Interview | "Freilerner"-Vater zu Home-Schooling - "Eltern sollten sich nicht zu sehr in die Rolle des Lehrers begeben"
Nach über einem Jahr Corona-Pandemie sind die Schulen weiterhin im Ausnahmezustand. Es bleibt noch immer viel an den Eltern hängen. Das sorgt für Streit. Ein fünffacher Vater aus Österreich verrät, was man von seiner "Freilerner"-Familie lernen könnte.
rbb|24: Herr Remus, Sie haben eine Professur für Wirtschaftsinformatik an der Universität Innsbruck inne. Warum können wir mit Ihnen auch über das Thema Schule und das sogenannte Freilernen sprechen?
Ulrich Remus: Zum einen aus meinem Privatleben heraus. Denn ich habe fünf Kinder im Alter von eineinhalb bis 14 Jahren, die selbstbestimmt zuhause lernen. Dadurch habe ich extrem viel Erfahrung. Auch damit, wie unterschiedlich Kinder lernen. Und wie gut und motiviert es ihnen gelingen kann, selbständig zu lernen.
Zum zweiten habe ich von Berufs wegen auch die Erfahrung in der Wissenschaft. Bei der Gestaltung und Steuerung von großen Software-Projekten ist Motivation das Riesenthema. Ohne motivierte Mitarbeiter kommt man zu keinem guten Ergebnis, um es mal ganz platt zu sagen. Und da betreibe ich seit vielen Jahren Forschung. Also dazu, wie man Menschen motiviert bekommt.
Da landet man immer wieder beim Thema selbstbestimmtes Lernen. Denn auch in diesen Wissenschaftsprojekten geht es um Lernen und um die Fähigkeit, den eigenen Lernprozess autonom zu steuern. Denn wer das kann, ist auch als Mitarbeiter extrem motiviert. Diese Perspektive lässt sich zwar in der Erwachsenenbildung verorten, doch vieles ist auf Kinder übertragbar.
Ich unterrichte zudem auch Schulabgänger. Da sehe ich, wie sie aus der Regelschule rauskommen - und ich sehe auch, was der Arbeitsmarkt fordert. Das sind teilweise diametrale Positionen. Bei vielen Schulabgängern ist es schwierig, sie für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Denn in der Schule war jahrelang gefordert, still zu sitzen und zu tun, was anliegt. Der Arbeitsmarkt fordert dann Selbständigkeit und Zusammenarbeit mit anderen. Das sind Dinge, die man in der Schule nicht lernt. Da gibt es wenig Kooperation, da herrscht Egoismus und man wird ständig bewertet. Erwünscht von Arbeitgebern ist aber, dass jemand kreativ ist, Verantwortung übernimmt, in der Gruppe arbeiten und sich selbstständig schnell in Themen einarbeiten kann.
Wie kam es dazu, dass Ihre Kinder zuhause lernen?
Als wir ins Ausland gehen wollten, weil mir eine Gastprofessur angeboten wurde, wollte die Schule unsere Kinder nicht freistellen. Wir konnten aber für die betreffenden Monate Hausunterricht anmelden. In diesem halben Jahr fand ich es extrem interessant zu sehen, wie sich die Kinder entwickelten. Jedes Kind hat sich, außerhalb der festen Strukturen, spannend weiterentwickelt. Das hat uns allen gutgetan. Und über die Jahre hat sich erwiesen, dass das wirklich sehr gut funktioniert.
Anders als in Deutschland ist das ja in Österreich erlaubt.
Nein, es ist so auch nicht in Österreich erlaubt. Home-Schooling ist erlaubt. Aber selbstbestimmtes Lernen nicht. Die Home-Schooler müssen den Lehrplan erfüllen und der wird im Rahmen von Externistenprüfungen abgefragt. Aber Freilerner sind keine Home-Schooler. Das sind zwei komplett unterschiedliche Schuhe. Beim Home-Schooling macht man Schule zuhause. Die ganze schulische Struktur wird übertragen. Da sind die Eltern dann die Lehrer, die den Kindern den Stoff vermitteln.
Das ist beim Freilernen ganz anders. Da wird die Motivation vom Kind selbst gestartet. Man macht als Eltern natürlich Angebote, hilft und ist Mentor – aber man ist nicht Lehrer. Aber, wie gesagt, erlaubt ist das nicht und wir haben dieselben Probleme wie die Freilerner in Deutschland – mit Gerichtsverhandlungen und so weiter. Das ist sehr schade. Aber in den Behörden und allen anderen Institutionen herrschen eben tradierte Vorstellungen von Schule.
Home-Schooling befürworte ich gar nicht wirklich. Ich denke, es ist, wenn man den Lehrplan erfüllen will, besser, wenn jemand mit der entsprechenden Profession die Rolle des Lehrers übernimmt. Sonst vermischt sich das alles. Mit dieser Doppelrolle zurecht zu kommen, ist nicht einfach. Deshalb gibt es derzeit ja auch so viele Probleme beim Homeschooling.
Aber Sie und Ihre Frau sorgen doch anscheinend dann auch dafür, dass das Wissen irgendwie zum Kind kommt, wenn es sich für ein Thema interessiert?
