Regelung für Corona-Fallzahlen - Greift die Notbremse früh genug?

Fr 08.05.20 | 09:40 Uhr
teaserbild-deutschland-notbremse (Quelle: rbb|24)
Audio: Inforradio | 08.05.2020 | O-Ton Dilek Kalayci | Bild: rbb|24

Nur eine wichtige Einschränkung gibt es im Lockerungenkatalog. Wenn sich binnen sieben Tagen mehr als 50 von 100.000 Einwohnern infizieren, soll es einen lokalen Lockdown geben. Doch es gibt Zweifel an der Wirkung der Regelung. Von Arne Schlüter und Haluka Maier-Borst

Wochen der Kontaktsperre zehren an den Nerven. Ein guter Teil der Arbeitenden ist in Kurzarbeit. Und Kinder sind durch den weitgehenden Wegfall von Kindergarten, Kita und Schulen massiv getroffen. Es ist nachzuvollziehen, wieso nun weitreichende Lockerungen beschlossen wurden. Doch wie merkt man, dass es zu viel der Lockerungen waren? Und wann?

Bund und Länder haben sich dafür auf eine Art Notbremse auf Landkreisebene geeinigt. Sollten sich binnen sieben Tagen pro 100.000 Einwohner mehr als 50 Menschen neu infizieren, dann soll es einen lokalen Lockdown geben.

rbb|24 hat nun analysiert, wie viele Landkreise in Deutschland in den vergangenen Wochen überhaupt gemäß dieser Regel je in einen Lockdown gemusst hätten. Die Antwort ist basierend auf Daten des Robert-Koch-Instituts: nur rund die Hälfte.

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Hätte die neue Definition schon seit Anfang der Pandemie gegolten, wäre zum Beispiel Berlin, solange man es als einen Landkreis betrachtet, kein einziges Mal im Lockdown gewesen. Auch weite Teile Brandenburgs wären nie zu massiven Einschränkungen gezwungen gewesen. Die Corona-Krise wäre nach dieser Definition weitestgehend ein rein süddeutsches und nordrhein-westfälisches Problem gewesen.

Wissenschaftler haben derweil  Zweifel daran, ob die 50 wöchentlichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern ein gut gewählter Richtwert sind. So sagte in einem Briefing des Science Media Centers [sciencemediacenter.de] der Epidemiologe Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, dass er persönlich den Wert doch als "etwas hoch" empfände. Sinn können eine so hohe Grenze eigentlich nur machen, wenn man damit vermeiden wolle, dass Ausbrüche in Einrichtungen wie Altenheimen gleich zu einem Shutdown für die ganze Regionen führen.

Ein solches Beispiel für einen so sehr örtlich eng umrissenen Ausbruch ist zum Beispiel jener Ausbruch im Bergmann-Klinikum in Potsdam. Der war allerdings so groß, dass er auch für ganz Potsdam zu einem Lockdown geführt hätte.

Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik sprach ebenfalls davon, dass der 50er-Wert jenseits dessen ist, was die Ämter noch bewältigen könnten. Man müsse eigentlich davon ausgehen, dass jedes Gesundheitsamt nur etwa eine neue Infektion pro Tag behandeln könne. Es sei schlicht ein immenser Aufwand, alle Kontakte einer infizierten Person nachzuverfolgen. Priesemann plädiert daher sogar für ein Ziel von null Neuinfektionen, das bei einem weiteren Durchhalten des Lockdowns durchaus schon Mitte bis Ende Mai zu erreichen gewesen wäre.

In der aktuellen Woche sind derweil nicht mal ein Dutzend Landkreise über dem neuen Grenzwert. Trotzdem werden aber jeden Tag in jedem Bundesland neue Fälle gemeldet und nur Mecklenburg-Vorpommern hatte gestern einen einstelligen Zuwachs der Fallzahlen für den Tag.

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Offen bleibt auch die Frage, inwiefern lokale Lockdowns und regionale Maßnahmen effektiv sein können. So kritisierten in den letzten Tagen bereits Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke [sueddeutsche.de] und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller den Wettstreit der Bundesländer bei den Lockerungen. Und auch die Wissenschaftler befürchten, dass allein lokale Maßnahmen wenig bringen könnten.

Priesemann sprach während des Briefings davon, dass Regionen, die sich rigorosere Regelungen auferlegen würden, mitunter durch Nachbarregionen mit laxeren Regeln in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Die laxeren Gebiete würden dann nämlich immer wieder Fälle in die strenger handelnde Region einschleppen. Schon zum Beginn der Krise wiesen Experten darauf hin, dass ein vollständiges Abriegeln von Gebieten gar nicht möglich wäre.

Der Berliner Senat zweifelt wohl unter anderem auch deshalb an der Sinnhaftigkeit der Notbremse. Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte gegenüber der Deutschen Presse Agentur, dass man bei einem weit kleineren Anstieg der Fallzahlen schon gegensteuern würde: "Wir müssen früher eingreifen, wir können nicht so lange warten." Auch Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) kritisierte den Wert für eine Großsstadt als zu hoch und sprach davon, dass man mit einer zweiten Welle rechne.

Sendung: Inforadio, 08.05.2020, 7 Uhr

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