Interview | Raul Krauthausen - "Wir werden eine Wiedereroberung des Öffentlichen brauchen"

Di 02.02.21 | 08:10 Uhr
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Raul Aguayo-Krauthausen ist ein in Berlin lebender deutscher Aktivist. (Quelle: ©Anna Spindelndreier)
Bild: © Anna Spindelndreier

Bei Corona-Impfungen spielen sie keine große Rolle: Menschen mit Behinderung, die in der eigenen Wohnung leben. Im rbb|24-Interview erklärt der Berliner Inklusions-Aktivist Raul Krauthausen, wie er das ändern will und worauf er sich in der Zeit nach Corona einstellt.

rbb: Herr Krauthausen, Sie unterstützen eine Online-Petition [change.org], die auf die besondere Lage von Hochrisikogruppen aufmerksam macht, die nicht in Pflegeeinrichtungen wohnen. Dazu zählen auch zahlreiche Menschen mit Behinderung, die von Covid-19 akut bedroht sind und in der eigenen Wohnung leben. Wurden die bei den Priorisierungsempfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) für Corona-Impfungen schlicht vergessen?

Raul Krauthausen:
Nein. Die Stiko-Empfehlung bezog sich eben nur auf Diagnosen und Erkrankungen, zu denen es eine Datenlage gibt. Seltene Erkrankungen werden eben oft gar nicht oder eben nicht frühzeitig genug beforscht. Die geringe Anzahl der betroffenen Personen bringt wenig Geld in ihrer Erforschung. Die Stiko hatte von Anfang an Einzelfallentscheidungen für diese Gruppe vorgesehen. Das Bundesministerium für Gesundheit hat diese Empfehlung aber nicht übernommen. Der Fehler liegt also beim Bundesministerium – und in einer zu versteckten Botschaft der Stiko.

Gehören Sie mit Ihrer Behinderung Osteogenesis imperfecta selbst zur Hochrisikogruppe? Wie und wo haben Sie sich da schlau gemacht?

Hier gibt es einen "Science-Bias" (wissenschaftliche Voreingenommenheit, Anmerk. d. Red.): Es gibt noch keine Erhebung/Daten, deshalb auch keine Einordnung und deshalb keinen Schutz. Aber: Es kann angenommen werden, weil Symptome ähnlich wie bei anderen evidenten Risiko-Diagnosen sind, zum Beispiel ein kleineres oder schlechtes Lungenvolumen.

Viele Menschen mit Behinderung und chronisch Kranke wissen gar nicht, ob sie besonders stark von Covid-19 bedroht sind und ob sie zu Risikogruppen gehören. Was raten Sie solchen Betroffenen? Und wo liegt hier die Verantwortung der Politik und auch des Gesundheitswesens?

Wichtig ist es, sich zu vernetzen, sich Informationen bei anderen Betroffenen, Selbsthilfegruppen einzuholen und gegebenenfalls auch Kontakt mit spezialisierten Fachärzten aufzunehmen. Die meisten medizinischen Betroffenenverbände, zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke, haben eigene medizinisch-wissenschaftliche Beiräte, die Empfehlungen herausgeben.

Grundsätzlich muss die Politik dafür sorgen, dass auch Ausnahmen berücksichtigt werden müssen. Für die Zukunft muss sie Sorge tragen, den bereits erwähnten "Science-Bias" abzustellen und Datengrundlagen zu schaffen. So müssen Minderheiten, insbesondere Menschen mit Behinderungen, aktiv bei Studiendesign und Datenerhebung berücksichtigt werden - auch wenn der Forschungsgegenstand nicht primär etwas mit Behinderung zu tun hat.

Herr Krauthausen, in Ihrem Alltag werden Sie von Assistent*innen begleitet. Welche Rolle spielen Begleitpersonen und Assistent*innen bei Impfungs-Priorisierungen? Und was machen Sie, wenn plötzlich Ihre Unterstützung wegen einer Corona-Infektion oder eine Quarantäne wegbricht?

