Interview | ARD-Korrespondentin in Frankreich - "In Paris versuchen wir jetzt, mit dem Virus zu leben"
In Berlin liegt die Sieben-Tage-Inzidenz derzeit bei knapp 66, in der französischen Metropole Paris bei 343 - Tendenz steigend. Trotzdem sind Schulen und Geschäfte geöffnet. Eingeschränkt sind die Menschen eher durch eine Ausgangssperre und die Enge der Stadt.
rbb24: Frau Wachs, Sie sind Hörfunk-Korrespondentin der ARD in Paris. Bekommen Sie mit, wie sich die Situation in Sachen Corona in Deutschland entwickelt?
Sabine Wachs: Ja, ich lebe in Paris direkt am Canal Saint Martin. Das ist eigentlich ein wunderschönes Kneipen- und Gastroviertel, wo ganz viel los ist. Aber hier ist es momentan natürlich coronabedingt sehr ruhig. Trotzdem bin ich relativ oft in Deutschland, weil mein Mann in Deutschland lebt. Das heißt, ich verfolge auch die Situation in Deutschland sehr genau und vergleiche sie auch mit der in Paris.
Kann man die Städte Berlin und Paris Ihrer Meinung nach gut vergleichen? Mit dem Umland ist Paris ja deutlich größer.
Man kann Paris und Berlin durchaus vergleichen. Doch im Vergleich ist Berlin eine Stadt mit immens viel freier Fläche. Die Stadt ist wesentlich grüner und es gibt viel mehr Natur. In Paris ist es ziemlich eng. Hier schaut man immer auf die nächste Hauswand, weil die Stadt so dicht bebaut ist. Die Menschen leben also auf sehr engem Raum. Es gibt zwar Grünflächen – also Parks. Und es gibt auch große Parks wie den Jardin du Luxembourg. Aber das sind eher Ausnahmen. Und auch die werden morgens auf- und abends wieder zugesperrt. Im Moment sind sie wegen der strikten Ausgangssperre ab 18 Uhr zu.
Zudem ist günstiger Wohnraum in Paris relativ knapp und Wohnen daher wesentlich teurer als in Berlin. Ich selbst wohne auf 60 Quadratmetern – das ist für Pariser Verhältnisse eine relativ große Wohnung. Da wohne ich allein und partiell zu zweit, wenn mein Mann da ist. Doch in meinem Haus sind die Wohnungen alle in dieser Größe und fast alle meine Nachbarn haben ein bis zwei Kinder.
Ein Großteil der Menschen lebt also auf deutlich engerem Raum als die Menschen in Berlin. Daher haben auch alle das Bedürfnis, nach draußen zu gehen. Das war im ersten, sehr strengen Lockdown für viele sehr schwierig, weil man ja nur mit Passierschein raus durfte. Jeder durfte nur für eine Stunde am Tag im Umkreis von einem Kilometer aus dem Haus. Das war für viele die einzige Möglichkeit zum Luftschnappen. Es gibt hier auch nicht viele Balkone an Wohnungen und wenn, sind das die typischen französischen Balkone, wo man sich gerade mal draufstellen kann. Dass hier Menschen in der Innenstadt einen Garten haben, ist auch sehr selten.
Hat sich denn die Situation inzwischen für die Pariser verbessert? Sie haben ja gerade schon die Ausgangssperre erwähnt.
Wir sind in ganz Frankreich ab 18 Uhr abends beeinträchtigt. Ab dann müssen wir zu Hause sein. Wenn man allein lebt, ist das nicht immer einfach, denn dann hat man ab 18 Uhr keine sozialen Kontakte mehr. Nur wer eine Ausnahmegenehmigung hat, um zum Arzt zu gehen, den Hund Gassi zu führen oder von der Arbeit nach Hause zu fahren, darf sich dann noch draußen bewegen. Die Supermärkte und auch alle anderen Geschäfte, der Einzelhandel ist in Paris ja geöffnet, machen um 18 Uhr dicht. Wer also tagsüber arbeitet und nicht vor 18 Uhr zum Einkaufen kommt, muss sich da andere Möglichkeiten suchen. Hier liefern beispielsweise viele Supermärkte jetzt auch bis 22 Uhr.
