Interview | Berliner Ärztin über Corona-Unwissenheit - "Die Leute wissen nicht, worum es bei dieser Pandemie geht"

Do 24.12.20 | 13:22 Uhr
Passanten mit Mund-Nasen-Bedeckung überqueren die weihnachtlich beleuchtete Straße Unter den Linden.
Bild: dpa

Was muss ich tun, wenn ich Symptome spüre? Wie verhalte ich mich als Kontaktperson richtig? Das wissen die wenigsten ihrer Patienten, beklagt eine Berliner Ärztin. Ein Gespräch über Corona-Unwissenheit, langsame Gesundheitsämter und Arbeitgeber, die Druck machen.

rbb|24: Frau Müller*, Sie sind Ärztin in einer Praxis in Berlin-Neukölln. Wieviel Ahnung haben Ihre Patienten von den Corona-Regeln?

Corinna Müller*: Viele sind überhaupt nicht adäquat aufgeklärt: weder darüber, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie Husten oder Fieber - also mögliche Corona-Symptome - bei sich selbst bemerken. Noch darüber, was zu tun ist, wenn sie Kontaktperson von Infizierten sind. Das merken wir immer deutlicher in den letzten Wochen. Viele wissen überhaupt nicht mehr, worum es eigentlich geht in dieser Pandemie. Und deshalb verhalten sie sich oft falsch.

(*Name von der Redaktion geändert)

Wie zum Beispiel?

Neulich standen zwei Patienten mit Erkältungs-Symptomen bei uns in der Praxis – obwohl wir klar kommunizieren, dass niemand mit Husten oder Halsweh bei uns einfach reinspazieren darf. Die Leute sagten mir dann, sie seien doch schon vor drei Monaten getestet worden, und der Test sei negativ gewesen. Dann könnten sie jetzt doch kein Corona haben, meinten sie. An sowas merkt man: Viele Menschen haben nicht verstanden, was ein Test-Ergebnis aussagt – und was nicht. Da wird nicht klar kommuniziert.

In welchem Umfeld befindet sich die Praxis, in der Sie arbeiten?

In einem Gebiet in Neukölln, das eher nicht von Akademikern bewohnt wird. Wir machen dort täglich eine Infekt-Sprechstunde für Menschen, die Symptome haben, die auf Corona deuten könnten. Da kommen die Patienten durch einen separaten Eingang. Komplett in Schutzmontur machen wir dann Abstriche, also Corona-Tests. Aber ganz viele Patienten glauben, sie wüssten auch ohne Test, dass sie kein Corona haben – sie hätten ja kein Fieber. Dann könne das kein Corona sein. Quarantäne-Regeln sind vielen auch völlig unklar. Da ist die Ehepartnerin positiv getestet und deshalb zu Hause, aber der Ehemann geht munter weiter arbeiten. Denn er fühlt sich gut und solange sein Arbeitgeber nicht sagt: Bleib zu Hause - solange geht er arbeiten.

Wie oft begegnen Ihnen solche Fälle?

Fälle dieser Art begegnen uns leider jeden Tag mehrere. Das macht uns große Sorgen. Angesichts dieser schlechten Informationslage bei den Leuten wundern wir uns kaum noch darüber, dass die Infektionszahlen in Berlin nicht sinken. Es fehlt in der breiten Bevölkerung das Verständnis – zum Beispiel davon, was eine Inkubationszeit ist. Dass man jetzt negativ getestet sein kann, aber sich das innerhalb weniger Tage möglicherweise ändert. Ich glaube nicht, dass dieses falsche Verhalten aus bösem Willen entsteht, sondern weil viele Leute vor ihrem Wissenhintergrund nicht nachvollziehen können, was ihr Handeln in der Pandemie für Folgen hat.

Eigentlich ist es Aufgabe der Gesundheitsämter, das zu erklären, Kontaktpersonen von Infizierten zu informieren und in Quarantäne zu schicken.

