Hörbehinderte Menschen in der Corona-Krise - "Die Situation Gehörloser lässt sich nicht auf Masken reduzieren"

So 10.05.20 | 10:48 Uhr
Eine Freiwillige in Spanien zeigt eine für taube Menschen angefertigte Schutzmaske (Bild: imago images/Ramon Costa)
Bild: imago images/Ramon Costa

Um Gehörlosen die Kommunikation zu erleichtern, fordern Verbände Masken mit transparentem Mittelteil. Doch aus der Berliner Community kommt Kritik: Das Problem sei konstruiert. Sie sehen andere Nachteile in der Corona-Krise. Von Jenny Barke

Anders als bei vielen anderen Interviews, die derzeit im Home-Office geführt werden, ist mit Jenny Igersky ein Gespräch über Telefon oder Videoschalte nicht möglich. Die 42-Jährige ist taub, wie bereits ihre Eltern und auch ihr Bruder. Da sie mit ihrer hochgradigen Schwerhörigkeit, aber auch mit "superscharfen Augen" aufgewachsen ist, störe sie ihre Behinderung nicht, schreibt sie in einer E-Mail. Im Gegenteil: Sie finde Begriffe wie "hörgeschädigt" diskriminierend und sei stolz darauf, taub zu sein.

Ihre Sprache von Klein auf ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS). DGS ist eine visuell-manuelle Sprache, setzt sich also zusammen aus den Hand- und Fingerbewegungen sowie dem sogenannten Mundbild. Dieses ist gemeinhin bekannt als Lippenlesen, doch der Begriff wird von tauben Menschen als abschätzig empfunden. Obwohl Jenny Igersky taub ist, wurde sie als Kind zu oraler Schulerziehung gezwungen, wie sie schreibt. "DGS war verpönt und ist es noch".

30 Prozent des Gesprochenen nehmen Gehörlose über Mundbild wahr

Weil im Alltag ihr Gegenüber nur selten die DGS verwendet, sind viele taube Menschen wie Igersky darauf angewiesen, genau auf die Sprechbewegungen im Gesicht zu achten. Mit der aktuell bundesweit geltende Maskenpflicht fällt dieses weitere Hilfsmittel weg. "Für gehörlose Menschen bedeutet das eine extreme Einschränkung in ihrer Kommunikation", sagte die Sprecherin der Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen in Berlin (GFGB), Angelika Bauer, als die Maskenpflicht Ende April eingeführt wurde.

Brauer empfiehlt deshalb, für taube und hörbehinderte Menschen verstärkt Masken anzubieten, die ein transparentes Mittelteil haben. Solch ein Sichtfenster ermögliche es wieder, das Mundbild zu sehen und damit etwa 30 Prozent des Gesprochenen visuell wahrzunehmen. In der Theorie befürwortet auch die taube Igersky diese Idee: "Ein transparentes Sichfenster an der Maske wäre ein großer Vorteil."

Kritik Gehörlosen-Bund: Durch Atemluft würde Sichtfenster beschlagen

Allerdings gibt es diese Art des Mundschutzes nicht, derzeit werden deutschlandweit keine Masken mit transparentem Mittelteil industriell hergestellt. Allein in Berlin bräuchten nach Schätzungen des GFGB etwa 4.000 Gehörlose diese besonderen Masken. Da nur Menschen in die Statistik fallen, die Gehörlosengeld beziehen, liegt laut Brauer die Dunkelziffer gehörloser Menschen in der Hauptstadt deutlich höher.

Auch aus anderen Gründen befürworten nicht viele in der Gebärdensprach-Community den Vorschlag. Der Deutsche Gehörlosen-Bund (DGB) kann nach eigener Aussage in Masken mit Sichtfenstern keinen Vorteil erkennen. In der Praxis hätten sie den Nachteil, dass die Fenster durch die Atemluft schneller beschlügen. "Dann ist der Mund ohnehin schlecht zu sehen", sagt ein DGB-Sprecher. 

