Reihenfolge bei Corona-Impfung - Warum es sinnvoll ist, 101-Jährige zuerst zu impfen

Mo 28.12.20 | 15:32 Uhr
Die 101-jährige Gertrud Haase wird im Pflegeheim Agaplesion Bethanien Sophienhaus von Impfarzt Fatmir Dalladaku gegen das Coronavirus geimpft (Quelle: DPA/Kay Nietfeld)
Bild: DPA/Kay Nietfeld

Die Corona-Impfungen starten mit einer unangenehmen Nebenwirkung: Impfneid. Manche kritisieren die Priorisierung, weil sie schneller dran kommen wollen. Doch es gibt gute Gründe für die Reihenfolge – medizinische wie nicht-medizinische. Von Haluka Maier-Borst

Das Jahr 2020 hat uns viel Neues in den Wortschatz gespült. Social Distancing, Lockdown, AHA-Regeln und jetzt: den Impfneid. Der Umstand, dass manche Menschen gerne bei der Impfung früher dran wären und infrage stellen, wieso zum Beispiel in Berlin eine 101-Jährige als erstes geimpft wurde.

Tatsächlich ist die Impfstrategie eine komplexe Frage. Denn je nachdem, ob man die Zahl der Covid-19-bedingten Todesfälle, Klinikeinweisungen oder die Zahl der Corona-Infektionen senken will, müsste die Priorisierungsstrategie anders aussehen [medrxiv.org]. Darum hat die Ständige Impfkommission (Stiko) auf mehr als 50 Seiten ihre Überlegungen dargelegt [rki.de]. Aber es gibt gute Gründe für das Vorgehen in Deutschland, das sich grob so zusammenfassen lässt:

- erst nach Alter,

- dann nach hohem Jobrisiko und Vorerkrankungen,

- und dann alle anderen.

Alter ist der größte Risikofaktor – noch deutlich vor Vorerkrankungen

Das Risiko für einen schweren oder tödlichen Covid-19-Verlauf steigt geradezu exponentiell mit dem Alter. Das haben mehrere Studien wie zum Beispiel vom Imperial College in London [imperial.ac.uk] oder auch von Forscher/innen unter anderem aus Sydney [medrxiv.org] ergeben.

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Entsprechend hat es Sinn, die Altersgruppe Ü80 und die, die sie versorgen und sie also anstecken könnten, zu impfen.

Die Stiko hat zudem in einer groß angelegten Studienrecherche festgestellt, dass bei den meisten Erkrankungen das Risiko für einen schweren oder gar tödlichen Krankheitsverlauf nur leicht erhöht ist.

Angegeben wurde dieses Risiko mit der Zahl des sogenannten Effektschätzers. Ein Effektschätzer von 1,3 bei Vorhofflimmern am Herzen bedeutet demnach, dass eine Person mit dieser Vorerkrankung ein um 30 Prozent erhöhtes Risiko hat, an Covid-19 zu versterben als eine Person im etwa gleichen Alter und mit demselbem Geschlecht ohne diese Vorerkrankung.

Diese 30 Prozent klingen erst einmal nach viel. Da aber glücklicherweise das Ausgangsrisiko für jüngere Menschen, an Covid-19 zu versterben, gering ist, ist auch für die meisten Menschen mit Vorerkankungen das effektive Risiko gering.

Die einzigen Ausnahmen: Menschen mit Trisomie 21 und Menschen, die eine Organtransplantation hinter sich haben. Darum hat es Sinn, dass Transplationspatienten und Menschen mit Trisomie 21, aber auch die Menschen, die sie behandeln, in der Prioritätsgruppe 2 eingestuft sind.

Indem man die Alten zuerst impft, rettet man auch die meisten Lebensjahre

Das klingt zunächst einmal eher unlogisch. Wieso sollte eine Impfstrategie, die zuerst die Ältesten mit einer Impfung versorgt, auch die meisten verbliebenen Lebensjahre retten? Hier kommt aber auch wieder die Überlegung ins Spiel, dass Corona für ältere Menschen viel häufiger tödlich ist als für jüngere.

