Corona-Impfung - So berechnen Berliner Forscher, wer zuerst drankommt

Do 10.12.20 | 11:06 Uhr | Von Dominik Wurnig
Symbolbild: David Lolli, Medizinstudent, sitzt während einem Probelauf in einer Impfstation des Zentralen Impfzentrum an der Freiburger Messe und lässt sich von einem weiteren Studenten simuliert impfen. (Quelle: dpa/Philipp von Ditfurth)
Bild: dpa/Philipp von Ditfurth

Am Anfang wird es nicht genug Impfstoff für alle geben. Wer zuerst die - womöglich lebensrettende - Impfung bekommen sollte, modellieren Berliner Wissenschaftler am Robert-Koch-Institut. Die Methode haben sie sich von Archäologen abgeguckt. Von Dominik Wurnig

"Frauen und Kinder zuerst" - mit dieser archaischen Formel wurde auf der sinkenden Titanic entschieden, wer in ein Rettungsboot darf. Auch jetzt in der Corona-Pandemie braucht es klare und ethische Regeln, wer zuerst gerettet werden soll.

Heute geht es statt um Rettungsboote um die womöglich rettende Impfung. Anfangs wird es nicht genug Impfdosen für alle geben, Forscher des Robert-Koch-Instituts (RKI) berechnen deshalb seit August, welche Impfstrategie die beste Auswirkung hat.

"Die Frage, wer zuerst geimpft werden soll, ist nicht berechenbar, sondern wird immer eine ethische beziehungsweise politische Entscheidung bleiben", sagt Stefan Scholz vom Fachgebiet Impfprävention im Robert-Koch-Insitut, "aber man kann berechnen, welche Konsequenzen mit der jeweiligen Entscheidung für die Krankheitslast (beispielsweise die Todesfälle), die Ausbreitung der Infektion oder die Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens beziehungsweise der öffentlichen Sicherheit entstehen." Der Modellierer forscht seit Jahren statistisch im Bereich Public Health, nun beschäftigt er sich eben statt mit Syphilis und Influenza mit dem Impfmodell gegen Sars-CoV-2.

Impfkommission macht Empfehlung für Landesregierungen

Wichtige Dimensionen für die Corona-Impfstrategie sind: Welchen Personengruppen droht ein schlechter Krankheitsverlauf, wer steckt potentiell andere an, wer hat ein hohes Risiko einer Infektion und wo wäre es kritisch, wenn Menschen krankheitsbedingt ausfallen würden.

Obwohl Männer öfters einen schwerwiegenden Verlauf haben, bleibt das Geschlecht unberücksichtigt in der Empfehlung, denn das würde dem grundrechtlichen Gleichheitsgrundsatz widersprechen.

Am Montag wurde der Entwurf [das "Ärzteblatt" hat die genauesten Informationen] einer Empfehlung der Ständigen Impf­kommissi­on (Stiko) bekannt, zu dem nun ein dreitägiges Stellungnahme-Verfahren läuft. Die Stiko [rki.de] ist ein unabhängiges Expertengremium, das vom Robert-Koch-Institut koordiniert und unterstützt wird.

Im nächsten Schritt wird diese Kommission eine Empfehlung aussprechen, letztlich entscheiden aber die Landesregierungen, ob und wie weit sie der Empfehlung folgen. So könnte es beispielsweise logistisch sinnvoller sein, ein Pflegeheim oder ein Krankenhaus komplett durchzuimpfen statt bei jeder Person zu prüfen, welche Priorität diese hat. Die Impfung wird freiwillig sein. Eine Impfpflicht haben Bund und Länder ausgeschlossen.

Alte und Pflegekräfte haben Priorität

Neben Männern sind Alte stärker von Corona betroffen. Die Evakuierungsregel der Titanic wäre also als Impfstrategie nicht nur ethisch absurd, sondern würde auch im Modell von Scholz durchfallen.

"Wir versuchen in Was-wäre-wenn-Szenarien die Konsequenzen verschiedener Impfstrategien abzuschätzen", sagt Scholz. "Dabei versucht man für verschiedene Variablen die optimale Impfstrategie zu finden. Dazu gehören die Anzahl der Infektionen, die Anzahl der Krankenhausaufenthalte, die Anzahl der Todesfälle und die Anzahl der Lebensjahre, die durch eine Impfung gerettet werden."

Die richtige Mischung für diese Impfziele zu finden ist nicht einfach. So könnte man wohl die Todesfälle am effizientesten reduzieren, wenn alte Menschen besondere Priorität haben. Die Zahl der Infektionen könnte aber womöglich am besten reduziert werden, indem man besonders aktiven Menschen impft - vorausgesetzt die Impfung verhindert auch die Übertragung, was noch nicht ganz sicher ist.

Eine solche Gruppe wären beispielsweise Kita-Kinder oder Schüler, die sehr viele Kontakte haben. Allerdings haben Kinder nur in Ausnahmefällen einen schweren Verlauf. Die Stiko hat empfohlen, dass Pflegekräfte bei der Impfung Priorität haben sollen: Einerseits sind sie selbst gefährdet und andererseits könnten sie im schlimmsten Fall die Infektion von Risikopatient zu Risikopatient weiter übertragen.

Modellierer arbeiten wie Archäologen

Seit August arbeitet Scholz mit zwei Kollegen an dem perfekten Impfmodell. Dabei versuchen sie ein genaues Modell der Realität nachzubauen, das möglichst gut die gemeldeten Fälle, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle reproduziert. Entscheidend dafür ist die Qualität der Daten. Im Rechenmodell verbinden sie Daten zur Altersstruktur, Vorerkrankungen, dem Arbeitsmarkt, Sozialhilfe, Strafvollzug, Wohnungslosigkeit und Umfragen zu Kontakten, um überhaupt beziffern zu können, wie groß die einzelnen in Frage kommenden Gruppen sind.

Wenn Daten fehlen oder Variablen unbekannt sind - etwa zur Krankheitsdauer, der Anzahl der Kontakte oder auch zur Zulassung des Impfstoffes -, tasten sie sich vorwärts, ähnlich wie in der Archäologie. "Da findet man hier mal einen Dinosaurierschädel, da mal einen Fussknochen und aus diesen Einzelteilen versucht man dann einen ganzen Dinosaurier zusammenzusetzen. In der Modellierung von Infektionskrankheiten sehen wir auch nur einzelne Ausschnitte des gesamten Infektionsgeschehens", sagt Scholz.

"Wir versuchen dann alle diese Informationen in einem Modell zusammenzutragen und ein möglichst stimmiges Gesamtbild zu erhalten. Wenn einzelne Informationen fehlen, kann man meist aus anderen Daten abschätzen, in welchem Bereich die Werte der fehlenden Variablen liegen müssen."

Die Zulassung eines Corona-Impfstoffs in der EU wird in den nächsten Woche erwartet, dann soll es auch mit den Impfungen in Brandenburg und Berlin losgehen.

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