Interview | Armutsbeauftragter Diakoniewerk Simeon - "Anderthalb Jahre Corona-Krise haben Armut verstärkt sichtbar gemacht"

Mo 21.06.21 | 18:06 Uhr | Von Georg-Stefan Russew
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Hermannplatz Berlin-Neukölln. (Quelle: imago-images/Arnulf Hettrich)
Bild: imago-images/Arnulf Hettrich

Etwa 16,4 Prozent der Menschen in Berlin gelten als arm. Damit liegt die Hauptstadt über dem Bundesdurchschnitt. Warum die Corona-Krise die Armut noch verschärft hat, erklärt der kirchliche Armutsbeauftragte Thomas de Vachroi. Von Georg-Stefan Russew

rbb|24: Herr de Vachroi, woran machen Sie eine verstärkte Armut in Berlin fest?

Thomas de Vachroi: Auf den Straßen Berlins gibt es aktuell in Mitte oder um den Stuttgarter Platz herum und anderen Hotspots extrem viele Menschen, die unter Brücken campieren. Es gibt auch sehr, sehr viele Menschen, die betteln müssen.

Gerade in den öffentlichen Verkehrsmitteln wie U- und S-Bahnen hat dieses Phänomen stark zugenommen. Bereits während der Finanzkrise 2008/09 war das zu beobachten. Danach ist das wieder abgeflaut. Verstärkt wird auf den Strecken von und zum Ostkreuz und auf der Strecke von und zur Warschauer Straße um Kleingeldspenden gebeten. Das liegt unter anderem daran, dass die Stadtmission hier verstärkt arbeitet und die Menschen dort hinwollen.

Zur Person

Thomas de Vachroi (Quelle: dpa)
dpa

Thomas de Vachroi (61) ist Armutsbeauftragter des Diakoniewerks Simeon sowie des Evanglischen Kirchenkreises Neukölln. Für die Neuköllner CDU nimmt er zudem das Amt des Sozialbeauftragten wahr und leitet das Diakonie-Hauses Britz.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach, dass dies zurzeit wieder vermehrt zu beobachten ist?

Anderthalb Jahre Corona-Krise haben sich wie ein Turbo ausgewirkt und die Armut verstärkt sichtbar gemacht. Wir haben es in der ersten Corona-Welle stark gemerkt und in der zweiten und dritten Welle hat das so richtig reingehauen. Das sehen wir vor allem auch am Zulauf zu den Tafeln. Bundesweit nutzen mittlerweile 1,4 Millionen diese Einrichtungen. Explizite Erhebungen für Berlin gibt es aktuell nicht.

Viele Mini-Jobs wie etwa in der Gastronomie sind durch Corona weggebrochen. Der Wegfall wird auch nicht durch Kurzarbeitergeld ausgeglichen. Gerade ältere Menschen sind auf Zuverdienst angewiesen. Natürlich sind auch die Selbständigen nicht zu vergessen. Gerade aus dieser Gruppe haben mich viele Anrufe erreicht.

Was definieren Sie als arm?

Arm ist eindeutig, wenn sich die Menschen wirtschaftlich nicht mehr versorgen können, wenn sie aufgrund unzureichender finanzieller Ressourcen nicht mehr in der Lage sind am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das betrifft Arbeitslose, Hartz-IV-Empfänger bis zu den Rentnern. Arm ist, wer weniger als 781 Euro netto im Monat zur Verfügung hat. Die Armutsgefährdung fängt bereits bei 1.074 Euro netto an.

Gibt es Indizien dafür, dass die vermehrte Armut auch zu einer Konkurrenz untereinander führt?

Es gibt Revierkämpfe. Das merkt man bei bestimmten Hotspots in bestimmten Parkanlagen. Der Tiergarten ist sehr prädestiniert dafür, wenn dort viele Menschen unterwegs sind und ihr Leergut abstellen. Ein ähnliches Bild ergibt sich am Reichstagsgebäude, wo die Menschen wirklich auf die stehengelassenen Flaschen zu rennen und um sie kämpfen.

Es ist die echte Existenznot der Menschen, die sie auf die Straßen treibt. Es müssen auch nicht immer obdachlose Menschen sein, die Straßenzeitungen in U-Bahnen verkaufen oder um Kleingeldspenden in S-Bahnen betteln. Das Thema Miete und Wohnungsmarkt ist an der Verschärfung der Armut in Berlin nicht ganz unschuldig. Was ich zudem aktuell beobachte, ist, dass immer mehr Frauen auf der Straße leben.

Viele Menschen trauen sich nicht, in direkten Kontakt mit Bedürftigen zu treten, die betteln. Sollte man das überhaupt tun?

