Psychische Gesundheit in der Corona-Pandemie - Beschwerden über Berliner Psychiatrien häufen sich

Fr 18.12.20 | 06:00 Uhr | Von Dominik Wurnig und Roberto Jurkschat
Ein Pfleger steht in der geschlossenen Abteilung an der Tür zum Isolationsraum. (Quelle: dpa/Felix Kästle)
Bild: dpa/Felix Kästle

Seit Beginn der Corona-Pandemie nehmen Beschwerden über psychiatrische Stationen in Berlin zu. Das zeigt eine Auswertung der Beschwerdestelle, die rbb|24 exklusiv vorliegt. An der Zahl der Patienten liegt das offenbar nicht. Von Roberto Jurkschat und Dominik Wurnig

Die Zahl der Beschwerden über die Situation in Berliner psychiatrischen Stationen ist seit dem Beginn der Corona-Pandemie deutlich gestiegen. Das zeigt eine exklusive Auswertung der unabhängigen Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin (BIP) für rbb|24.

In den acht Monaten von Mitte März bis Mitte November 2020 zählte die Beratungsstelle 146 Beschwerden zu psychiatrischen Kliniken, in den acht Monaten davor waren es noch 128. Besonders deutlich stiegen Beschwerden über Zwangsunterbringungen und Zwangsmaßnahmen; die Zahl stieg von 39 auf 64. Eine Zwangsunterbringung bedeutet, dass ein Patient gegen seinen Willen in der Psychiatrie ist, eine Zwangsmaßnahme kann beispielsweise die Fixierung eines Patienten an Hand- und Fußgelenken sein.

Wie oft Berlinerinnen und Berliner in den Kliniken zwangsuntergebracht und etwa an Betten fixiert werden, darüber macht die zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit auf Anfrage von rbb|24 bisher keine Angaben. "Die Daten werden momentan im Rahmen der Evaluierung des Gesetzes überprüft", hieß es.

Mehr Beschwerden über medikamentöse Zwangsbehandlung

Nach Angaben der Beratungsstelle kommen 60 Prozent der Beschwerden direkt von Patienten, 25 Prozent von Angehörigen und 10 Prozent von Klinik-Mitarbeitern. Die Beschwerdestelle zählte bisher 33 Corona-spezifische Beschwerden, zum Beispiel weil keine Besuche erlaubt seien, Mitarbeiter abgezogen wurden oder weil in Kliniken Hygieneregeln nicht eingehalten wurden. Zu Kritik führte auch, dass bestimmte Therapieangebote wie Werkstätten während der Pandemie eingestellt wurden.

Angst vor Corona-Infektionen

Was genau hinter der Zunahme der Beschwerden steht, lässt sich nur vermuten. "Die Besuchsverbote in einigen Kliniken sind natürlich eine Belastung für viele Patienten", so eine Expertin einer Besuchskommission, die anonym bleiben möchte.

Die vom Abgeordnetenhaus gewählten Mitglieder der Besuchskommissionen sollen geschlossene psychiatrische Einrichtungen in Berlin kontrollieren.

Aus einer dieser Kommissionen heißt es, die Kliniken hätten während der Corona-Zeit festgestellt, dass Patienten bei ersten Symptomen psychischer Erkrankungen zunächst nicht in die Krankenhäuser kamen, aus Angst sich anzustecken. Viele Patienten hätten sich erst in Behandlung begeben, als sie bereits schwerer erkrankt waren. Dieses Phänomen hat sich auch schon bei anderen Krankheitsbildern während der Pandemie gezeigt.

Weniger Patienten auf Psychiatrie-Stationen

An einer möglichen Überbelegung der Berliner Psychiatrie-Stationen liegt der Anstieg der Beschwerden offenbar nicht. Für den Zeitraum März bis September meldeten Klinikträger der Senatsverwaltung für Gesundheit eine durchschnittliche Auslastung von 89,5 Prozent. Seit Mai 2020 liege die Auslastung konstant knapp unter 90 Prozent.

"Hierbei ist zu berücksichtigen, dass psychiatrische Kliniken von den Freihalteregelungen im Rahmen der Covid-19-Maßnahmen und den gebotenen Hygienekonzepten betroffen waren", erklärte eine Sprecherin der Senatsverwaltung rbb|24 auf Anfrage. Im Klartext heißt das, dass Kliniken absichtlich Reserve freihalten mussten und Mehrbettzimmer nicht voll belegt haben.

Im Vorjahreszeitraum lag die Auslastung laut Selbstauskunft der Klinikträger bei durchschnittlich 101 Prozent, also 11,5 Prozent über dem Vergleichswert für 2020.

Beschwerdezahlen laut Patientenverband nur ein Ausschnitt

Hinzu kommt, dass vorgesehene unabhängige Kontrollen nicht stattfinden: Eigentlich sollte jede Klinik mindestens einmal jährlich von der Besuchskommission - teilweise auch unangekündigt - besucht werden. Diese Besuche fanden seit Ausbruch der Pandemie kaum mehr statt. Laut einem Kommissionsmitglied wurden während der Pandemie Termine für Kontrollbesuche verschoben, Begehungen teilweise durch Videokonferenzen ersetzt.

Dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener in Berlin (BPE) zufolge geben die offiziellen Beschwerdezahlen nur einen Ausschnitt der Realität wieder. "Viele Patienten glauben nicht, dass es etwas bringt, wenn sie sich beschweren, sehr viele machen auch die Erfahrung, dass sie aufgrund ihrer psychiatrischen Diagnose nicht mehr ernst genommen werden", sagt BPE-Vorstandsmitglied Felix von Kirchbach. Über den BPE, wo an mindestens sechs Tagen pro Woche telefonische Beratungen stattfinden, steht von Kirchbach mit vielen früheren Patienten in Kontakt.

Bereits vor der Corona-Pandemie sei die Lage in den Berliner Psychiatrien angespannt gewesen. "Viele Kliniken haben einfach nicht genug Personal und viele der Pfleger sind auch nicht richtig ausgebildet", so von Kirchbach. Hinzu kämen beengte Verhältnisse in der Unterbringung. "Wenn sich dann auch Pfleger pandemiebedingt krank melden und die Patienten keine Besucher mehr sehen dürfen, kann sich die Lage schnell zuspitzen."

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