Infektionsgeschehen in Berlin - Grüner R-Wert trotz steigender Fallzahlen – wieso die Corona-Ampel so verwirrt

Mi 14.10.20 | 15:58 Uhr | Von Haluka Maier-Borst
R-Wert Verlauf schwankt
Bild: rbb|24

Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen springt von Höchstwert zu Höchstwert, die Berliner Ampel für den R-Wert trotzdem immer wieder auf grün. Wie kann das sein? Ein Erklärungsversuch und eine Kritik von Haluka Maier-Borst

Kommunikation sei in der Krise wichtig. Die Leute mitnehmen und Entscheidungen nachvollziehbar machen, sei entscheidend in der Corona-Pandemie, sagten Experten kürzlich rbb|24.

Doch gerade scheint es manchmal, als würde genau das auf der Strecke bleiben, wenn der Berliner Senat über das Infektionsgeschehen spricht. Ein besonders heikles Thema dabei: die Berliner Ampel und insbesondere der in ihr enthaltene R-Wert.

Während der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) noch vor zwei Wochen davon sprach, dass andere Länder sich ein Beispiel an Berlins Ampel-System nehmen würden [berlin.de], sehen Berlinerinnen und Berliner wohl wenig Beispielhaftes. "Zahlen steigen und Ampel ist wieder grün - hat gelb gleich übersprungen. Ich versteh's nicht", schreibt ein User bei uns auf der Seite. Andere sagen gleich, dass sie glauben, der R-Wert sei gewürfelt.

Eins vorab: der R-Wert wird natürlich nicht gewürfelt, sondern ist das Ergebnis einer Rechnung. Ganz vereinfacht gesagt, nimmt man dafür die Zahl der Infizierten der letzten vier Tage und teilt sie durch die Zahl der Infizierten der vier Tage zuvor. Wenn sich also zwölf Leute in den letzten vier Tagen angesteckt haben und in den vier Tagen zuvor zehn, dann würde der R-Wert bei 1,2 liegen.

Liegt der R-Wert über eins, steigt die Zahl der Neuinfektionen und die Lage gerät je nach Größe von R mal schneller mal langsamer außer Kontrolle. Liegt der Wert unterhalb von eins, sinkt die Zahl der Neuinfektionen und die Lage beruhigt sich.

Allerdings ist die tatsächliche Rechnung, die das Robert-Koch-Institut (RKI) für alle Bundesländer und Gesamtdeutschland macht, komplizierter (weiter unten erklären wir die Details). Doch was sich abzeichnet: Der Berliner Senat benutzt diese Berechnung eher unglücklich.

1. Problem: Die Berliner R-Ampel berücksichtigt die Unsicherheiten nicht

Die Stärken des RKI-Verfahrens für die R-Wert-Berechnung sind, dass die Rechnung auf dem Erkrankungsdatum von Fällen basiert und darum genauer ist als eine Berechnung auf reinen Meldedaten. Außerdem kann das RKI den R-Wert näher am aktuellen Geschehen berechnen, weil es das sogenannte Nowcasting-Verfahren nutzt. Das sagt vorher, wie viele Infektionen den Ämtern noch nicht bekannt sind, aber wohl schon stattgefunden haben.

Diese Methode braucht allerdings viele Daten, damit das Modell funktionieren kann. Und es bleiben, eben weil Simulationen und Vorhersagen eine Rolle spielen, Unsicherheiten. Beides sind Schwächen, die der Senat nicht wirklich in seiner Corona-Ampel mitbeachtet.

Zwar sind nämlich die Fallzahlen in der Hauptstadt aktuell auf einem Rekordhoch. Trotzdem sind sie absolut gesehen klein, sobald man sie nach Altersklassen und nach Geschlecht aufteilt. Die Folge: Wird mal eine Person in einer Altersgruppe früher oder später gemeldet, verschiebt das die ganze Rechnung erheblich. Diese Methode der R-Berechnung ist also bei kleinen Fallzahlen sehr instabil.