In der selbstbeschafften Pflege wie Assistenz kann ein Ausfall von Pflegekräften oft nur schwer bis gar nicht kompensiert werden, weil keine Organisation im Sinne eines Pflegeunternehmens oder Heims dahintersteht. Es gibt keinen Backup-Plan und kein 'dann gehe ich halt morgen auf Toilette'. Gleichzeitig ist auch oft der pflegerische Aufwand höher und damit riskanter als in "gewöhnlichen" Altenheimen.

Bei der Pflege von Schwerbehinderten und von Senioren gibt es einen Unterschied: Bei Schwerbehinderten ist die ausführende Kraft oft hoch spezialisiert auf individuelle Bedürfnisse. Da ist dann ein enger, intensiver Kontakt unausweichlich. Die wichtigere Frage wäre im Übrigen: Was mache ich, wenn ich infiziert werde? Kann ich Assistenten zwingen, trotzdem zu kommen, gerade auch, weil ich keine spezielle Schutzausrüstung wie auf einer Infizierten-Station im Heim habe?

In Ländern wie Dänemark und Österreich gehören Menschen mit Behinderung zur ersten Impfgruppe. In Deutschland wurden Menschen mit Trisomie 21 oder geistiger Behinderung in die zweite Impfgruppe eingereiht. Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Herangehensweise?

Menschen mit Trisomie 21 und geistiger Behinderung sind in Deutschland von Anfang an in Gruppe zwei, da für diese eine einzige amerikanische Studie vorlag, die ein höheres Risiko bescheinigte. Wir erleben seit Jahren, dass Politik kein Bewusstsein dafür hat, dass auch intensivpflegebedürftige Menschen in der eigenen Häuslichkeit versorgt werden können und dies auch wollen.

In einem Ihrer Blogs [raul.de] geben Sie fünf Tipps, wie Menschen mit Behinderung schon bald an Impftermine herankommen könnten. So viel vorweg: Die Chancen stehen eher schlecht. Was kann man trotzdem unternehmen?

Wichtig ist, wie bereits erwähnt, sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen, sich bei Ärzt*innen schon mal ein Attest besorgen und Impfzentren zu kontaktieren. Wir Betroffenen müssen lauter sein. Wir müssen uns mehr an die Medien und Verwaltungen wenden. Aber bei all dem Kampf ist auch self-care extrem wichtig.

Manche Bundesländer, darunter Brandenburg, wollen "Clearingstellen" einrichten, die Einzelfallentscheidungen treffen sollen, also auch Menschen eine schnellstmögliche Impfung verschaffen sollen, die schwere chronische Erkrankungen haben und noch jung sind. Ist das ein aprobates Mittel? Und wie geht das Land Berlin mit diesem Thema um?

Wir glauben, dass dies der einzige richtige Weg ist, wenn man es nicht an Kriterien wie Diagnosen oder Pflegegrad fest machen will. Berlin schweigt bislang dazu. Daher haben wir einen Offenen Brief an Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci [raul.de] verfasst mit der Aufforderung, hier Klarheit zu schaffen. Wichtig ist auch, zu klären, welche Qualifikation die Clearingstellen haben. Es darf nicht enden wie beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen, bei dem von medizinisch Unkundigen nach Aktenlage entschieden wird. Die Kompetenz der Beurteilung sollte bei Fachärzten liegen. Diese müssen aufgeklärt werden und über Atteste und gegebenenfalls Nachweise sicherstellen, dass es die bekommen, die es brauchen.

Unsere Redaktion erreichen Zuschriften, aus denen hervorgeht, dass Hygienevorschriften in Werkstätten für Menschen mit Behinderung oder auch in speziellen Pflegeeinrichtungen nicht ernst genug genommen werden. Andere fühlen sich schlicht uninformiert darüber, welche Regelungen jetzt eigentlich dort gelten. Wie schätzen Sie die Situation von Menschen mit Behinderung ein, die dort arbeiten oder untergebracht sind? Gibt es auch hier Versäumnisse, so wie bei den Seniorenheimen, die oftmals viel zu spät gegen das Coronavirus geschützt wurden?

