Trend bei den Corona-Infektionen - Sind wir noch in der ersten Welle – oder schon in der vierten?

Mo 21.09.20 | 16:59 Uhr
Noch erste Welle oder vierte Phase?
Bild: rbb|24

Seit dem Sommer steigt die Zahl der wöchentlichen Neuinfektionen. Von welcher Phase der Epidemie man aber spricht, hängt nicht nur von der Region ab – sondern auch wie nervös man auf die Entwicklung schaut. Von Arne Schlüter und Haluka Maier-Borst

In Biergärten und Parks, während Fahrradtouren und Zoom-Calls ist es seit dem Sommer eines der Themen: die nächste Welle. Wie unverantwortlich sei dieses oder jenes Verhalten, sagen die einen. Man sei schließlich schon mitten in der nächsten Welle. Alles halb so schlimm, die Krankenhäuser seien doch nie überlastet gewesen, sagen die anderen. Aber was ist nun richtig?

Vor dem Hintergrund des neuen Anstiegs der Fallzahlen in Berlin bekommt die Debatte um die nächste Welle wieder Auftrieb. Tatsächlich gibt es aber keine genaue Definition darüber, was eine "Welle" nun genau ausmacht. rbb|24 spricht darum in Rücksprache mit Epidemiologen von verschiedenen "Phasen". Außerdem haben wir in Zusammenarbeit mit den Experten versucht zu definieren, was solche Phasen ansteigender (in den Grafiken orange gekennzeichnet) und absteigender Neuinfektionszahlen (blau gekennzeichnet) ausmachen könnte.

Dabei zeigt sich: Deutschland ist definitiv in der zweiten Phase der Epidemie oder gar in der dritten – je nachdem, wie kurz eine solche Phase im Minimum sein darf.

Noch extremer ist der Unterschied, wenn man auf die Region schaut. Je nach Definition ist Brandenburg bereits im Abschwung der vierten Phase – oder noch im Abschwung der ersten Phase. Das hat auch damit zu tun, dass ingesamt die Fallzahlen hier relativ niedrig blieben.

Berlin dagegen ist ein Beispiel, bei dem das Verändern der Mindestdauer für eine Phase wenig Auswirkungen hat. So oder so kann man davon sprechen, dass die Hauptstadt nicht erst in der zweiten, sondern mindestens in der dritten Phasen der Epidemie ist. Oder vielleicht schon in der vierten.

Wie genau funktionier die Definition der Phasen von Auf- und Abschwung? Angelehnt haben wir uns dabei an unsere täglich aktualisierten Fallzahlen, indem wir auf den Wochentrend schauen. Sprich wir nehmen die Gesamtzahl bzw. den Schnitt der letzten 7 Tage, um zu vermeiden, dass einzelne Tagesausreißer unsere Analyse verzerren. Außerdem ist es so, dass am Wochenende stets weniger Fälle gemeldet werden, weil gewisse Gesundheitsämter an diesen Tagen keine entdeckten Infektionen übermitteln.

Es gibt aber noch einen anderen Fallstrick: Die Frage, ob auch ein einzelner hoher oder niedriger Wochentrend ein Ausreisser ist – oder eben wirklich eine Trendwende. Wie so oft ist man dabei im nachhinein schlauer – ganz ähnlich wie bei Börsenkursen. Um genau diesem Umstand Rechnung zu tragen, haben wir uns entschieden Ihnen als User/in die Wahl offen zu lassen. Sie können entscheiden, ob ein Trend ein, zwei, drei oder gar vier Wochen anhalten muss, bis man ihn als solches bezeichnet.

Eingefärbt wird dann jeder Balken entsprechend dem Trend, der sich in den folgenden Wochen abzeichnet. Sprich wenn der Balken am 01.09. orange ist, dann war der Wochentrend mindestens für fünf der sieben Tage im Zeitraum 01.09. bis 07.09. steigend. Wenn Sie ausgewählt haben, dass ein Trend mindestens zwei Wochen andauern muss, dann müssten vom 01.09. bis 14.09. die Fallzahlen an 10 der 14 Tage steigend gewesen sein, damit der Balken am 01.09. selbst orange ist.