Viele obdachlose Menschen sind oft einsam, isoliert. Neben Kleingeld hilft ihnen auch das Gespräch, wenn sie sich einfach mal ernstgenommen fühlen, wenn man ihnen mal sein Ohr schenkt. Das ist ungemein wichtig. Aber man sollte dabei sehr behutsam mit ihnen umgehen. Viele fürchten Menschen, haben Angst vor Behörden und nehmen deshalb auch oft Hilfsangebote nicht an.

Aktuell ist es bei der enormen Hitze wichtig, bettelnden Menschen Wasser zugeben. Denn nicht nur die Wintermonate sind heftig zu überstehen für obdachlose Menschen. Auch Hitzewochen, wie wir sie jetzt haben, sind für die Leute auf der Straße eine Katastrophe. Von daher ist fast schon überlebenswichtig, diesen Menschen Kleingeld oder volle Wasserflaschen zukommen zu lassen. Alle Einrichtungen sind aufgerufen, jetzt auch ihre Kleiderkammer aufzumachen, damit die Leute was zum Anziehen und Wechseln haben. Wir sind glücklich, dass die Tee- und Wärmestuben in Neukölln wieder aufhaben, dass die Menschen wieder duschen können.

Wie kann ein Weg aus der Armut aussehen?

Notwendig dafür wäre, dass sich die unterschiedlichen Gruppen in Berlin zusammenschließen. Bislang hat jeder Bezirk sein eigenes Konzept zur Armutsbekämpfung. Ich würde vorschlagen, dass wir in der Hauptstadt ein zentrales Obdachlosenzentrum aufbauen und es in Neukölln ansiedeln. Hier gäbe es einen zentralen Anlaufpunkt. Man könnte die Leute dort beschäftigen, dass sie mindestens ein Jahr dableiben können, um wieder ins zivile Leben zurückkehren zu können.

Bestehende Angebote könnten das gar nicht leisten, fast rund um die Uhr mit den Leuten zu arbeiten. Dafür reichen die Kapazitäten nicht. In so einem berlinweiten Zentrum gäbe es ganz andere Möglichkeiten. Ich habe mir so ein System in Utrecht in den Niederlanden angesehen. Die Träger werden dort zu 100 Prozent vom Staat finanziert. Das hat mir sehr gefallen, weil die personell sehr gut aufgestellt sind, die auch die Zeit haben, intensiv mit den Bedürftigen zu arbeiten.

Was würden Sie sich darüber hinaus wünschen?

Es wäre gut, wenn es einen Armutsbeauftragen beim Land und beim Bund gibt, der sich für die Belange der Betroffenen einsetzt. In der Flüchtlingskrise, als es einen zentralen Koordinator gab, hat das Modell sehr gut funktioniert. Ich würde mir wünschen, dass es im Land ein zentrales Spendenlager gäbe. Einrichtungen bekommen manchmal so viel, dass sie nicht wissen, wohin damit. Wir brauchen ein System wie in der Flüchtlingskrise zur Versorgung der Obdachlosen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Georg-Stefan Russew, rbb|24.

 

Sendung: Inforadio, 21.06.2021, 14:00

Beitrag von Georg-Stefan Russew

19 Kommentare

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  1. 19.

    Schere zwischen Arm + Reich so groß wie nie.
    Immer mehr Armut.
    Immer mehr Millionäre.
    Reiche Gewinner der Krise.
    Arme + Kinder Verlierer der Krise.
    Was sagt Merkel dazu???

  2. 18.

    Im Regierungsviertel ist die Diversität, die man dem Volk gern verordnet, offenbar nicht erwünscht.
    Die Armut soll vermutlich in den Armenvierteln bleiben.

  3. 16.

    "Ein ähnliches Bild ergibt sich am Reichstagsgebäude, wo die Menschen wirklich auf die stehengelassenen Flaschen zu rennen und um sie kämpfen."
    Kritik wäre an die Regierung Merkel zu richten. Denn Geld ist ja da, um in Deutschland die Armut zu bekämpfen. Für was die Regierung Merkel Geld ausgibt, kann man jeden Tag in der Zeitung lesen.

  4. 15.

    Die Obdachlosigkeit und Armut im eigenden Land war auch schon vor Corona ein Problem ist nur durch Corona stärker im Focus getreten. Es hat sich auch durch Zuwanderung geändert und nun soll man doch nicht so tun als wenn das alles nicht bekannt ist.
    Herr de Vachoi spricht das aus was die Tatsache ist.
    Das ist ein riesen Problem.
    Der Senat und der Bund haben Geld um den BER finaziell zu helfen aber für dieses Problem ist nichts da.
    Deutschland und insbesonder Berlin was ja nur durch Länderfinantzausgleich über die Runden kommt, sollten sich was schämen .

