Unterschiede bei Corona-Infektionen - Warum hat Ost-Berlin niedrigere Fallzahlen?

Sa 17.10.20 | 08:37 Uhr | Von Haluka Maier-Borst
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Bild: rbb|24

Pankow, Lichtenberg, Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf - die Bezirke, die komplett im Ostteil Berlins liegen, haben deutlich niedrigere Infektionszahlen als der Großteil des Westens. Was führt zu dieser neuerlichen Teilung der Stadt? Von Haluka Maier-Borst

Corona trifft alle. Aber nicht alle gleich.

Menschen jenseits der 70 Jahre haben etwa ein mehr als 40 Mal höheres Risiko an Corona zu versterben als Leute unter 40 Jahren [ourworldindatag.org]. In den USA infizieren sich Schwarze und Latinos ungefähr drei Mal so oft mit dem Virus wie Weiße [nytimes.com]. Schwarze, Inder/innen, Bangladeshi und Pakistaner/innen versterben deutlich häufiger als Weiße in Großbritannien [lancet.com]. Gegenüber dem britischen "Guardian" [guardian.co.uk] beschrieb eine Expertin die Lage so: "Wir gehen gerade alle durch den selben Sturm – aber wir sitzen nicht im selben Boot"

Auch in Berlin zeichnet sich in den letzten Wochen eine sehr eigene Unterscheidung des Virus ab. Die reinen Ost-Bezirke der Stadt verzeichnen weniger hohe Inzidenzen als der Rest der Stadt. Pankow, Lichtenberg, Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf sitzen gewissermaßen in ihrem eigenen Boot. Im Westen hat einzig Steglitz-Zehlendorf ähnlich niedrige Zahlen. Aber warum?

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Die Suche nach den Erklärungen ist kompliziert. Das Zahlenmaterial ist dünn und nicht besonders detailliert. Die Menge an Datenpunkten mit zwölf Bezirken reicht nicht aus für statistische Analysen. Sehr wahrscheinlich spielen zudem mehrere Faktoren gleichzeitig eine Rolle. Und: Nicht alles lässt sich in Zahlen erfassen.

Entsprechend lässt sich nur recht grob und mit sehr viel Vorsicht nach Gründen suchen. Aber es gibt wohl Faktoren, die eher besser oder eher schlechter als Erklärung taugen.

Ist es der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund?

Eine Zahl, die ein Teil der Erklärung sein könnte, ist der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in den jeweiligen Bezirken.

Plausible Begründungen gäbe es dafür eine Menge. Das Robert-Koch-Institut [rki.de] wies schon im August darauf hin, dass über die Sommerferien Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus Kosovo, Türkei, Serbien und Bulgarien in großem Maße Infektionen mitbrachten – darunter wahrscheinlich auch ein nicht unerheblicher Anteil an Menschen, die vom Familienbesuch zurück kamen.

Ferner haben Familien mit Migrationshintergrund etwas mehr Kinder [bmfsfj.de], sind also im Schnitt ein wenig größer und hätten damit eine größere Wahrscheinlichkeit, dass jemand Corona mit nach Hause bringt. Außerdem arbeiten Menschen mit Migrationshintergrund viel öfter als un- oder angelernte Arbeiter/innen [iab.de]. Dazu gehören zum Beispiel Berufe wie Kellner/in und Kassierer/in. Jobs, bei denen also durch mehr Kontakt mit Kunden und anderen Menschen die Wahrscheinlichkeit einer Infektion höher ist. Das ist zum Beispiel einer der vermuteten Gründe, wieso Corona die nicht-weiße Bevölkerung in den USA viel härter trifft [nytimes.com].

Doch in Berlin greift das Argument nur teilweise. Tatsächlich haben zwar die vier Ost-Bezirke den geringsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Unter den Ost-Bezirken hat aber Pankow deutlich mehr Infektionen pro 100.000 als Lichtenberg – aber fünf Prozent weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Ähnlich sieht es auch im Westen aus, wo Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf ähnliche Migrationsquoten haben und dennoch deutliche Unterschiede in den Inzidenzzahlen zeigen. Entsprechend wackelig ist diese Begründung.

