Effiziente Maßnahmen gegen Corona - Wozu würden Expertinnen und Experten jetzt raten?

Sa 10.10.20 | 06:00 Uhr | Von Haluka Maier-Borst
Welche Maßnahmen könnten gegen Corona helfen
Bild: Freepik/Flaticon/rbb|24

Seit Samstag gelten in Berlin schärfere Regeln gegen Corona. Aber reicht das? rbb|24 hat Experten gefragt, was sie tun würden, um die Zahl der Neuinfektionen zu senken. Ein Alkoholverbot gehört nicht zu den Empfehlungen. Von Haluka Maier-Borst

Die Neuinfektionen steigen, in Berlin ist die Lage angespannt. Gerade erst hat der Senat neue Einschränkungen verordnet, die seit Samstag in Kraft sind - unter anderem eine Sperrstunde für gastronomische Einrichtungen.

Unter Forscherinnen und Forschern gibt es vorsichtige Hoffnung, dass man nicht in die gleiche Lage geraten muss wie im Frühjahr. "Ich glaube, wir sind insofern besser vorbereitet, als dass inzwischen die Logistik für Tests, für Masken und dergleichen steht. Trotzdem werden die nächsten Monate anstrengend", sagt Jan Brauner von der Universität Oxford, der sowohl einen Hintergrund in Informatik als auch in Medizin hat.

Neuer Lockdown sollte vermieden werden

rbb|24 hat ihn und vier weitere Experten und Expertinnen, die Modellierungsstudien zu Corona veröffentlich haben, nach ihren Einschätzungen zur Krise befragt. Hauptschwerpunkt war dabei, welche Maßnahmen in der jetzigen Situation am meisten Sinn haben – und welche am wenigsten.

Denn zwar sind sich vier der fünf Experten einig, dass der Lockdown im März und April für Deutschland notwendig war (eine/r enthielt sich der Stimme, weil er/sie zu wenig über die Situation im März wisse). Auch Studien, die rbb|24 sich angeschaut hat, belegen, dass der Lockdown mit all seinen Maßnahmen wohl den größten Effekt auf die Zahl der Neuinfektionen hatte. Welche Maßnahmen, wie gut wirken, hat rbb|24 in einem eigenen Artikel aufbereitet. Aber viele dieser Maßnahmen verursachen eben auch die größtmöglichen Schäden. Und die möchten die Experten vermeiden.

Damit die Forscher/innen ohne Druck ihre Expertenmeinung äußern können, haben wir die Ergebnisse der Umfrage anonymisiert und es den Teilnehmern frei gestellt, ihre Auswahl im Einzelfall zu erklären. Aber eine positive Nachricht vorab: alle fünf glauben, dass es aktuell bessere Methoden gibt als einen nationalen Lockdown mit Ausgangssperren, um den Anstieg der Neuinfektionen zu bremsen.

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Fünf von fünf Expert/innen sehen derzeit im Contact-Tracing eines der besten Mittel, um die Pandemie im Zaum zu halten. Das deckt sich auch mit einer Studie von Viola Priesemann und ihrem Team vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen. Die gelernte Physikerin und Modelliererin konnte zeigen, dass Contact-Tracing im Idealfall rund ein Drittel zur Senkung des Reproduktionswerts beitragen kann – wenn die Fallzahlen niedrig bleiben [arxiv.org].

Viola Priesemann erklärt: "Grob gesagt, müssen wir alle mit unserem Verhalten den Reproduktionswert für Corona, der ohne Maßnahmen bei 3 bis 4 liegt, 'nur' auf 2 herunterbringen. Den Schritt von 2 auf unter 1, können die Gesundheitsämter mit dem Tracing leisten – wenn es eben nicht zu viele neue Fälle gibt und die Leute dort mit der Nachverfolgung hinterherkommen.”

Ähnlich sieht es auch Benjamin Steinegger, der an der Rovira i Virgili Universität in Tarragona als Mathematiker und Informatiker zu Epidemien forscht. "Das Contact-Tracing ist sehr entscheidend. Weil das inzwischen nicht mehr klappt, gerät gerade die Lage in Spanien außer Kontrolle", sagt er.

Ein Schild weist darauf hin, dass man das Geschäft nur mit Mund-Nasen-Bedeckung betreten darf. (Quelle: dpa/Sebastian Gollnow)

Vorsichtige Skepsis beim Alkoholverbot

Ferner sprechen sich auch drei der fünf Expert/innen für eine Maskenpflicht im Nahverkehr und in Geschäften aus. Peter Klimek, Komplexitätsforscher von der medizinischen Universität Wien erklärt: "Masken machen meines Erachtens dort Sinn, wo die viel zitierten drei Cs zusammen kommen: 'Close, Closed, Crowded.' Also wo man nah beieinander steht, in einem geschlossenen Raum und es viele Menschen sind."

Ähnlich sieht es auch Klimeks Kollege Brauner. Seiner Ansicht nach spricht viel dafür, dass Masken dabei helfen, Infektionen zu vermeiden. Trotzdem sei die Beweislage nicht zu vergleichen mit einem Medikament, das neu zugelassen wird: "Ich würde schlicht sagen, wenn man viel andere Dinge erlaubt, sollte man die Masken haben. Wenn in einem Lockdown sowieso fast alle zu Hause sind, braucht es keine Maskenpflicht", sagt Brauner.