Auch hörendes Gegenüber bräuchte Sichtfenster in der Maske

Auch von tauben und hörbehinderten Menschen aus Berlin kommt Kritik. Der Vorschlag sei nett gemeint, aber in der Umsetzung nicht durchdacht, sagtt Benedikt Sequeira Gerardo. Der Gehörlose betreibt den Blog "Taubenschlag", schreibt selbst über seine Erfahrungen im Berliner Alltag als tauber Mensch. "Eine Maske mit transparentem Sichtfenster muss auch von hörenden Menschen benutzt werden. Es hilft nicht, wenn nur Gehörlose sie tragen", sagt Sequiera Gerardo.

Auch für Lela Finkbeiner ist das ein typischer Denkfehler. Die Berlinerin ist Aktivistin für hörbehinderte Menschen und kämpft dafür, dass Menschen mit beeinträchtigtem Hörvermögen besser mitgedacht werden. Auf Sequeira Gerardos Blog schreibt sie in einem Artikel: "Kommunikation ist eine beidseitige Angelegenheit. Gibt es eine Sprachbarriere, wird das 'Problem' auch zu einem 'Problem' für privilegierte Menschen." Kommunikation beruhe auf einem Dialog und sei keine Einbahnstraße, sagt Finkbeiner. Deshalb bringe es auch nichts, Gehörlose mit Sonderregelungen von der Maskenpflicht zu befreien, wenn das hörende Gegenüber immer noch eine Maske trägt.

Auch die taube Dolmetscherin und Youtuberin Corinna Brenner macht in einem Video darauf aufmerksam, dass oft eher die Frage im Mittelpunkt stehe, wie Gehörlose ihre Kommunikation verbessern: 

Gebärdensprache-Community wird oft bei Krisenkommunikation vergessen

In weiteren Punkten sind sich die vier einig: Erstens sei die Maskenpflicht richtig und wichtig, um die Ansteckung und Verbreitung mit dem Coronavirus zu vermeiden. Zweitens zeige sich in der Krise ein strukturelles Problem: Viel zu oft würden Gehörlose nicht mitgedacht und über ihren Kopf hinweg entschieden. Das zeige sich nicht nur an der Idee der transparenten Masken, die eigentlich alle tragen müssten, damit das Konzept aufgeht.

"Das Problem tauber Menschen lässt sich nicht auf das Maskenproblem reduzieren", sagt Finkbeiner. Es würden sich viele Benachteiligungen hörbehinderter Menschen während der Krise verschärfen. Die Aktivistin verweist auf medizinische Studien, die zeigen, dass Gehörlose eine höhere Rate an Fehldiagnosen, Über- oder Untermedikation und vorzeitigen Todesfällen hätten.

Kaum barrierefreie Corona-Informationen

Denn oft fehlt die gemeinsame Sprache, das zeige sich auch in der Krisenkommunikation der Bundesregierung, den Landesregierungen sowie vieler Medien, kritisieren die Dolmetscherin Brenner und die Aktivistin Finkbeiner. Zu Beginn der Corona-Krise hätten Gehörlose kaum Zugang zu Informationen bekommen. Denn was viele nicht wissen: Tauben Menschen reicht die Schriftsprache oft nicht aus, weil Lesen über die Lautsprache gelernt wird, was vielen Gehörlosen nie möglich war. Doch oft fehlen auf Behördenseiten Informationen auf DGS und auch bei vielen Corona-Pressekonferenzen der Länder hat es anfangs keine Untertitelungen gegeben und Gebärdendolmetscher wurden erst später eingesetzt. 

Lange Zeit war es so für die Gebärdensprache-Community schwer bis unmöglich, sich selbstständig über das Coronavirus zu informieren. Viele hörbehinderte Menschen seien mit ihren Sorgen allein gelassen worden. "Zugang zu Beratung, medizinischer Versorgung gerade in Notfallsituationen werden uns politisch massiv erschwert bis verweigert", so Finkbeiner. So könnten sich taube Menschen auch bei auftretenden Corona-Symptomen kaum mitteilen und würden bei der medizinischen Versorgung benachteiligt. 

Igersky fordert deshalb, dass auch 24-Stunden-Hotlines für Telefonseelsorge, Krisendienst und Polizei eingerichtet werden - eine Forderung, die Gehörlose schon vor der Corona-Krise ohne Erfolg gestellt haben.

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Antwort auf [Anne] vom 11.05.2020 um 00:09
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