Ja, selbstverständlich. Sobald da ein Interesse da ist, füttern und unterstützen wir das. Aber das Lernen erfolgt vom Kind aus.
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Eine meiner Töchter hat sich jetzt sehr für Mathematik interessiert. Da haben wir ihr ganz viele Bücher besorgt und sie unterstützt. Das sind ganz intensive Lernepisoden – unsere Kinder lernen oft in wenigen Monaten das, wofür andere Jahre brauchen. Das gilt beispielsweise auch für das Lesen. Das haben sich meine Kinder jeweils dann innerhalb von ein paar Wochen selbständig angeeignet. Das lief sogar ganz ohne Input von uns Eltern. Jedes unserer Kinder hat das zu einem anderen Entwicklungszeitpunkt gelernt. Mein kleiner Sohn hat mit sechs Jahren schon gelesen, meine große Tochter erst mit zehn. Vorher hat es sie nicht interessiert.
Aber ich muss wirklich sagen, alle meine Kinder sind sehr wissbegierig, leihen sich mit großer Freude Bücher in Büchereien aus. Und das ist genau das, was man lernt, wenn man die Kinder laufen lässt: dass sie von Natur aus extrem wissensdurstig sind. Jedes auf eine andere Weise. Unsere Kinder haben auch vielfältige Sozialkontakte, machen Sport und die großen spielen zwei Instrumente.
Das erfordert aber zum einen viel Vertrauen und auch viel Zeit – denn wenn das Interesse aufpoppt muss ja auch jemand da sein, der liefert?
Das stimmt beides. Tatsächlich arbeitet meine Frau nicht. Sie ist zuhause und für die Kinder da.
Wenn der Freilerner-Ansatz jetzt auch sehr weit vom Home-Schooling entfernt scheint – gibt es Dinge, die Home-Schooling-Eltern trotzdem mitnehmen können, um besser klarzukommen?
Das Wichtigste ist, sich nicht zu sehr in die Rolle des Lehrers zu begeben. Es könnte mehr Sinn machen, den Kindern zu vermitteln, dass das Lernen jetzt ihre Sache ist. Ihnen dafür die Verantwortung zu übertragen – und ihnen dafür auch den Raum geben. Die Eltern könnten eher eine Art Coaching-Rolle einnehmen. Trotzdem sollen und können sie natürlich helfen. Aber vor allem sollte man den Druck rausnehmen. Denn viele Kinder und ihre Eltern sind ja von dem derzeitigen Anspruch total überfordert.
In eine selbstverantwortliche Haltung müssen sich die Kinder dann aber auch erstmal einfinden. Es könnte Sinn machen, am Morgen routineartig zu klären, was für den Tag ansteht – und sie dann selbst machen lassen. Und erst am Abend wieder zu schauen, was sie geschafft haben. Aber es gibt kein Allheilmittel. Also keine "fünf Tipps, mit denen das Home-Schooling gelingt". Denn die Kinder sind ja seit vielen Jahren im Regeschul-System und dort sozialisiert und auch manipuliert. Sie sind es gewöhnt, ganz anders zu lernen.
Viele werden sich auch mit meinen Tipps erstmal querstellen und damit nichts anfangen können. Aber keine Sorge, kein Kind wird mehr als zwei Wochen nur auf dem Sofa liegen.
Es sei denn, es hätte freien Zugang zum Internet…
Richtig. Das ist dann die Verantwortung der Eltern. Da geht es ja, wenn das Internet nur als Ablenkung und Entertainment benutzt wird, um Suchtgefährdung. Aber auch wenn ein Kind da mal mehr macht, ist es wichtig, ein offenes Verhältnis zu haben. Damit man in Kontakt bleiben kann. Das Schlimmste ist, wenn man nicht mehr im Dialog ist. Wenn Kinder abdriften, gerade, wenn sie ihr eigenes Smartphone haben. Man sollte schon schauen, dass der "ungute" Medienkonsum nicht überhandnimmt.
Wie können Freilerner-Kinder ohne reguläre Schullaufbahn und die entsprechenden Qualifikationen ins Berufsleben starten?
Es gibt überall, sowohl in Deutschland als auch in Österreich, die Möglichkeit, Externisten-Prüfungen zu machen. So kann man alle Schulabschlüsse nachmachen, das ist gar kein Problem. Das ist für die meisten Freilerner auch gar kein Ding. Sie haben ja gelernt, sich selbständig Stoff anzueignen. Und was sie lernen, sitzt auch.
Was könnte man gestressten Corona-Eltern im Home-Office samt Home-Schooling noch mitgeben?
Der Schlüssel ist die Haltung zum Kind. Nehme ich mein Kind als leeres Gefäß wahr, das ich nach meinem Geschmack fülle und forme - oder akzeptiere ich, dass es ein eigenständiger Mensch ist? Damit fängt das – lange vor Schulbeginn – an. Das ist für viele Eltern schwierig, weil wir alle anders sozialisiert sind.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
Sendung: Kulturradio, 06.05.2021, 18:10 Uhr