Was das Alkoholverbot angeht, weist der Forscher der Universität Oxford ebenfalls auf eine komplizierte Sachlage hin: "Es ist schwierig, weil die Wissenschaft nicht dafür gemacht ist, in schwammigen Situationen zu entscheiden. Normalerweise machen wir kontrollierte Experimente und nur wenn die Beweislage sehr klar ist, können wir etwas sagen. Aber zu einem Alkoholverbot fehlen schlicht die Daten, wie sehr das in einer Pandemie hilft." Brauner will nicht ausschließen, dass ein solches Verbot hilft. Trotzdem nannten weder er noch jemand anders unter den Befragten es als eine der wichtigsten Maßnahmen.

Als wichtiger wird angesehen, die Zahl der Personen bei Versammlungen in Innenräumen auf unter 100 oder sogar auf unter zehn zu beschränken (jeweils zwei Nennungen). Das entspricht dem Kurs, den Berlin seit Samstag fährt. Ebenfalls als effizient angesehen wurden lokale Lockdowns und die Ausweitung von Aufklärungskampagnen.

Wovon Expertinnen und Experen eher abraten

Befragt über Maßnahmen, die man derzeit eher vermeiden sollte, nennen die Experten vor allem zwei.

Erstens raten sie entschieden davon ab, Grundschulen zu schließen, denn, so Klimek: "Es zeigt sich, dass zwar Schulschließungen sehr stark den Reproduktionsfaktor reduzieren, der ja beschreibt, wie viele Infizierte jemanden neu anstecken. Aber zusammen genommen mit anderen Studien muss man sagen, dass es wohl vor allem die älteren Schüler, sind, die anscheinend das Virus weiterverbreiten." Ferner sei gerade für jüngere Kinder der Wegfall von Unterricht eine einschneinde Erfahrung und bringe auch mehr Probleme für die Eltern mit sich, wenn es um die Betreuung geht.

Zweitens warnen die Experten davor, auf Zwang mit Hilfe der Polizei zu setzen: "Freiwillige Maßnahmen und Kommunikation sind wichtig", sagt Steinegger. "Hinter jeder Person mit Polizisten hinterherzugehen und - wie es in manchen Ländern im Lockdown geschieht - Leute beim Spazieren mit dem Hund zu beobachten, macht keinen Sinn. Weder epidemiologisch noch aus demokratischer Sicht."

Kompliziert ist die Haltung in der Forschung, wenn es darum geht, wie effizient man Risikogruppen schützen kann und inwiefern dies wichtig ist, um die Pandemie einzudämmen. Zwei der fünf Befragten gaben das als eine wichtige Maßnahme an. Auch der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, der nicht Teil unserer Befragung war, sagte in einem Interview dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland": "Mein Eindruck ist, dass die öffentliche Aufmerksamkeit sich viel zu wenig diesem Thema [dem Schutz der Risikogruppen] widmet."

Viola Priesemann, Forscherin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen glaubt nicht, dass man so einfach Risikogruppen separat schützen kann. "Zu den vulnerablen Menschen gehören ja nicht nur Leute in Pflegeheimen, sondern eben auch Leute mit Diabetes, Krebs oder Übergewicht, die einem ganz normalen Alltag nachgehen. Wie wollen Sie die und deren Kontakte, die das Virus mitbringen könnten, abschirmen?" sagt sie. Sie sieht im Senken der Neuinfektionen in der Gesamtbevölkerung den besten Schutz - auch für die Menschen mit Vorerkrankungen.

Ein Protest mit Abstand entsprechend den Corona-Regeln (Quelle: dpa/Remko de Waal)

Was kann der Einzelne tun und wie lange wird die Corona-Krise andauern?

rbb|24 hat ferner die Experten danach befragt, an welche Regeln jeder Einzelne sich halten kann. Neben den AHA-Regeln (Abstand, Hygiene,Alltagsmaske) wurde auch mehrfach das Reduzieren von Kontakten genannt. Zeshan Qureshi, Mediziner am King's College in London sagt: "Muss ich so nah an anderen Leuten stehen? Muss ich wirklich zu dieser Veranstaltung? Das sind die Fragen, die wir uns stellen sollten. Denn am Ende kommt es nicht nur auf Maßnahmen an, sondern auch darauf, wie gut sich jeder daran hält."

Wenn es darum geht, wie lange es noch brauche, bis das Leben wieder normal werde, gehen die Expertemeinungen weit auseinander - von Mitte 2021 bis Mitte 2022. Und nicht alle wolten sich zu diesem Thema überhaupt äußern.

Eine ganz pessimistische Person gab an, sie glaube nicht, dass man je ganz zur Normalität zurückkehren werde.

Methodik

Befragt wurden:

Jan Brauner, Universität Oxford. Co-Autor der Studie: "The effectiveness of eight nonpharmaceutical interventions against COVID-19 in 41 countries".

Benjamin Steinegger, Universitat Rovira i Virgili. Co-Autor der Studie: "Derivation of the effective reproduction number R for COVID-19 in relation to mobility restrictions and confinement"

Viola Priesemann, Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen. Co-Autorin der Studie: "The challenges of containing SARS-CoV-2 via test-trace-and-isolate"

Zeshan U Qureshi, King's College London. Co-Autor der Studie: "Two metres or one: what is the evidence for physical distancing in covid-19?"

Peter Klimek, Medizinische Universität Wien. Co-Autor der Studie: "Ranking the effectiveness of worldwide COVID-19 government interventions"

Sendung: Inforadio, 10.10.2020, 07:30 Uhr

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Beitrag von Haluka Maier-Borst

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Antwort auf [Nine] vom 11.10.2020 um 12:08
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