Entsprechend wäre es wichtig, das Unsicherheitsintervall zu beachten, dass das RKI bei seinen Rechnungen stets angibt. Immerhin kommuniziert der Senat inzwischen dieses Unsicherheitsintervall, weswegen rbb|24 seine eigene Corona-Ampel nicht länger weiterführt. Für die Ampelfarbe spielen die Unsicherheitsintervalle trotzdem keine Rolle. Wenn der Mittelwert einmal unter 1,1 fällt, ist schlagartig die Ampel für den R-Wert wieder grün – ganz egal, wie unsicher die Berechnung für den entsprechenden Tag ist.

2. Problem: Das Berliner R schwankt abhängig vom Wochentag

Ein weiteres Problem sind zudem die Wochentagsschwankungen. Denn auch in Berlin ist es so, dass am Wochenende weniger Fälle gemeldet werden. Entsprechend schwankt das 4-Tage-R ebenfalls im Wochenrhythmus.

Das RKI hat darum schon seit Monaten ein 7-Tage-R eingeführt, das diese Schwankungen abfangen soll. Statt die Fälle der letzten vier Tage gegen die vier Tage zuvor zu rechnen, werden dafür die Fälle der letzten sieben Tage verglichen mit den Fällen, die im Zeitraum von vor elf bis vor vier Tagen zustande kamen.

Der Berliner Senat weist in seinem Lagebericht auch dieses 7-Tage-R aus. Relevant ist es aber für die Ampel nicht. Und so schwankt das R meist am Anfang der Woche nach unten und am Ende der Woche wieder aufwärts – und mit ihm springt die Ampelfarbe entsprechend erst auf Grün und dann wieder auf Rot.

3. Problem: Die Berechnung kommt zeitverzögert

Außerdem gibt es da noch ein Problem, das kaum mit Statistiken zu tun hat, sondern nur mit dem Melderhythmus der Ämter. Der Berliner Senat veröffentlicht seine Zahlen stets am Nachmittag. Das RKI dagegen nutzt Zahlen, die bei ihm bis zum Vorabend eingegangen sind. So kommt es, dass zum Beispiel zeitweilig am 13. Oktober am Nachmittag der Senat schon den Rekord von über 700 neuen Fällen meldete, das RKI aber nur über 200 Neuinfektionen für Berlin. Da das R aber laut Senat vom RKI berechnet wird, basiert es entsprechend wohl auch auf Daten, die einen Tag zurückliegen. Auch das erklärt, wieso mitunter an einem Tag Höchststände vermeldet werden können und der R-Wert davon unbeeindruckt scheint.

Was wäre eine Lösung?

Schon länger raten Epidemiologen dazu, sich den R-Wert nicht nur für einzelne Tage anzuschauen, sondern eben über längere Zeiträume. Die logische Konsequenz wäre wohl entsprechend die R-Wert-Ampel des Senats anzupassen. Statt auf den 4-Tage-R-Wert sollte man auf den 7-Tage-R-Wert schauen, der weniger Wochentagsschwankungen zeigt.

Und statt darauf zu gucken, ob nun der Mittelwert eine gewisse Schwelle reisst, sollte man schauen, was die obere und untere Schätzung machen – und zwar über mehrere Tage. Das wäre sicherlich ein wenig komplizierter. Es könnte aber vielleicht dabei helfen, weniger Alarmismus zu verbreiten und auch die Unsicherheiten den Berlinerinnen und Berlinern besser aufzuzeigen.

Crashkurs R-Berechnung

  • Wie das 4-Tage-R grundsätzlich funktioniert

  • Warum das RKI mit dem Erkrankungsdatum rechnet

  • Wie das RKI versucht, noch nicht gemeldete Fälle vorherzusagen

  • Weshalb die Konfidenzintervalle so wichtig sind

Was Sie jetzt wissen müssen

Beitrag von Haluka Maier-Borst

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Antwort auf [Intensivbetten] vom 14.10.2020 um 17:58
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