  5. 14.

    Löhne und Gehälter auszuhandleln ist die Sache zwischen Arbetgeber und Arbeitnehmern, da ist die Politik außen vor, sie kann lediglich den gesetzlichen Mindestlohn festlegen.
    Komischerweise, wenn die Arbeitnehmer mal streikenn wollen, um ihre Löhne und Arbeitsbedinungen zu verbessern, dann regen sich jedesmal viele Kommentierenden darüber auf.

  6. 11.

    Lt. Obdachlosenzählung sind ca. 60 % aus dem Ausland. Diese könnten in ihre Herkunftsländer zurück gebracht werden und Druck auf die entsprechenden Herkunftsländer ausgeübt werden. Ebenfalls sind viele offensichtlich Alkohol- und/oder Drogensüchtig, dort ist es schwierig Angebote zu machen ohne die Mitarbeit der Betroffenen. Und die immer größer werdende Gruppe der HartzIV-Bezieher, die immer mehr Zuschüsse ohne irgendeine Gegenleistung bekommt, wird von Menschen mitfinanziert die nach einem harten Arbeitstag kaum mehr als diese im Portemonnaie haben. Diese Arbeitnehmer haben auch nicht das Geld für Urlaub oder soziale Teilhabe, nur das stört keinen. Stattdessen sollen die die Arbeiten immer länger arbeiten und auch noch möglichst auf Urlaubstage verzichten.

  7. 10.

    Also ganz ehrlich gesagt liegt es auch an den niedrigen Löhnen und Gehältern die im Unterschied zu anderen Bundesländern gezahlt werden. Wer als Arbeiter hier in Vollzeit schuftet und keine Ersparnisse hat , der kann nach Feierabend am Daumen lutschen. Obwohl hier SPD und Die Linken an der Macht sind! Das Problem muss die Bundespolitik regeln. Sollte die CDU/CSU weiter regieren gibt es weiter Puderzucker für den Popo der Unternehmer, bis alles am Tropf hängt.

  8. 9.

    Nur wenn Sie die Rentenzuschüsse mitzählen, die ja nur über das Versagen des Umlageverfahrens hinwegtäuschen sollen.

  9. 8.

    Dann versucht mal jemand, Lösungen zu präsentieren, ist es auch nicht richtig. Diese totschlagargumente in den Kommentaren nerven. Das kann jeden Menschen treffen, wir sollten mehr aufeinander acht geben. Mir fallen da noch mehr Themen-Beauftragte ein, an denen es mangelt. Ich würde sie anstelle der überdurchschnittlichen Vielzahl an Staatssekretären einsetzen.

  10. 7.

    Eigentlich gehört das Obdachlosen-Zentrum ins Regierungsviertel.
    Dort können dann auch Getränke + Speisen ausgegeben werden.
    Aber man lässt die Leute scheinbar lieber an den Bahnhöfen verelenden.
    Armes Deutschland!!!

  11. 6.

    geniale erkenntnis - wo hat rrb in den letzten jahren reagiert???
    ist wohl alles nicht auf corona zu schieben, auch wenn das viele gerne so sehen.

    gruß

  12. 5.

    Es kommt immer darauf an wo Platz bzw. Freiflächen sind und die findet man in Steglitz/ Zehlendorf selten. Also nicht immer auf diesen Bezirk Meckern. Ach so, auch hier gibt es Plätze für Obdachlose und Asylsuchende. Nur zu ihrer Info.

  13. 4.

    Der einzig gute Gedankengang in diesem Artikel, ist der, die Obdachlosen an Arbeit ranzuführen. Aber ich glaube die meisten von denen wollen das gar nicht. Arm im Vergleich zu anderen Ländern ist doch bei uns keiner. Bei unseren sozialen Netzen! Fast die Hälfte des Bundeshauhalts geht für Soziales drauf!

  14. 3.

    Also ich bin nicht sicher ob es eine gute Idee ist alle Obdachlosen in einem Bezirk zu konzentrieren. Utrecht hat übrigens weniger Einwohner als der Bezirk Mitte.

  15. 2.

    Aber natürlich, das Obdachlosenzentrum in Neukölln ansiedeln. Andere Bezirke sind dafür zu schade? Warum kann man das nicht zum Beispiel in Zehlendorf ansiedeln? Passt es den vornehmen Herrschaften dort nicht?

  16. 1.

    Ein Armutsbeauftrager wird das Problem sicherlich nicht lösen.
    Wie kann es sein, dass die Deutsche Hauptstadt eine Armutsquote von 16,4% hat???
    Und bitte nicht immer alles auf Corona schieben!
    Es ist ja im Großen + Ganzen nichts schiefgelaufen.

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