Haben manche Bezirke schlicht zu wenig Platz?

Noch schwieriger ist der Faktor Bevölkerungsdichte. Auch da gibt es durchaus gute Erklärungen, wieso das einen Einfluss haben könnte. Mehr Menschen auf weniger Raum sind natürlich Bedingungen, die es dem Virus einfacher machen, von einer Person zur nächsten zu springen. Erste Studien zeigen auch, dass in Ballungszentren im Mittel mehr Leute erkranken und die Phase hoher Infektionszahlen länger andauert [nature.com].

Nur für Berliner Bezirke passt diese Erklärung eher schlecht.

Reinickendorf ist deutlich dünner besiedelt als Pankow und trotzdem viel stärker betroffen. Der Berliner Inzidenz-Spitzenreiter Neukölln hat nur fast halb so viel Menschen pro Bezirksfläche wie Friedrichshain-Kreuzberg und liegt trotzdem deutlich vorne.

Das soll nicht heißen, dass die Bevölkerungsdichte überhaupt keine Rolle spielt. Aber zumindest mit Daten auf Bezirksebene, die zur Verfügung stehen, deutet sich kein Trend an. Das kann aber auch daran liegen, dass es natürlich schon innerhalb der Bezirke gewaltige Unterschiede gibt. Pankow am Berliner Stadtrand ist etwas anderes als Pankow im Prenzlauer Berg.

Oder sind es am Ende die Jungen?

Ein weiterer Erklärungsansatz für das Muster bei den Neuninfektionen ist die Altersverteilung in der Stadt. Schaut man auf die drei Altersgruppen, die aktuell die höchste Inzidenz haben, so sind das die 15- bis 19-Jährigen, dann die 20- bis 24-Jährigen und schließlich die 25- bis 29-Jährigen. Auf einer Karte dargestellt, stehen dann drei Bezirke heraus: Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln.

Aber auch hier zeigt ein genauer Blick, dass das Alter nur bedingt als Erklärung funktioniert. Schon die Rangfolge der jüngsten drei Bezirke ist mit Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln anders als die Rangfolge der am schwersten betroffenen Bezirke mit Neukölln und seinem extrem hohen Stand an Neuinfektionen. Auch beim Rest der Bezirke zeigen sich Diskrepanzen zwischen der Tabelle, wenn es um die Inzidenzen geht, und der Tabelle, die die Verteilung der 15- bis 29-Jährigen anzeigt.

Am Ende fehlen für weitere Analysen die Daten

Entsprechend erscheint es auch eher unwahrscheinlich, dass die Erklärung des Senats, das Problem seien vor allem die jungen Feiernden, ausreicht, um das Infektionsgeschehen in Berlin zu erklären.

Derweil gibt es noch eine medizinische Vermutung, wieso nicht nur Ost-Berlin, sondern Ost-Deutschland insgesamt von Corona bislang weniger stark betroffen ist als West-Berlin und West-Deutschland. In der DDR gehörte der Tuberkulose-Impfstoff "Bacille Calmette-Guérin" (BCG) zu den Pflichtimpfungen, in der BRD nicht.

BCG wird seit 1998 in Deutschland nicht mehr empfohlen, weil gegen die Tuberkulose selbst die Schutzwirkung eher unzureichend ist [gelbe-liste.de]. Es gibt aber Hinweise, dass die Impfung grundsätzlich die Immunabwehr gegen Atemwegserkrankungen stärkt [cell.com]. Schon seit dem Anfang der Pandemie wiesen Experten darauf hin, dass Länder, bei denen die BCG-Impfung noch zum Standardrepertoire gehört, weniger hohe Corona-Fallzahlen verzeichneten. Allerdings ist dies für den Moment eine These, die noch auf sehr wackeligen Füßen steht. Und eine erste Studie zeigte sogar eher keine Hinweise dafür [aerztezeitung.de], dass BCG hilft.

Was also für momentan niedrigen Fallzahlen in Ost-Berlin sorgt, bleibt somit weiterhin nicht vollends geklärt.

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Beitrag von Haluka Maier-Borst

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Antwort auf [Wolfgang] vom 17.10.2020 um 09:56
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