Interview | Fixierungen auf psychiatrischen Stationen - "Keine Psychiatrie in Berlin hat Platz für eine ideale Behandlung"

Di 19.01.21 | 06:08 Uhr
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Petra Rossmanith von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Quelle: Thomas-Mundt
Bild: Thomas-Mundt

Alle zwei bis drei Stunden wird ein Mensch in einer Berliner Psychiatrie an ein Bett fixiert. Petra Rossmanith von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie erklärt im rbb|24-Interview, was Personalknappheit und fehlende Räume damit zu tun haben.

Petra Rossmanith ist im Vorstand der Berliner Gesellschaft für Soziale Psychiatrie. Von 2010 bis 2020 leitete sie die Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie in Berlin. Sie ist Leiterin der Therapeutischen Dienste in der Psychiatrischen Universitätsklinik im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin-Mitte. Sie war langjährig in der Wohnungslosenhilfe und im Antigewaltbereich in Berlin tätig.

rbb|24: Frau Rossmanith, in Berlin haben Ärzte in Psychiatrien im Corona-Jahr rund 3.300 Fixierungen beantragt – deutlich mehr als sonst. Warum sind die Situationen auf den Stationen so oft eskaliert?

Petra Rossmanith: Man muss hier sogar beachten, dass die Anträge auf Fixierungen gestiegen sind bei sinkenden Patientenzahlen. Die Psychiatrischen Kliniken haben während der Pandemie weniger Patienten aufgenommen, um Corona-Ausbrüche zu verhindern oder schnell eindämmen zu können. Oft sind Betroffene daher erst verhältnismäßig spät in die Kliniken gekommen, wenn es bereits schwere Krisen gab, die akut psychiatrisch behandelt werden mussten.

Hinzu kommt, dass in der Pandemie viele ambulante Angebote heruntergefahren wurden und es deutlich weniger Orte gab, an denen Menschen, die einsam waren oder Probleme hatten, sich ausreichende Unterstützung holen konnten. Durch diese Einschränkung der sozialen Kontakte, glaube ich, sind viele persönliche Krisen eskaliert.

Können Sie nachvollziehen, warum die Vereinten Nationen Fixierungen als eine Form der Folter definieren?

Jede Fixierung ist ein massiver Übergriff. Es ist eine der stärksten Einschränkungen von Grundrechten und der Bewegungsfreiheit, die es in der deutschen Rechtsordnung gibt. Personen verlieren dabei die Kontrolle über ihre Arme und Beine, können nicht mehr eigenständig trinken oder auf die Toilette gehen. Dieser Zustand kann Angst, Beklemmung bis hin zu Traumatisierungen verursachen. Wenn Menschen, die körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt haben, fixiert werden, können diese körperliche Überwältigung und die Fixierung an einem Bett retraumatisierend wirken.

Andererseits werden Fixierungen nie ohne Anlass angeordnet. Es ist meistens die letzte Möglichkeit beim Versuch, eine Selbst- oder Fremdgefährdung zu vermeiden. Das ist aber nicht immer ausschließlich mit dem Verhalten der Patienten zu erklären. Die Gründe für eine Fixierung unterscheiden sich natürlich von Situation zu Situation. Dabei spielt auch die Zahl der Pflegekräfte eine Rolle oder die Frage, ob die Stationen eigentlich ausreichend Einzelzimmer haben. Dahinter stehen zum Teil also auch politische Entscheidungen. Unter den derzeitigen Bedingungen kommt das klinische Personal jedenfalls immer wieder an die Grenzen des Machbaren.

Welche Bedingungen können dazu beitragen, dass Fixierungen stattfinden?

Wenn zum Beispiel nachts zwei Pflegekräfte auf einer Station arbeiten, dann entspricht das genau der gesetzlich vorgeschriebenen Minimalbesetzung – und in der Regel wird das auch ausreichen. Das kann sich aber ändern, sobald Konflikte auftreten. Wenn etwa eine Person aggressiv ist oder sich in die Betten anderer Patienten legt, und eine andere Person sich selbst gefährdet, weil sie Rasierklingen oder Batterien schluckt. dann kann es passieren, dass Ruhe und Zeit fehlen, um die Situationen ausreichend zu deeskalieren. Über den Notrufknopf kann weiteres Personal von anderen Stationen hinzu gerufen werden. Aber dieses Personal muss ja irgendwann auch wieder zurück auf die anderen Stationen. Und auch wenn die Polizei zur Unterstützung gerufen wird, ist es bisweilen die letzte Möglichkeit, eine sich selbst oder andere gefährdende Person zu fixieren.

Neben der Personalausstattung sind die räumlichen Bedingungen zu bedenken. Der Senat hat mit dem Psychiatrieentwicklungsprogramm im Jahr 1997 den Umzug psychiatrischer Kliniken in allgemeine Krankenhäuser beschlossen. Damit wurden die meisten der großen psychiatrischen Anstalten aufgelöst. Das war ein wichtiger Schritt, weil damit die Psychiatrie entstigmatisiert wurde. Die Patienten waren dann Patienten in einem Krankenhaus und nicht in einer psychiatrischen Anstalt.

