Interview | Psychotherapeutin über Corona-Auflagen - "Gestresst, gereizt, frustriert, enttäuscht, das sind wir alle"

Mo 09.11.20 | 07:24 Uhr
Ein Mann spaziert durch den herbstlich bunt gefaerbten Messelpark in Berlin, 29.10.2016. (Quelle: Florian Gaertner/imago-images)
Bild: imago-images/Florian Gaertner

Lockdown? Kennen wir. Dennoch ist die derzeitige Situation nicht mit dem Frühjahr vergleichbar, sagt die Psychotherapeutin Pilar Isaac-Candeias. Was an vielen nagt, ist die Ungewissheit, vor der wir jetzt stehen - und auf die es keine einfachen Antworten gibt.

rbb|24: Seit vergangener Woche befinden wir uns erneut in einem Shutdown, wenn auch mit weniger restriktiven Regeln als im Frühjahr. Ist es ein Vorteil, dass wir Erfahrungen haben, auf die wir zurückgreifen können oder befinden wir uns doch in einer ganz neuen Situation?

Pilar Isaac-Candeias: Nein, es ist kein Vorteil. Man muss das Ganze als einen Prozess sehen. Im Frühjahr war den Menschen bewusst: "Oh, jetzt ist was Schlimmes passiert. Wir haben den Shutdown, den haben wir noch nie gehabt. Das ist etwas ganz Besonderes, das ist schwierig für alle und macht natürlich Angst." Aber es war eben trotzdem Frühjahr und alle dachten, wir benehmen uns jetzt und dann wird das alles wieder gut. Nun stellen wir aber fest, es wird eben nicht alles wieder gut. Deswegen ist dieser Shutdown viel belastender, als es der erste war.

Im Frühjahr kamen relativ schnell wieder Lockerungen. Jetzt ist die Perspektive eine ganz andere. Wir haben November, wir wissen noch gar nicht, was im Winter passieren wird. Wie kann man damit umgehen?

Was wir alle aushalten müssen, ist die Ungewissheit und auch die Unsicherheit. Das ist, was uns allen so schwer fällt. Wir wollen ja immer schnelle Lösungen, schnelle Erklärungen. "Das ist passiert, auf diese Weise kann man das wieder wegmachen. Dann halten die Dinge besser aus, mit einer Erklärung und einer zeitlichen Perspektive." Aber nun stellen wir fest, im Grunde befinden wir uns in der Dunkelheit und leuchten ein bisschen mit der Taschenlampe hin und her, um irgendwie einen Weg aus diesem Tunnel heraus zu finden.

Wir können auch nur hoffen, dass diese ganzen Maßnahmen irgendwie dabei helfen. Es scheint so zu sein, dass sie zumindest die Infektionszahlen etwas drücken. Aber man sieht nicht, wie sich das ganze weiterentwickeln wird. Mutiert das Virus oder nicht? Kriegen wir das in den Griff? Wird es einen Impfstoff geben? Wenn es einen Impfstoff gibt, hält der länger als vier Monate oder muss man sich dann andauernd impfen lassen? Wir wissen nichts. Mit dieser Ungewissheit muss man leben und das fällt uns Menschen furchtbar schwer.

Hilft es, sich solche Perspektiven genauso bewusst zu machen? Wir wissen das nicht und möglicherweise wird es noch schlimmer, bevor es besser wird.

Wir wissen auch nicht, ob es schlimmer wird. Ich denke, es hilft sich diesen Ausblick bewusst zu machen, wenn man es denn schafft das auszuhalten. Menschen suchen jedoch gern nach einfachen Erklärungen und Sündenböcken. Das ist dann eben Bill Gates, die Politiker oder das RKI, die EU; es gibt immer Schuldige dafür, dass wir nicht so weiterleben können wie bisher.

Bei Gerichtsprozessen zu Gewaltverbrechen hilft es vielen Opfern, dass über Schuld gesprochen wird und Strafen verhängt werden. Nun ist das bei der Pandemie mit der Schuldfrage schwierig. Wer nach Schuld sucht, verrennt sich doch.