Das ist auch der Grund, wieso die Balken am Ende jeder Grafik ausgegraut sind. Hier ist schlicht noch unklar, in welche Richtung der Trend geht.

Berlin mit den größten Fluktuationen im Geschehen

Will man die Bundesländer miteinander vergleichen, bietet es sich zudem an, nicht nur nach absoluten Neuinfektionen zu gehen wie oben, sondern die Inzidenz, also die Neuinfektionen pro 1 Million Einwohner sich anzuschauen. Hierbei zeigt sich, dass von den Top-8-Bundesländern mit der höchsten Inzidenz Berlin ebenfalls das einzige ist, dass zweifellos seine dritte Phase durchmacht. Bei Bayern und Baden-Württemberg hingegen ist dies wieder eine Frage der Perspektive.

Spannend ist es aber insbesondere, die untere Hälfte der Bundesländer zu betrachten. Hier zeigt sich, dass zwei Bundesländer besonders glimpflich davon gekommen sind: Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. In beiden Fällen dauerte der Anstieg der Neuinfektionen nur kurz an. So kurz dass bei einer Trenddauer von 4 Wochen die Kurven sich fast komplett blau verfärben. Es gibt nur einen kurzen Anstieg und seitdem eine lange blaue Phase. Das erklärt vielleicht auch, wieso einerseits Sachsen-Anhalt mit am schnellsten Lockerungen durchführte [mdr.de]. Und andererseits wieso Mecklenburg-Vorpommern durch das Verbot von Tagesausflügen versuchte zu verhindern [ndr.de], dass zu viele Fälle aus der Umgebung eingetragen werden.

Wie aber bewerten Epidemiologen die Lage insgesamt? Frank Schlosser von der Humboldt-Universität sagt: "Wir sind definitiv in Deutschland in einer zweiten Phase der Epidemie". Aber man müsse eben beachten, dass sie anders verlaufe als die erste. Und da gäbe es, vorsichtig gesagt, positiv stimmende Unterschiede.

Zum einen hat man eine deutlich geringere Quote an Positivtests als im März und April – was darauf deutet, dass man die meisten Infizierten findet und die Dunkelziffer an Infektionen geringer ist.

Zum anderen infizieren sich derzeit vor allem die Jungen, die in der Regel besser mit dem Virus klar kommen. Trotzdem gibt Schlosser zu Bedenken, dass nach wie vor viel Unsicherheit herrsche. "An Frankreich kann man sehen, wie schnell die Lage sich zuspitzen kann", sagt er. Mehrere andere Epidemiologen hatten auch darauf verwiesen, dass sich in der Regel die Ansteckungen nicht beliebig lang nur in einer Altersgruppe halten lassen.

Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, deren Forschungsgruppe selbst täglich neu ihre Modelle rechnet, sagt, dass ein reines Schauen auf die Zahlen außerdem nicht reiche.

Zweite Epidemie-Phase fällt deutlich milder aus

"Viel wichtiger wäre zu wissen, wieviele der Infektionen 'erwartet' waren, also innerhalb der bekannten Ketten, und wieviele 'spontan' gefunden wurden, also ohne dass klar ist, wo man/frau sich angesteckt hat", sagt sie. Allerdings seien die Daten dazu zumindest auf nationaler Ebene nicht vollständig.

So oder so scheint für den Moment die Chance gegeben, dass trotz des aktuellen Anstiegs die zweite Phase der Epidemie deutlicher milder ausfällt als die erste. Doch solange noch kein Impfstoff und kein Medikament gegen Corona zugelassen ist, liegt es vor allem an einem Faktor: am Verhalten der Menschen.

Datenquelle: Da das Robert-Koch-Institut keine alten Datenstände speichert, haben wir uns bei einem Archiv von Dr. Jan-Phililpp Gehrcke bedient. Diese Daten starten allerdings erst mit dem 17.3.2020, so dass die frühe Phase der Epidemie fehlt. Der abgebildete Datenstand für alle Grafiken ist 19. September 2020, 12 Uhr.

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