Allerdings waren die Gebäude der allgemeinen Krankenhäuser nicht gut als psychiatrische Stationen geeignet. Es gibt beengte Stationen, zum Beispiel in der vierten Etage in einem Klinikgebäude. Viele Patienten werden für mehrere Wochen untergebracht und können sich nicht selbständig nach draußen bewegen. Ich kenne keine Psychiatrie in Berlin, die optimale bauliche Voraussetzungen für eine psychiatrische Behandlung erfüllt. Und das trägt auch zur Entstehung von kritischen Situationen auf den Stationen bei.

Können Sie diese Konflikte, die zu Fixierungen führen, beschreiben?

Die Situationen, in denen Menschen fixiert werden, und das Verhalten der Personen sind unterschiedlich. Es fängt oft damit an, dass Patienten den Kopf immer wieder gegen die Wand hauen oder versuchen sich umzubringen, oder dass sie sexuell übergriffig oder aggressiv sind. Die Pflegekräfte versuchen dann, die Situation zu beruhigen und zu deeskalieren.

Wenn es sich um gewalttätiges Verhalten gegenüber anderen handelt, dann kann es auch helfen, eine Person vorübergehend in einem Einzelzimmer zu isolieren. Wenn es sich um einen Konflikt zwischen zwei Patienten handelt - Auslöser können zum Beispiel rassistische oder religiöse Motive sein oder einfach die psychische Situation der Person, dann gibt es manchmal die Möglichkeit, die Menschen auf verschiedenen Stationen unterzubringen, so dass sie sich nicht über den Weg laufen. Oft eskalieren die Situationen aber trotz dieser Maßnahmen weiter, in solchen Momenten kann das Personal sich genötigt sehen, die Person vorübergehend zu fixieren.

Wie gut sind die Pflegekräfte in Nachtschichten denn auf aggressive Patienten vorbereitet?

Es kommt teilweise schon zu massiven Verletzungen von Pflegepersonal. Das kann auch passieren, wenn mehrere Pflegekräfte in einer Situation involviert sind oder auch in Anwesenheit der Polizei. Wobei Polizisten andere Ausrüstung haben und anders ausgebildet sind. Eine Klinik ist ja in erster Linie eine therapeutische Einrichtung. Die Situationen sind zum Teil sehr bedrohlich.

Oft bringt die Polizei die Personen nach massiven körperlichen Auseinandersetzungen, entweder im Wohnumfeld, mit den Beziehungspartnern und Partnerinnen, mit Nachbarn - teilweise auch mit Waffen. Teilweise kommen Menschen mit der Polizei schon in Handschellen oder auf einer Liege fixiert in die Klinik. Es sind häufiger auch Personen, die intoxikiert sind, durch Alkohol oder Drogen. In der Regel wird erstmal in der Rettungsstelle versucht zu deeskalieren. Und in sehr, sehr vielen Fällen funktioniert das auch schon, dass sich die Menschen in der Rettungsstelle von den Pflegekräften und vom ärztlichen Personal beruhigen lassen. Aber je massiver und akuter die Gefährdung ist, umso häufiger sieht sich das Klinikpersonal zum Schutze aller Beteiligten gezwungen, die Fixierung, mit der die Polizei begonnen hat, erstmal auch in der Klinik beizubehalten.

Gewalt kann unter dem Einfluss von Drogen oder in bestimmten Krisensituationen teilweise sehr unberechenbar und plötzlich herausbrechen. Vorsicht und auch Angst sind deshalb durchaus berechtigt.

Würden Sie sagen, dass manche sehr aggressiven und intoxikierten Personen besser in Polizeigewahrsam bleiben sollten?

Es ist tatsächlich eine wichtige Frage, wo Menschen gut aufgehoben sind, die aufgrund von Alkohol oder Drogen intoxikiert sind, die sich auffällig und aggressiv verhalten, vielleicht selbst- oder fremdgefährdend sind. Viele schlafen sich aus und werden am nächsten Tag entlassen, weil keine psychiatrische Indikation vorliegt. Die Frage ist dann: Ist die Betreuung dieser Menschen wirklich eine Aufgabe der Klinik? Und dann wäre da nochmal die Frage: Wie müsste die Klinik dafür ausgestattet sein?

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führten Dominik Wurnig und Roberto Jurkschat.

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2 Kommentare

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  1. 2.

    Einen Mensch, der streben möchte aufzuhalten, ist nur ein Spiel auf Zeit.
    Und wenn man diesen Beitrag liest , kann man wirklich hoffen, niemals in eine Psychiatrie eingeliefert zu werden. Es treibt mir die Tränen in die Augen, wie hier mit Menschen umgegangen wird. Es gibt im Fernsehen Dokumentationen, wo heimlich in Psychiatrien gefilmt wurde. Schrecklich diese Zustände.

  2. 1.

    Da kann man nur beten, dass man nicht irgendwann einmal zum "Goldenen Reiter" wird. Aus meiner Sicht kann es jeden treffen. Aber psychisch Kranke haben keine Lobby in unserer pathologisch neoliberalen Leistungsgesellschaft.

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