Haben Sie bis auf die Ausgangssperre insgesamt gar nicht viele Einschränkungen?
Es gibt tatsächlich sonst nicht so irre viele Einschränkungen. Alle Geschäfte unter 10.000 Quadratmetern Größe sind offen. In Paris zumindest. Man kann also auch mal shoppen gehen, wenn man das gern möchte. Es gilt allerdings eine Maskenpflicht überall in ganz Paris – auch in den Parks oder den Ufern der Seine. In manchen Pariser Vierteln und Straßen gibt es auch ein Alkoholverbot auf der Straße. Bars und Cafes, die offiziell zwar geschlossen sind, machen aber dennoch Fensterverkauf. Und so hatten sich bei schönem Frühlingswetter vielerorts dann doch Grüppchen mit einem Bierchen in die Sonne gesetzt.
Wie läuft das denn mit den Schulen in Paris?
Die Schüler gehen hier relativ normal zur Schule. In einigen Mittelschulen und Gymnasien gibt es noch Wechselunterricht, aber der Großteil der Schüler – von der Vorschule, die in Frankreich mit drei Jahren anfängt, bis zu den Abiturienten – geht seit dem Ende der Sommerferien ganz normal zur Schule. Frankreich hatte zwar von Mitte November bis Mitte Dezember einen zweiten Lockdown – doch auch in der Zeit wurden die Schulen nicht wieder geschlossen. Es gibt natürlich strenge Hygienevorschriften in der Schule. Alle Schüler ab sechs Jahren müssen im Unterricht und auch auf dem Pausenhof Masken tragen.
Wenn es mehr als drei Corona-Fälle in einer Klasse gibt, wird diese Klasse geschlossen. Allerdings wohlgemerkt nicht die komplette Schule. Es sind also immer hunderte Klassen pro Woche, die geschlossen sind. Das funktioniert ganz gut. Seit dem Ende der Skiferien Anfang März hat die Regierung angefangen, kostenlose freiwillige Spucktests für die Grundschüler anzubieten – vor allen Dingen dort, wo die Inzidenz besonders hoch ist. Aber auch anderen Schüler haben die Möglichkeit sich kostenlos testen zu lassen.
Nur zum Verständnis: Die französischen Kinder gehen in voller Klassenstärke und den ganzen Tag in die Schule? In Berlin kommt ein Grundschüler zurzeit auf maximal drei Schulstunden Präsenzunterricht (im Wechselmodell) täglich.
Ja, die Kinder kommen in voller Klassenstärke in die Schulen. Es gibt hier einen ganz normalen Schulbetrieb. Von halb neun am Morgen bis in den Nachmittag. Die Schulen bieten auch verschiedene Freizeitangebote an. Hobbys haben französische Kinder ja eher nicht, weil sie ja den ganzen Tag in der Schule sind. Es gibt nachmittags Sport-AGs, die dürfen stattfinden. Es findet auch Sportunterricht statt. Im Freien ohne Maske, in der Turnhalle für die älteren Schüler dann mit Maske.
Wenn die Kinder in voller Klassenstärke da sind, wie können sie denn in den Räumen mit dem nötigen Abstand sitzen? Hier in Deutschland heißt es meist, dafür seien die Kassenräume zu klein.
Das was da zu hören ist, ist, dass Kinder durchaus teilweise einen Tisch auf dem Gang haben. Aber auch Turnhallen und deren Nebenräume werden genutzt. Man versucht mit kreativen Mitteln die Kinder auseinanderzuziehen. Man sucht sich die Räume, die man braucht.
Haben sich die offenen Schulen denn als Pandemie-Treiber erwiesen?
Nein, haben sie nicht. Es gab jetzt ganz aktuell eine Studie vom Institut Pasteur hier in Frankreich, das ist das Äquivalent zum RKI. Dort wurde nachgewiesen, dass vor allem die Grundschulen keine Pandemie-Treiber sind. Bei den weiterführenden Schulen waren sie sich nicht ganz einig. Aber so, wie wir die Situation in Frankreich erleben und wie die Regierung sie einschätzt, tauchen in den Schulen natürlich immer wieder Infektionen auf. Doch durch die Hygienemaßnahmen wie das Tragen von Masken und auseinandergestellte Tische ist die Infektionslage in den Schulen nicht sehr gravierend. Meist werden die Infektionen auch von außen in die Schulen getragen. Das heißt, Kinder, Eltern oder Schulpersonal stecken sich im eigenen Umfeld an. Aber wir haben nicht erlebt, dass große Infektionscluster da entstehen, wo Schulen geöffnet sind.