Sprich: Natürlich hat eine 80-Jährige in der Regel weniger Jahre vor sich als eine 70-Jährige. Aber die Gefahr, dass sie ohne Impfung an Covid-19 sterben würde, ist eben ungleich höher. Rechnet man entsprechend über die ganze Bevölkerung, führt das dazu, dass laut Stiko-Berechnungen die aktuelle Strategie auch die höchste Zahl an Lebensjahren rettet.

Wieso das Abwägen von Impfstrategien basierend auf Lebensjahren aber schwierig ist

Es stellt sich aber sowieso die Frage, wie "gerecht" und "sinnvoll" die Metrik der verbleibenden Lebensjahre ist. Denn natürlich ist das bereits erreichte Alter nur ein Indikator dafür, wie viele Jahre jemand noch zu leben hat. Überspitzt gesagt: Hat ein 70-jähriger Kettenraucher mit Übergewicht wirklich mehr Jahre vor sich als eine 90-jährige, gesunde Pflegeheimbewohnerin?

Schnell ist man bei gleich mehreren organisatorischen und ethischen Problemen. Zum einen müsste dann entschieden werden, was in die Prognose einfließen darf und was nicht. Zum anderen könnte sich schnell die Frage stellen, ob man Vorerkrankungen unterschiedlich gewichtet. Führt das durch ungesunden Lebenswandel verursachte Übergewicht dazu, dass man in der Impfreihenfolge nach hinten rutscht? Heißt der vererbte Diabetes, dass man früher dran kommt?

Es ist also nachvollziehbar, dass die Stiko als erstes Impfziel die "Verhinderung schwerer Covid-19-Verläufe (Hospitalisierung) und Todesfälle" generell ausgibt und eben nicht je nach Alter dieses Ziel unterschiedlich wichtig einstuft. Jedes Leben zählt gleich viel. Das klingt simpel und vielleicht zunächst zu simpel. Aber es ist wohl die fairste Entscheidung.

Auch an die Ärzt/innen und Pfleger/innen ist gedacht

Wenngleich bei den ersten Bildern vom Impfstart vor allem ältere Heimbewohner/innen abgelichtet wurden, natürlich ist auch an diejenigen gedacht, die sie behandeln.

Der aktuelle Impfplan räumt Personal in medizinischen Einrichtungen generell eine hohe Priorität ein. Zum einen weil diese Menschen ein ungleich höheres Risiko haben, sich mit Corona anzustecken. Zum anderen weil es die Hoffnung gibt, dass die Impfstoffe nicht nur Erkrankungen vermeiden, sondern zumindest teilweise, dass ein/e Geimpfte/r andere ansteckt.

Für den aktuell verteilten Impfstoff von Biontech/Pfizer reicht für die letzere Annahme allerdings die Datenlage nicht, so dass die Stiko erstmal weiterhin die Entwicklung beobachtet. Für den aber schon im Zulassungsprozess befindlichen Impfstoff von Astrazeneca gibt es erste Daten, die darauf hindeuten, dass die Impfung die Weitergabe von Viren verhindert [thelancet.com]

Womöglich haben wir bald mehr Impfstoffe

Mit Moderna soll ein weiterer mRNA-Impfstoff-Hersteller im neuen Jahr seine Zulassung bekommen, wenn alles nach Plan läuft. Hinzu kommen außerdem die beiden Vektorimpfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson, die zumindest im Zulassungsverfahren der europäischen Arzneimittel-Agentur schon weit vorangeschritten sind und einfacher in der Lagerung sind. Von beiden Vektorimpfstoffen hat die EU deutlich mehr bestellt.

Sollten also diese beiden Impfstoffe auch noch zugelassen werden, gäbe es wohl genügend Impfstoff für alle. Und damit hoffentlich keinen Grund mehr für Impfneid.

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