Ja, in der Tat. Es gibt keine Hygienepläne, viele Beschäftigte berichten von Lohnkürzungen und Kündigungsandrohungen, wenn sie aus Angst nicht zur Arbeit kommen. Auch fehlt es in den Werkstätten an FFP2-Masken, selbst an einer FFP2-Maskenpflicht.

Trotzdem haben diese Organisationsformen derzeit den Vorteil, dass sie über gute Organisation verfügen. Schlecht daran ist, dass durch die Ansammlung behinderter Menschen ein hohes Risiko für alle besteht und die Betroffenen schnell in eine Sippenschaft geraten, was beispielsweise das Zutrauen der Eigeneinschätzung von Risiken angeht.

Thema Arbeitsmarkt: Hat sich die ehedem schwierige Lage von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt durch die Corona- und Wirtschaftskrise nochmal verschlechtert? Liegen Ihnen dazu Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vor?

Zuletzt hat das "Handelsblatt Research Institute" im Auftrag der Aktion Mensch [aktion-mensch.de] ein Inklusionsbarometer erstellt. Demnach waren im Oktober 2020 13 Prozent mehr Menschen mit Schwerbehinderung arbeitslos als zur selben Zeit im Vorjahr. Durch die Corona-Krise hat auch die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt einen deutlichen Rückschlag erlitten.

Zum Schluss noch ein Blick in die Post-Corona-Zeit: Seit nun schon fast einem Jahr gehen sich die Menschen aus dem Weg, man bleibt auf Distanz. Wird dieser seit Monaten bei vielen auf sich selbst fokussierte Lebensstil nachhaltige Schäden im gesellschaftlichen Miteinander hinterlassen? Wird es nach Überstehen der Corona-Krise noch schwerer, sich für Inklusion, für ein solidarisches Miteinander, für Empathie und für die Belange von Menschen mit Behinderung einzusetzen?

Für viele Menschen ist der Aufbau und Erhalt sozialer Beziehungen schwieriger und aufwendiger. Viele werden nach Corona Probleme haben, dieses Netzwerk wieder zu reaktivieren. Gleichzeitig findet eine Verlagerung der Aktivitäten ins Digitale oder Private statt, was beides erhebliche Zugangshürden für Menschen mit Behinderung sind.

Positiv könnte allerdings sein, dass wir die Herangehensweise des "Ansammelns" von Menschen mit Behinderung und anderen Risikogruppen in Heimen, Werkstätten und Einrichtungen neu hinterfragen. Ein resilientes System muss und wird mehr auf ambulante und selbstbestimmte Hilfssysteme setzen.

Aber wir werden trotzdem einen Neu-Aufbau und eine Wiedereroberung des Öffentlichen brauchen. Dieser Neuaufbau kann aber auch eine große Chance für Teilhabe und Inklusion sein.

Herr Krauthausen, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Frank Preiss, rbb|24

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4 Kommentare

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  1. 3.

    Viel Kraft für Dich und Daumen hoch!

  2. 2.

    Als Angehöriger der Spezies Mensch gehört man zur riskogruppe.. Von der Geburt bis zum Tod.. Irgendwann ist auch mal gut.. Das Leben muss weitergehen..

  3. 1.

    "Dieser Neuaufbau kann aber auch eine große Chance für Teilhabe und Inklusion sein."
    Die Inklusion muß deutlich mehr gefordert werden. Und zwar von allen, die eine Exklusion als "nicht gesellschaftlich anerkannt" exkludieren wollen. Stichwort "Zivilcourage": das Meckern über jeden zu hoch stehenden Bordstein wäre sicherlich ein "funktionierender Anfang"... oder aber auch "der erfolgreiche Abschluß einer Inklusions-Debatte auf hohem Niveau".

    So manch' Sehender sieht weniger als ein Blinder.

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