Ja natürlich. Das sehen wir an den ganzen Verschwörungstheoretikern, die sich verrennen. Das sehen wir an Donald Trump. Die Warnung, dass wir irgendwann eine Pandemie mit irgendeinem unbekannten Virus erleben würden, gab es ja seit Langem. Es gab Ebola, es gab viele Krankheiten und Viren, die uns bis zu ihrem Auftreten unbekannt waren und die wir nicht behandeln konnten. In dieser Form hat uns zwar bisher keine Pandemie getroffen, aber ich erinnere mich, wie Staaten Impfdosen gekauft haben, um die Schweinegrippe bekämpfen zu können.

Das Unbekannte ist nun, dass uns eben gerade dieses Virus getroffen hat. Da hilft es auch nicht zu sagen: "Der hat es falsch gemacht. Diese oder jene Maßnahme wurde zu spät, zu früh, irgendwann getroffen." Was sicherlich falsch war, war, was eben Boris Johnson, Donald Trump und andere gemacht haben. Zu sagen, das ist doch alles nix. Die haben es ignorieren wollen und damit schlimmer gemacht.

Ich habe das Gefühl, ich treffe momentan sehr viele Menschen, die sehr gestresst sind. In meinem direkten Umfeld ist das so, aber auch, wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewege. Wenn ich in der S-Bahn sitze, wenn ich im Straßenverkehr bin und natürlich bin auch ich in vielen Situation gestresster, als ich es vor der Pandemie war.

Gestresst, gereizt, frustriert, enttäuscht, das sind wir alle. Das ist auch jetzt viel schwieriger zu managen als im Frühjahr. Weil es so ein langer Prozess ist, weil kein Ende abzusehen ist und wir wissen, wir werden uns weiter einschränken müssen. Wann kriegen wir das Leben zurück, das wir gewohnt waren? Das wissen wir eben nicht.

Manche reagieren auf ihren Frust und Stress mit Aggressionen. Sie wollen das nach außen kehren - "ich klage an, ich motze rum". Die anderen reagieren mit Depression, mit: "Ich ziehe mich zurück, ich verzweifle an der Welt und an mir".

Das sind beides schlechte Strategien, um mit Stress umzugehen. Müssen wir erkennen, dass wir alle gestresst sind und das jetzt akzeptieren?

Das sagt sich so schön: akzeptieren. Der Stress macht etwas mit einem. Er macht aggressiv, er macht depressiv, er frisst vor allem Energie. Die Frage ist, wie wir gemeinsam als Gesellschaft am besten mit dieser Situation umgehen? Das geht nur mit Solidarität. Ich stelle mich ein Stückchen zurück, um solidarisch andere zu unterstützen, die vielleicht schwächer sind, anstatt zu sagen: "Aber ich! Ich will in den Club, ich will doch dies und das." Ja, aber das geht eben nicht, weil es andere gefährdet. Wir sitzen alle in einem Boot, weltweit. Was können wir also tun, damit wir Gefährten sind, solidarisch miteinander sind?

Am Anfang der Pandemie, beim ersten Shutdown, haben viele für die Pflegenden in den Krankenhäusern geklatscht. Das sollte Anerkennung ausdrücken. Die Menschen haben Nachbarschaftshilfe organisiert und solche Dinge. Das scheint alles ein Stück weit wieder verloren zu gehen, da es in diesem langen Prozess so viel Frustration gibt. Zu sagen, "gemeinsam schaffen wir das, gemeinsam kommen wir da irgendwie durch", ist auch das Beste, was Sie als Journalisten verbreiten können. Ein solidarisches Denken, das die Egoismen - das "me first" - etwas zurückstellt.

Das ist natürlich schwierig, denn viele Leute haben auch Existenzängste und bekanntlich kommt, frei nach Brecht, "erst das Fressen und dann die Moral".

Die einen erleben Existenzängste, für andere fällt lediglich der Urlaub flach.

