Interview | Psychologe zur Isolationssituation - "Jetzt ist nicht die Zeit für rigide Erziehung"

Mi 06.05.20 | 07:26 Uhr
Ein Kind mit Mundschutz schaut aus dem Fenster seines Hauses. (Quelle: dpa/Óscar J.Barroso)
Audio: rbb|24 | 05.05.2020 | O-Ton Psychologe Thilo Hartmann | Bild: dpa/Barroso

Viele Kinder leiden unter der coronabedingten Isoloationssituation. Sie werden aggressiv, ziehen sich zurück oder reagieren mit Kopf- oder Bauchschmerzen. Was da los ist, was ihnen hilft und was für sie besonders wichtig ist, sagt ein Kinderpsychologe im Interview.

rbb|24: Herr Hartmann, nicht alle Kinder kommen mit der coronabedingten Isolation gerade gut klar. Viele belastet die Situation sehr. Wie reagieren Kinder, wenn sie überfordert sind?

Thilo Hartmann: Kinder zeigen dann im Prinzip eine Stressreaktion. Denn die Situation ist für sie ja nicht wirklich einschätzbar. Viele Rituale, Rhythmen und Regeln haben sich verändert. Genau wie der Tagesablauf selbst. So viele neue Faktoren im Leben eines Kindes können Stress erzeugen. Darauf reagieren Kinder ähnlich wie Erwachsene: mit psychologischen und mit Verhaltensveränderungen einerseits, aber auch mit körperlichen Symptomen.

Das gilt auch bei relativ jungen Kindern. Früher dachte man, Stress ginge erst im Jugendalter los. Aber man weiß auch bei Kita- und Grundschulkindern von diesen Symptomen. Also von Kopfweh, Bauchschmerzen, Schwindel Erschöpfung und Schlafschwierigkeiten. Auch im Verhalten kann dieser Stress eine ganz große Bandbreite aufweisen. Da gibt es Verhalten, das unerwünscht ist, wie Aggressivität. Da können Dinge zu Bruch gehen und es vermehrt Streitereien geben. Aber es kann auch ein Rückzug sein. Dass ein Kind besonders still wird.

Gerade kleinere Kinder können ihre Emotionen und ihre dahinterstehenden Bedürfnisse oft nicht verbalisieren. Sie agieren dann.

Gibt es Kinder, die es gerade besonders schwer haben? Einzelkinder? Kinder, die sowieso schon psychisch auffällig sind? Kinder aus sozial schwachen Familien?

Vor allem, wenn sich viele Faktoren zusammen ergeben, kann es zu Stress kommen. Stressgeschehen ist immer ein Aushandeln zwischen den stressenden und den unterstützenden Faktoren. Letztere bieten ja Ausgleich. Im Moment fallen ja sehr viele der ausgleichenden Faktoren, den Schutzfaktoren, weg. Aber das sind eben gute Systeme wie die Kinder- und Jugendhilfe, die Clubs, die Schulen, Kitas,  Vereine - die zusammengenommen den belasteten Familien geholfen haben, Stress aus dem System zu nehmen. So konnten sich die Eltern ein wenig zurückziehen, hatten Zeit, zu regenerieren. Das ist jetzt alles plötzlich weggefallen und alles spielt sich in der Familie ab. Wenn die Eltern dann nicht emotional stabil sind oder mit den vielen Heraus- und Anforderungen der Situation jetzt gerade schlecht umgehen können, dann fehlen die Schutzfaktoren und der Stress kumuliert.

Es gilt also für diese Corona-Krise nicht, dass kleinere Kinder kleinere Sorgen haben oder machen?

Das Weltverstehen kleinerer Kinder ist natürlich geringer. Sie verstehen viele Erklärungen kognitiv noch nicht. Aber oft haben sie eine sehr enge emotionale Verbindung mit ihren Bezugspersonen. Sie reagieren dann wie eine Art Symptomträger. Wenn das Familiensystem überlastet ist, die Eltern beispielsweise gestresst sind, dann sind es oft die Kinder, als schwächste Mitglieder des Systems, die mit Symptomen auftreten. Die also plötzlich aggressiv oder krank werden.

Inwiefern empfinden Kinder denn die aktuelle Situation anders als Erwachsene? Man sagt ja oft, Kinder leben im Hier und Jetzt – macht es ihnen das nicht leichter?

Dass kann durchaus sein. Wenn das Familiensystem viele Ressourcen hat und da Lockerheit und Leichtigkeit sind. Dann kann ein Kind diese Situation ganz normal verkraften und auch ohne Probleme durchlaufen. Wenn aber die Umwelt eines Kindes auf einem hohen Stresslevel ist, kann es problematischer werden. Wenn Eltern beispielsweise an ihrer Belastungsgrenze sind. Bei Kindern, die dann – was ja verständlich ist – viel Zeit im Internet verbringen dürfen und dort an Pandemie-Videos oder Zombie-Filme kommen, kann sich die aktuellen Situation dann in Richtung bedrohlich ändern.