Richtig, aber die Kollegen kommen überhaupt nicht mehr hinterher. Die Informationen, wie man sich richtig verhält, kommen zu langsam oder gar nicht bei den Betroffenen an. Was wir auch hören in der Praxis, ist, dass gerade im Niedriglohnsektor die Arbeitgeber sehr Druck machen, dass niemand ausfallen darf. Das Personal soll sich erst dann testen lassen, wenn sowieso der Urlaub ansteht – vorher bitte nicht. Teilweise erzählen uns Patienten, dass sie nicht zu Hause bleiben dürfen, obwohl ihre Kinder krank sind. Dass sie ihre kranken Kinder mit auf die Arbeit nehmen – und sich dann hinterher rausstellt, dass die Kinder positiv auf Corona getestet wurden.

Und damit ist die nächste Infektionskette in Gang gesetzt.

Ja, das ist zum Verzweifeln. Sehr aufgeregt hat mich eine Geschichte einer meiner Patientinnen. Sie arbeitet als Servicekraft in einem Berliner Klinikum, das ich hier nicht nennen will. Sie hat viel in den Zimmern von Covid-Patienten gearbeitet, hat dann selbst Symptome entwickelt - und ist in der Klinik nicht getestet worden, obwohl sie das wollte. Das würde jetzt zu viel Aufwand machen, hat man ihr gesagt. Also ist sie erstmal weiter arbeiten gegangen, hat sich aber an unsere Praxis gewendet, um sich testen zu lassen. Als das positive Testergebnis kam, habe ich sie sofort in Quarantäne geschickt. In solchen Jobs gibt es wirklich einen enormen Druck und gleichzeitig Angst, die Arbeit zu verlieren.

Beobachten Sie auch in Kreisen mit besser bezahlten Jobs Unwissenheit gegenüber der Pandemie-Lage?

Durchaus. Ich lebe in Prenzlauer Berg und die Klasse meines Sohnes in einem Gymnasium hier im Bezirk musste in Quarantäne. Da habe ich dem Schuldirektor angeboten, zu kommen und Abstriche zu machen, draußen auf dem Schulhof bei Schülern und Lehrern - weil ich wusste: Das Gesundheitsamt schafft sowas gar nicht mehr. Die kommen nicht hinterher. Aber ich bin mit diesem Vorschlag abgeblitzt beim Direktor. Der wollte auf das Gesundheitsamt warten. Die haben dann die Schule informiert - zum Ende der Quarantäne. Und erst zehn Tage später auch uns Eltern. Meinen Sohn hatte ich da schon längst selbst getestet: Er war negativ.

Woran liegt es, dass viele Leute so schlecht Bescheid wissen?

Erstens ist es schwer, sich Regeln zu merken, die sich so oft ändern und die von Region zu Region verschieden sind. Da ist der Landkreis sowieso, der zu Weihnachten Lockerung XY versprach und sie inzwischen längst zurücknehmen musste. Sowas ist unklug in einer Pandemie-Situation. Damit suggeriert man, die ganze Sache sei doch gar nicht so gefährlich. Problematisch sind auch solche Formulierengen wie: Jedes vierte Intensivbett ist von einem Corona-Patienten belegt. Da denken auch Leute in meinem Freundeskreis, die anderen drei Betten seien frei. Dass da Menschen liegen, die Unfälle hatten oder einen Schlaganfall – solche abstrakten Zusammenhänge haben viele nicht auf dem Schirm.

Wie müsste der Senat kommunizieren, damit es mehr Leute - am besten alle - verstehen, wie man sich in dieser Pandemie richtig verhält?

Es gab im Verlauf der letzten Monate schon mal einen Brief vom Regierenden Bürgermeister an alle Haushalte. Sowas könnte helfen, formuliert in einfacher Sprache mit ganz klaren Anweisungen und auch mit Bildern: Wie verhalte ich mich in welcher Situation? Wenn ich selbst Symptome spüre, dann... Wenn ich Kontakt mit einer positiv getesteten Person hatte, dann… Wichtig ist, dass wir den Menschen klarmachen: Ihr könnt es nicht selbst fühlen, ob eure Symptome von Corona kommen oder nicht. Um das zu wissen, müsst ihr euch testen lassen. Im Zweifel: Verhaltet euch so vorsichtig, als wärt ihr infiziert, um andere nicht zu gefährden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anne Kohlick.

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