Genau. Die Relationen selbst in ein richtiges Maß zu rücken, wäre schon ganz gut, statt sich lauthals zu beklagen, obwohl die Einschnitte vergleichsweise gering ausfallen.

Statt eines Gefühls der Zusammengehörigkeit scheinen wir nun aber eine gesellschaftliche Teilung zu erleben.

Ja. Eine Gesellschaft besteht aus Individuen und es gibt Menschen, die mit der aktuellen Situation nicht gut umgehen können. Mit diesem, ich fühle mich hilflos und unsicher, ich kann gar nichts machen. Da entstehen momentan tatsächlich so etwas wie Parallelgesellschaften.

Gefördert auch durch das Internet, in dem jeder seine eigene Echokammer findet. Manche lesen nur noch, was in ihr eigenes Weltbild passt. Die passenden Informationen findet man überall. Und die kommen auch zu uns, das bekommen wir zugeschickt. Wer anfängt, alles auszublenden, was nicht die eigene Meinung stützt, so etwas nicht mehr zur Kenntnis nimmt oder als Fake News bezeichnet, der wird sich irgendwann auch nicht mehr mit anderen Perspektiven auseinandersetzen.

Wie erkennt man, dass man in dieser Falle sitzt? Und wie kann man sich da selbst wieder rausholen oder anderen raushelfen?

Ich als Psychotherapeutin würde bei meinen Patienten versuchen herauszufinden, was die Motivation dahinter ist? Welche Ängste verbergen sich dahinter? Was bringt einen dazu sich in so ein geschlossenes Weltbild zu flüchten? Das findet man auch bei Ideologien oder bei Sekten. Geschlossene Weltbilder vermitteln Sicherheit.

Auch ohne das Virus durchleben wir eine Zeit der gesellschaftlichen Transformation mit vielen Ungewissheiten. Durch die Digitalisierung lösen sich Grenzen von Raum und Zeit auf. Ob ich nun in Berlin arbeite oder in San Francisco, ist bereits in vielen Berufen egal. Die heutige Zeit ist auch von einer Unübersichtlichkeit geprägt. Ich glaube, diese Transformationen machen den Menschen viel Angst. Und dann kommt das Virus obendrauf. Da suchen sich viele Gleichgesinnte, an denen sie sich festhalten können. Aber eigentlich geht es, meiner Meinung nach, um Ängste.

Wir leben zwar in einer fragmentierten Gesellschaft, dennoch erleben wir jetzt gemeinsam die gleiche Naturkatastrophe. Wir wissen alle nicht, wann das wieder aufhört und wir mit dem Wiederaufbau beginnen können. Ist diese Ungewissheit auch etwas Verbindendes?

Eigentlich ist sie immer erstmal etwas Trennendes. Wenn Menschen Angst haben, verbinden sie sich eher nicht und versuchen stattdessen, sich selbst zu schützen. Man müsste gesellschaftlich daran arbeiten, dass diese Situation etwas Verbindendes wird. Welche ethisch-moralischen Werte lassen sich jetzt in dieser Zeit in einer anderen, einer besseren Form finden? Das wäre die positive Wendung. Je bedrohlicher es für den einzelnen wird, desto schwieriger wird dies allerdings.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte zu Beginn der Pandemie einmal, dass wir uns am Ende gegenseitig einiges verzeihen werden müssen. Der Haken daran ist, dass jeder dazu bereit sein muss: zu verzeihen.

Das ist natürlich eine große Tugend: verzeihen zu können. Das ist eine große innere Arbeit, die einen moralischen Antrieb hat. "Du hast mir etwas Böses getan. Du, Gesundheitsminister, hast es verkehrt gemacht. Oder du, Nachbar, hast mich angesteckt. Aber trotzdem ist es in diesem Fall vielleicht nicht deine Schuld. Du hast es nicht mit Absicht gemacht, deswegen muss ich Gnade walten lassen." Es ist etwas anderes, wenn jemand mutwillig Schaden verursacht. Die Unwissenheit der anderen kann man leichter verzeihen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Oliver Noffke für rbb|24.

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