Interview | Rituale in Corona-Zeiten - "Ich kann mich fragen: Was möchte ich zum Glühen bringen?"

Do 24.12.20 | 12:57 Uhr
Die Berliner Ritualbegleiterin Sabine Deschauer (Quelle: Carmen Jasmyn Hoffmann)
Bild: Carmen Jasmyn Hoffmann

Der gemeinsame Weihnachtsmarktbesuch, große Feste im Familienkreis, Silvesterpartys - was wir sonst gemeinsam über die Feiertage machen, fällt in diesem Jahr flach. Wir sollten uns neue Rituale erfinden, sagt die Berliner Ritualbegleiterin Sabine Deschauer.

rbb: Frau Deschauer, auf viele beliebte Rituale in der Weihnachtszeit müssen wir 2020 verzichten. Gibt es dafür einen adäquaten Ersatz?

Sabine Deschauer: Nein, den gibt es nicht. Stattdessen bieten diese besonderen Zeiten die Chance, einmal genauer hinzuschauen, welche Rituale sich schon überlebt haben und zu Gewohnheiten geworden sind. Was ist mit denn wirklich wichtig? Wer ist mir wichtig? Welche Rituale und Handlungen sind es, und wie kann ich sie unter den gegebenen Bedingungen in mein Leben holen?

Es muss also nicht das volle Programm sein?

Genau. Ich beobachte in dieser Zeit bei vielen Menschen eine Überforderung damit, dass wir so vieles ersetzen wollen. Vielleicht kann das auch eine Einladung sein, zu reduzieren und Kontakte bewusst auszuwählen. Schließlich ist Weihnachten in vielen Familien konfliktbelastet, weil sie es gar nicht gewöhnt sind, so viel Zeit miteinander zu verbringen. Und jetzt, wo die äußeren Umstände es nicht zulassen, zusammen zu feiern, vermissen wir das plötzlich. (lacht) Wenn ich mich erinnere, mir alte Fotos ansehe, dann wird vielleicht klarer, an welchen Ritualen mir wirklich etwas liegt: der Gottesdienst, das Liedersingen, das Weihnachtsessen, Geschichten erzählen oder das Geschenkeauspacken. Dann kann ich gezielt überlegen, mir diese Rituale nach Hause zu holen.

Wie kann das aussehen?

Vielleicht möchte jemand, der gern schreibt, einen Jahresrückblick an die Familie verschicken. Oder ich backe Plätzchen und sende sie an alle, damit wir den Geschmack von Weihnachten gemeinsam genießen. Oder ich erstelle eine Playlist mit den Weihnachtsliedern, die für unsere Familie eine Bedeutung haben, und teile sie. Die Verbindung wird dadurch geschaffen, dass wir beliebte Dinge zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten miteinander tun – in dem Wissen umeinander. In der momentanen Situation geht es aber auch viel darum, Erwartungen loszulassen. Es wäre fatal zu denken, nur weil es nicht wie immer ist, kann Weihnachten nicht schön werden.

Welche Chancen bieten die digitalen Medien?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass darüber mehr Begegnung möglich ist als ich dachte. Sie stehen uns zusätzlich zu den klassischen Kommunikationskanälen offen: Wir schreiben einander wieder, telefonieren mehr, schicken Päckchen. Zugleich schließen wir uns in WhatsApp-Gruppen als Familien zusammen oder treffen uns zu Videochats.

Wie funktioniert das in Ihrer Familie?

Wie haben uns neulich zu einer Veranstaltung verabredet, die ich "Backen und Träumen" genannt habe. Erst haben wir uns mit sechs verschiedenen Parteien per Videocall getroffen. Ich habe ein Gedicht übers Träumen vorgelesen, über das wir uns kurz ausgetauscht haben, und dann hat jeder für sich seine Lieblingssorte Kekse gebacken. Nach eineinhalb Stunden haben wir uns noch einmal per Videokonferenz getroffen. Alle haben ein bisschen berichtet, wie es ihnen beim Backen ergangen ist, der Teig geklebt oder das vegane Rezept funktioniert hat. Jetzt verschicken wir die Kekse untereinander. Am vierten Advent werden wir uns wieder treffen – zum gemeinsamen Adventskaffeetrinken per Videokonferenz.

Meinen Sie, dass sich solche Rituale über die Corona-Zeit hinwegretten werden?

Ich denke, es wird einiges erhalten bleiben. Wir merken, wie wir Menschen anbinden können in einer Welt, in der Familien und Freunde über Stadt- und Ländergrenzen hinweg verteilt leben. Bei Trauerfeiern war es in der Vergangenheit auch oft so, dass Menschen nicht teilnehmen konnten, weil sie zu weit entfernt lebten. Heute gibt es die Möglichkeit, dass sie entweder gleichzeitig mitfeiern, wir einen Teil der Feier übertragen oder wir Symbole nutzen, um die alle wissen. Rituale haben einen wesentlichen Aspekt: Sie benötigen Vorbereitung, für die man sich auch Zeit nehmen sollte.

Haben Sie den Eindruck, dass es aktuell eine Rückbesinnung auf Rituale gibt?

Diesen Eindruck habe ich ganz stark. Rituale gab es menschheitsgeschichtlich schon immer. Sie geben der Gesellschaft Struktur und dem Individuum die Möglichkeit, sich als Teil des großen Ganzen zu fühlen. Momentan beobachte ich eine Rückbesinnung auf althergebrachte Rituale wie jahreszyklische Feiern, beispielsweise die Raunächte oder die Sonnenwende. Zum anderen gibt es zunehmend den Wunsch danach, neue selbstgestaltete Rituale zu schaffen. In der Schweiz ist die Ritualbegleiterin sogar ein Ausbildungsberuf. Dort habe ich hospitiert, bevor ich begonnen habe, selbst Ritualbegleitung anzubieten – zur Geburt eines Kindes, zu Hochzeiten, zum Ruhestand oder zur Abschiednahme.

Wie könnten Menschen den Jahreswechsel rituell angehen?

Ich empfehle einen Jahresrückblick und beispielsweise Monat für Monat aufzuschreiben, was wichtig war. Ich kann mich fragen: Was kann ich noch abschließen und was bleibt vielleicht auch unfertig zurück? Es geht auch darum, mir Dinge zu verzeihen, die sich unter den gegebenen Umständen nicht realisieren ließen und mich auszurichten für das neue Jahr. Was möchte ich zum Glühen bringen? Welche Projekte gehe ich aktiv an? Dabei kann ich mich sehr schön fragen, welche Symbole mir dabei helfen. Etwas, was ich zurücklassen möchte, kann ich auf einen Zettel schreiben und eingraben. Wenn etwas florieren soll, dann könnte ich Samen aussäen, und sie beim Keimen beobachten, je nachdem, welches Symbol und Element sich stimmig anfühlt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mit Sabine Deschauer sprach Judith Jenner für rbb|24.

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