Werden sich die meisten Kinder später an diese Zeit, vielleicht auch als traumatisierende Erfahrung, erinnern können?

Da sollte man nichts verallgemeinern. Für Kinder, die gerade gut und mit vielen Ressourcen durch diese Situation kommen, wird es vermutlich einfach nur eine Erinnerung sein an eine Zeit, wo die Leute im Fotoalbum die lustigen Masken aufhatten. Wenn die Situation zu Hause aber eskaliert, vielleicht auch noch häusliche Gewalt stattfindet, Kinder dem hohen Stresslevel über eine lange Zeit ausgesetzt sind und die kindlichen Bedürfnisse nicht mehr adäquat befriedigt werden, kann das natürlich zu einer Einschränkung in den Entwicklungsaufgaben führen. Kinder lernen ja in bestimmten Lebensphasen bestimmte Dinge. Sprechen, Lesen oder bestimmte andere Alltagskompetenzen. Dazu gehören auch Spielen und soziale Kontakte. Wenn da über eine längere Zeit Stressoren einwirken, kann sich die Entwicklung verzögern.

Gerade soziale Kontakte finden aber durch die Kontaktbeschränkungen gerade gar nicht statt. Also stagniert doch die Entwicklung vieler Kinder gerade?

Das Spielen mit Gleichaltrigen, das Entwickeln von sozialen Kompetenzen im Umgang mit anderen ist tatsächlich beispielsweise für ein Einzelkind zu Hause in Quarantäne schlecht zu erfüllen. Deshalb wäre es da schon sinnvoll, diese Einschränkungen so kurz wie möglich zu halten. Aber es gibt auch immer mal wieder Eltern, die lange Urlaube machen, oder es gibt Kinder, die auf einer Insel mit wenig Sozialkontakt großwerden – und die trotzdem keine Entwicklungsverzögerung haben und einen normalen, gesunden Charakter entwickeln.

Gibt es denn Studien darüber, was Isolation mit Kindern macht?

Es gibt Forschungen zu chronisch erkrankten Kindern. Da sind die Kinder eventuell für längere Zeit im Krankenhaus – getrennt von Schule und manchmal auch von der Familie. Das führt zu Belastungen. Aber man kann die Situation nicht so ganz vergleichen, weil so eine Erkrankung als "kritisches Lebensereignis" ja nicht von der Allgemeinheit geteilt wird, also nicht normativ ist. Da erlebt ein Kind etwas, was seine Altersgenossen nicht erleben. Es macht ganz andere Erfahrungen und kann darüber schlecht mit anderen sprechen. Die Corona-Krise teilen wir gemeinsam. Kinder können sich darüber unterhalten, sofern sie die Möglichkeit zu sozialem Austausch haben, und sie machen ähnliche Erfahrungen. Dadurch können sie sich verbunden fühlen.

Wie kann man offensichtlich gestressten Kindern jetzt helfen? Sollte gerade bei ihnen der Fokus jetzt wirklich auf der Schulleistung liegen?

In belasteten Familien ist es wichtig, den Druck rauszunehmen. Das ist ja eine experimentelle Situation. Jetzt ist nicht die Zeit, um Kinder rigide zu erziehen oder zu beschulen. Jetzt müssen die Familien schauen, dass sie möglichst stabil und gesund durch diese Zeit kommen.

Vielleicht sollte man in der Schule dann einfach nur das machen, was läuft und was angemessen scheint. Und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt, was die Kinder schaffen, sondern auch daran gemessen, was die Eltern schaffen. Wenn die Eltern zu viele andere Aufgaben haben, dann geht im Moment vielleicht einfach nicht mehr. Dann muss man die Anforderungen zurückschrauben und Ruhe reinbringen. Da kann es dann sein, dass die Schulnoten in diesem Jahr eben auch mal etwas absacken. Aber auch das ist ja ein geteiltes Phänomen. Bei vielen wird die Leistungskurve etwas einknicken.

Ich nehme aber wahr, dass viele Eltern einen sehr perfektionistischen Anspruch haben. Sie wollen alles richtig machen. Genau wie die Lehrer. Aber es gibt im Moment kein Richtig. Das überfordert auch die Erwachsenen.  Dabei ist es wichtig, jetzt den Gang rauszunehmen. Eltern sollten lieber zurückschalten und schauen, welches Bedürfnis hinter welchem problematischen oder unerwünschten Verhalten der Kinder steht. Vielleicht brauchen sie Rückzugsorte, die man schaffen kann. Sodass vielleicht auch auf engem Raum für ein Kind die Möglichkeit besteht, ohne Beobachtung zu spielen. Das gleiche gilt dann auch für die Eltern. Wenn man als Familienregel beispielsweise einführt, dass, wer auf einem bestimmten Stuhl sitzt, nicht gestört werden darf, kann man vielleicht auch wieder etwas raustreten. Vor Corona haben viele Kinder ja draußen gespielt, waren nachmittags unterwegs und waren somit auch zeitweise mal nicht unter Aufsicht.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Sabine Prieß, rbb|24

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Antwort auf [Bendte] vom 06.05.2020 um 13:45
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