#Wiegehtesuns? | Die Tagesmutter - "Ich war noch nie so verwirrt"

Fr 15.05.20 | 12:46 Uhr
Archivbild: Eine Tagesmutter hebt am 08.09.2017 in einer Kindertagespflege ein Kind hoch. (Quelle: dpa/Rolf Vennenbernd/)
Bild: dpa/Rolf Vennenbernd

Kurzfristig erfährt die Erzieherin Anne S., dass sie nach sechswöchiger Corona-Pause eine ganztägige Notbetreuung für ihre kleinen Tageskinder anbieten muss. Doch wer kümmert sich in dieser Zeit um ihre eigene neunjährige Tochter? Ein Gesprächsprotokoll.

Das Coronavirus stellt unser Leben auf den Kopf. In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Alltag gerade aussieht – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Anne S. aus Berlin-Charlottenburg ist Erzieherin und alleinerziehende Mutter einer neunjährigen Tochter. Täglich informiert sich die 38-Jährige darüber, welche neuen Regelungen ihre Arbeit als Tagesmutter bestimmen. Antworten auf ihre Fragen bekommt sie nur selten. So geht es Anne:

Eigentlich betreue ich als selbständige Erzieherin in einer Tagespflegeeinrichtung fünf Kleinkinder. Meine eigene 9-jährige Tochter geht sonst in dieser Zeit in die Schule und danach in den Hort. Durch die Corona-Krise fielen meine Tagesbetreuung und die Schule wochenlang aus, sodass ich mit meinem Kind zu Hause bleiben konnte.

Ich bin alleinerziehend. An diesem Mittwoch habe ich erfahren, dass ich als Tagesmutter ab nächster Woche einige meiner Tageskinder in die Notbetreuung nehmen soll. Ein Vater arbeitet von acht Uhr bis viertel vor vier in der Schule. Und auch eine Mutter muss acht Stunden täglich auf der Arbeit sein.

Das bedeutet aber für mich, dass ich meine eigene Tochter in die Notbetreuung in der Schule geben müsste. Dort kann mein Kind nach aktuellem Stand allerdings nur bis zwölf Uhr mittags bleiben. Wer kümmert sich dann um sie, wenn ich von morgens bis abends in der Tagespflege bin?

Ich habe erst überlegt, die Notbetreuung in der Tagespflege zu verweigern. Aber das ist ja gar nicht möglich. Wie sollte ich das den Eltern erklären? Jetzt hatte ich die Idee, meine Tochter mit zur Arbeit zu nehmen. Diese Lösung erscheint mir am sinnvollsten, um die Anzahl der Kontakte gering zu halten. Aber sie bringt natürlich auch Risiken mit sich. Es ist unmöglich, die kleinen Kinder untereinander und von mir fernzuhalten. Das würde auch dem Berliner Bildungsprogramm völlig widersprechen.

Wie soll ich mit der Situation umgehen, ohne die von mir betreuten Kinder, meine eigene Tochter und auch mich selbst in Gefahr zu bringen? Die Situation verunsichert mich als Fachkraft und als Elternteil. Ich kann einfach nicht einschätzen, welche Lösungen ratsam sind. Und ich bekomme auch keine verlässlichen Empfehlungen.

Jeden Morgen lese ich mir nach dem Aufstehen die aktuellen Auflagen des Senats durch. Und immer wieder bin ich überrascht, wie wenig diese in der Theorie erdachten Lösungen mit der Praxis zu tun haben. Die Schulen haben zum Beispiel am Donnerstagabend eine E-Mail mit der Mitteilung bekommen, dass der Präsenzunterricht ab Montag wieder für bestimmte Klassen starten soll. Den Kitas wurde etwa ein Infektionsschutzpakt vorgelegt, um die Umsetzung müssen sie sich selbst kümmern. Und die Tagespflegestellen sind sowieso selten Thema der Überlegungen. Das ist doch eine Unverschämtheit.

Aus meinem Kontakt mit Kollegen gewinne ich den Eindruck, dass es in anderen Bundesländern klarere Vorgaben gibt. Aber hier in Berlin entscheidet jeder Bezirk anders: Ob in Kleingruppen gearbeitet werden darf oder nicht, ob die Notbetreuung nur vier oder bis zu acht Stunden umfassen darf, ob ältere und chronisch kranke Kollegen dort eingesetzt werden sollen. Im empfinde das als eine unerträgliche Zumutung, die mich massiv ärgert. Ich denke, dass die Verantwortlichen sich mit ihren Wischi-Waschi-Anweisungen auch aus dem Schussfeld ziehen möchten. So können sie nicht haftbar gemacht werden, wenn ich mich zum Beispiel an einem Kind infiziere.

Erst neulich habe gehört, dass eine Mutter beim Amt einen Antrag auf Überforderung gestellt hat und ihre Kinder jetzt von morgens bis abends im Kindergarten betreuen lässt, während sie selbst zu Hause ist. Ich kann einfach nicht glauben, dass den Kollegen zugemutet wird, ihre eigenen Kinder wegen solcher Elternteile in die Notbetreuung zu geben.

Solange sich keine einheitliche Regelung finden lässt, sollte man weiter daran arbeiten – ohne irgendwelche Beschlüsse zu fassen, mit denen Erzieher, Pflegekräfte und andere Fachleute völlig alleine gelassen werden. Der Senat trägt eine enorme Verantwortung. Aber wir tragen diese Verantwortung mit, weil wir die Entscheidungen am Ende umsetzen müssen. Als Tagesmutter arbeite ich auf selbständiger Basis. Bisher bekomme ich mein Geld zwar noch. Aber laut Jugendamt müssen wir uns auf Rückzahlungen einstellen, weil die Tageskinder ja bisher nicht in die Betreuung kommen konnten. Wie soll ich mit dieser Information umgehen?

Die einzige sichere Erkenntnis, die ich bisher aus der Pandemiezeit mitgenommen habe, ist, dass es wichtig ist, die Hände zu waschen. Das ist der einzige Fakt, an den ich mich halten kann. Ich bin nie in meinem Leben so verwirrt gewesen wie zurzeit. Und ich habe den Eindruck, dass es vielen Menschen so geht.

Ich bin ein optimistischer Mensch und sehe es als Geschenk, dass ich solch eine intensive Zeit mit meinem Kind verbringen darf – obwohl das ein bisschen verrückt und absurd klingt in dieser Gefahrensituation. Ich bin dankbar dafür, dass ich bisher zu Hause bleiben konnte und mich nur um eine Tochter kümmern muss, die schon neun Jahre alt ist. Wir haben das bisher gut hin bekommen und ich genieße auch die Verlangsamung des Lebens seit dem Shutdown. Die Menschen drängeln nicht, sondern stellen sich geduldig an und nehmen Rücksicht.

Aber ich merke auch, dass ich mich selbst Kleinigkeiten wie eine anstehende OP jetzt besonders belasten, weil ich unterschwellig so angespannt bin. In der Schule habe ich als Elternsprecherin Kontakt zu vielen anderen Elternteilen. Deshalb weiß ich, dass die Voraussetzungen und auch die Grenzen der Belastbarkeit bei jedem anders sind. Trotzdem drehen alle langsam ein bisschen am Rad. Das ist ein katastrophaler Zustand, der wahrscheinlich noch eine Weile anhalten wird. Meinem Empfinden nach ist diese Verunsicherung schlimmer als die Angst vor der Ansteckung, die wir natürlich auch in uns tragen.

Gesprächsprotokoll: Janna Degener-Storr

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Antwort auf [Robin] vom 15.05.2020 um 13:24
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