert werden (selbstverständlich draußen) und sich die Kinder mit Freunden zum Spielen verabreden können.

Unsere persönliche Rechnung ist der der schwedischen Regierung womöglich ähnlich. Das Virus geht seinen Weg und wird uns hoffentlich auslassen. Mit Risikogruppen haben wir keinen Kontakt, die Eltern sitzen ja isoliert in Deutschland, sodass wir nicht gefährlich werden. Das alles dauert noch Monate, bis eine Impfung da ist oder ein flächendeckender Antikörpertest.

Wenn Schweden also bei seiner etwas anderen Handhabe bleibt, könnte man die Pandemie hier einigermaßen gelassen überstehen - wenn auch leider ohne Familie und Freunde aus Deutschland.

Beitrag von Anke Fink

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Antwort auf [Anna] vom 11.04.2020 um 13:33
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