Frankreich im Allgemeinen und Paris im Speziellen hat ja – gerade, wenn man aus Deutschland oder Berlin hinschaut - eine immens hohe Inzidenz. Berlin liegt bei einer 7-Tages-Inzidenz von 65 und in Paris lag sie bei etwa 339 am Donnerstag.
Ja, und heute, am Freitag, sind wir bei einer Inzidenz von 343. Sie steigt also. Das beunruhigt viele Menschen. Viele – vor allem ältere und gefährdetere - Menschen sind jetzt noch vorsichtiger als sonst. Sie versuchen, so wenig wie möglich raus zu gehen. Aber auf der anderen Seite geht das Leben hier einfach so gut es geht weiter. Wer zur Arbeit muss, fährt auch mit den vollen Metros. Die Leute gehen spazieren. Jeder versucht, Abstand zu halten. Aber das ist sehr schwierig.
Kommen denn die Impfungen gut voran?
Es hat schleppend angefangen, aber mittlerweile haben über vier Millionen Franzosen ihre erste Impfdosis und zwei Millionen ihre zweite erhalten. Am ersten Märzwochenende gab es in Frankreich eine große Impfoffensive – da wurden in Krankenhäusern, Impfzentren und von Hausärzten rund 600.000 Menschen geimpft. Das geschah vor dem Hintergrund, dass bestimmte Impfstoffe nur eine bestimmte Haltbarkeit haben und die irgendwann abläuft. Seit Anfang dieser Woche dürfen auch Hausärzte und ab dem 15. März dann auch Apotheken impfen.
Deutschland ringt ja noch immer mit einer schlüssigen Teststrategie. Wie sieht es da in Frankreich aus?
Hier gibt es seit November schon Schnelltests und auch in fast allen Apotheken kann man welche machen. Oft auch ohne Termin und kostenlos. Auch für PCR-Tests in privaten Laboren, bei Ärzten oder Testzentren muss man nichts zahlen. Hier in Paris gibt es auch an zwei Bahnhöfen Teststationen, wo man sich testen lassen kann. Frankreich testet pro Woche mehr als 2,5 Millionen Menschen.
Denken Sie, dass es noch einmal zu einem strikten Lockdown kommen könnte?
Danach wurde ja schon gerufen aus den Gebieten mit sehr hohen Inzidenzen. Die französische Regierung hat aber entschieden, dass es keinen strikten landesweiten Lockdown geben wird. In manchen Regionen wie der Côte d’Azur gibt es derzeit aber Wochenend-Ausgangssperren. Da sind dann auch die Geschäfte bis auf die Supermärkte geschlossen und man darf sich nur mit triftigem Grund auf der Straße aufhalten. Es heißt immer: Ein nationaler Lockdown solle vermieden werden. Er sei das allerletzte Mittel. Man versucht, das durchzuhalten und mit einer offensiven Impfstrategie gegenzusteuern. Sodass die Intensivstationen möglichst nicht überlastet werden. Wobei das in einigen Departements doch schon der Fall ist.
Wer machts denn jetzt besser - Deutschland oder Frankreich?
Wahrscheinlich wäre eine Mischung das perfekte Modell. Im ersten Lockdown habe ich mich schon öfter nach Deutschland gewünscht. Vor allem wegen der Freiheit, sich frei an der frischen Luft zu bewegen. Zurzeit gehen die beiden Länder einfach sehr unterschiedliche Wege. Ich fühle mich hier wohl und habe nicht den Eindruck dass es hier wesentlich schlimmer ist als in Deutschland. Die derzeitige französische Strategie, auch wenn die Inzidenz sehr hoch ist, ist einfach ein anderer Versuch: In Paris versuchen wir jetzt - wie in ganz Frankreich - mit dem Virus zu leben.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb24