Sozialverbände in Sorge - Wie Corona die Lage der Ärmsten verschärft

Di 29.06.21 | 06:16 Uhr | Von Carmen Gräf
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Ein Mann greift im Berliner Bezirk Mitte in einen Mülleimer, Archivbild (Quelle: DPA/Wolfram Steinberg)
Bild: DPA/Wolfram Steinberg

Die Corona-Pandemie trifft arme Menschen besonders hart. Unterstützende Stellen sind oftmals überlastet, viele Ämter geschlossen. Viele soziale Verbände schlagen Alarm und fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Von Carmen Gräf

Emil Sommer, der in Wirklichkeit anders heißt, gehört zu den vielen Verlierern der Corona-Pandemie. Er verlor seinen Job in der Gastronomie und lebte vorübergehend auf der Straße. Dann hatte er endlich eine Wohnung in Aussicht. Dafür brauchte er jedoch eine Genehmigung vom Jobcenter. Dieses war während des Lockdowns jedoch für ihn nicht erreichbar - so bekam er die Wohnung nicht und lebt heute in einer Unterkunft für Obdachlose.

So wie Emil Sommer geht es vielen. Behörden gingen in den Lockdown - Betroffene fühlten sich im Stich gelassen. Das bestätigen eine wissenschafltiche Stellungnahme der Alice-Salomon-Hochschule und eine Umfrage der Landesarmutskonferenz Berlin. 16 Einrichtungen in Berlin und Brandenburg wurden befragt - das sind mehr als ein Fünftel ihrer Mitglieder - aus der Wohnungsnotfallhilfe, der Kinder- und Jugendhilfe, der allgemeinen Sozialberatung und aus ehrenamtlichen Unterstützungsangeboten.

Rückfälle in Sucht, Überforderung von Familien, insbesondere Frauen"

Das Ergebnis: Die Mitarbeitenden dieser Einrichtungen sind chronisch überlastet, weil sie immer mehr hilfsbedürftige und arme Menschen betreuen müssen. Exakte Zahlen sollen dazu noch erhoben werden. Derzeit gelten 16,3 Prozent der Menschen in Berlin als arm - mehr als im Bundesdurchschnitt.

"Wir mussten noch nie so viel tun, um den Folgen der Pandemie zu begegnen", sagte Nicole Trielow vom Netzwerk Alleinerziehender Lichtenberg bei einer Online-Konferenz am Montagabend, bei der auf Einladung der Landesarmutskonferenz Vertreter:innen der Wohlfahrtsverbände und der Sozialpolitik anwesend waren. "Das, was von den Behörden nicht bearbeitet wurde, nahm dramatische Auswüchse an. Unseren Klienten drohten Kündigungen und Räumungsklagen", so Nicole Trielow weiter. "Solche zugespitzten Fälle landeten bei uns in der Beratung."

Viele von Armut betroffene Menschen wendeten sich an die Sozialverbände, weil ihnen die Schließung von Ämtern und Behörden zu schaffen machte. Sie konnten keine finanzielle Leistungen oder Unterlagen, die sie brauchten, beantragen. Vor allem Älteren, Migrantinnen und Migranten und Menschen mit mangelnder Schulbildung fiel es schwer, die Online-Alternativen wahrzunehmen. "Weil der Zugang zu Bezirksämtern, Jobcentern und Gerichten erschwert war, stagnierten viele Hilfeprozesse," berichtete der Leiter der Berliner Stadtmission, Achim Wurster. "Psychotherapien mussten aufgeschoben werden. Das Ergebnis: Rückfälle in Sucht, Überforderung von Familien, insbesondere Frauen."

Keine Schutzausrüstung für Streetworker

Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, bestätigte das: "Leute sind durch das Raster gerutscht. Viele junge Menschen wurden nicht mehr von der Jugendberufsagentur beraten. Da werden Armutskarrieren begründet." Antje Trölsch von Berliner Tafel sagte: "Wir haben die ganze Zeit durchgearbeitet auf dem Berliner Großmarkt. Die Tafel hat mehr Kunden als vor Corona". Zeit, genaue Zahlen zu erfassen, bleibe jedoch nicht.

"Die Pandemie macht Schwachstellen im System sichtbar, die schon vorher da waren und verstärkt diese", sagte Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hochschule. Als Konsequenz fordert sie gemeinsam mit der Landesarmutskonferenz Pandemieschutzpläne für Berlin und Brandenburg. "Denn nach Corona ist vor Virus XY."

Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) berichtete, dass es am Anfang der Pandemie keine Schutzausrüstung gegeben habe. Man bräuchte diese jedoch für Menschen, die nicht im Homeoffice arbeiten können. Etwa Mitarbeitende der Kältehilfe oder Streetworker und Streetworkerinnen.

Jobcenter in Köpenick blieb in Kontakt mit den Kunden

Sandra Born von der Arbeitsgruppe Kinderarmut des Bezirksamtes Lichtenberg betonte: Um Armutskarrieren zu beenden, bräuchte man Mentoring- und Patenschaftsprogramme wie etwa Schuldnerberatungen an Schulen, um die Finanzkompetenz der Jugendlichen zu stärken. Kinderarmut und Bildungsbenachteiligung müssten bekämpft werden, da Kinder und Jugendliche Leidtragende der Pandemie seien.

Außerdem forderte die Landesarmutskonferenz: Nicht nur Behörden, sondern auch freien Träger müssten als systemrelevant eingestuft werden. Politik und Behörden dürften sich nicht abschotten. Persönliche Beratung müsste auch während eines Lockdowns gewährleistet sein. "Wenn ich im Supermarkt einkaufen darf, muss auch persönliche Beratung mit den entsprechenden Hygienemaßnahmen möglich werden", so Susanne Gerull von der Alice-Salomon-Hochschule.

Mehtab Caglar vom Jobcenter Köpenick zeigte auf, wie das geht: "Unser Haus war nie geschlossen. Wenn ein Kunde persönlichen Kontakt gesucht hat, haben wir uns diesem Kontakt angenommen. Wir sind zum Teil auf die Straße gekommen. Wir haben Service-Hotlines eingerichtet und versucht, gleich am nächsten Tag zurückzurufen."

Ein Beispiel, das nicht repräsentativ ist für die Berliner und Brandenburger Behörden und das dennoch zeigt, wie viel möglich ist mit Engagement und gutem Willen. Die Landesarmutskonferenz Berlin forderte: "Pandemiebekämpfung darf der Staat nicht auf die Wohlfahrtspflege abwälzen."

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Beitrag von Carmen Gräf

16 Kommentare

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  1. 15.

    Ich habe mal einem jungen Mann dabei geholfen, wieder auf die Beine zu kommen und kontaktierte als Betreuer das Amt. Glauben Sie mir, ich hatte weder eine Durchwahlnummer noch einen Ansprechpartner, der irgendwie mit mir außerhalb von irgendwelchen Terminen reden wollte. Nein, ich kann nichts Positives über das Jobcenter erzählen, die Menschen reagierten auf den jungen Mann abweisend, die Beratung erschien mir zu Ungunsten des Betroffenen und alles was er hätte wissen müssen, wurde ihm vorenthalten. Menschen mit tiefen Abstürzen werden abserviert, kommen nicht zu Wort und ihre Geschichte will keiner hören. Scham kommt hinzu und schon sind sie draußen, raus aus dem System. Es interessiert niemanden. Ich denke, es ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit, Tom.

  2. 14.

    Mal ganz sachlich. Jedem wird geholfen, wenn er es will. Es gibt sogar Sozialarbeiter, die helfen einem, wenn man mit der Bürokratie nicht klarkommt. Man muss wirklich nur um Hilfe bitten. Das ist das Problem, manche schämen sich, manche wissen nicht, was alles möglich ist und manche resignieren und geben auf. Aber es ist nur ein einziger Schritt notwendig. Nämlich, um Hilfe bitten. Unser Sozialsystem ist besser als viele denken. Aber es erfordert immer den ersten Schritt. Soziale Einrichtungen, wo man fragen kann, gibt es überall.

  3. 12.

    Wie wäre es mal mit Eigenverantwortung? Wieso sollen immer Behörden und Ehrenamtliche es richten? Seit Jahren wird gejammert das die Alten bei der Tafel Unterstützung bräuchten. Dann macht man Aufrufe wie erfüllend dieses Ehrenamt ist und man dies zum Ausgleich nach der Arbeit machen könnte. Was ist mit den tausenden Tafelnnutzern ohne Jobs die angeblich auf die Tafel angewiesen sind, keine Zeit? Sozialleistungen sollten, soweit möglich, nur noch gegen Leistungen oder ernsthaftes Bemühen um einen Job erfolgen. Außerdem wundert es wie man seine Wohnung verlieren kann. Ich kenne einige die vermieten und da heißt immer, das dauert ewig bis man jemanden raus hat.

  4. 11.

    Wenn drei Weiber fünfmal den langen Gang zur Kaffeeküche rennen wird das nichts ."
    Manche Beiträge hier sind eigentlich nur mit der Hitze erklärbar.

  5. 10.

    ich arbeite sogar in zwei Arbeitsstellen und trotzdem reicht es nicht. Alleine kann ich die Miete nicht stemmen und es ist keine Schande wenn man deswegen zum SOZ geht.
    Dein Kommentar ist einfach nur arrogant , pomadig und überheblich.

  6. 9.

    Sie scheinen für Ihre Wohnung ja auch hart zu arbeiten, wenn Ihnen das Sozialamt eine besorgen muss...

  7. 8.

    Also verallgemeinern kann man das nicht. Ich arbeite bei einem Gericht und selbst im harten Lockdown letztes Jahr war immer ein Teil der Mitarbeiter vor Ort und somit live und telefonisch erreichbar.
    Dass von oben die Anordnung kam, dass die Anwesenheit so zu reduzieren ist, dass nur eine Person pro Zimmer arbeiten darf, war ja nicht die Entscheidung der Mitarbeiter und die können auch nichts dafür, dass wir noch nciht per Home Office arbeiten können. Im Gegenteil haben sie dann teilweise monatelang mehr gearbeitet, um das alles aufzuarbieten.

  8. 7.

    Nun ja, für einen Menschen, der plötzlich obdachlos und arbeitslos ist, ist vielleicht ein bisschen schwierig, ständig per Telefon (auch Handy will bezahlt sein) oder E-Mail (unter der Brücke schlafen,aber Laptop unterm Arm) Kontakt aufzunehmen, da muss eben einfach auch jemand vor Ort erreichbar sein. Zumal es Menschen geben soll, die noch keinen Internet-Anschluss haben (und auch nicht wollen)

  9. 6.

    Na klar, weil in allen Behörden ja auch nur Weiber arbeiten (denn nur die gackern und trinken den ganzen Tag Kaffee, die Kerle schuften sich statt dessen zu Tode) auch die Vorgesetzten- die einschreiten könnten - natürlich alles nur Weiber... Toll dass wir mit der Frauenquote schon so weit sind! (Ironie off)

  10. 5.

    Wie kann dies sein, wo wir doch die beste Kanzlerin aller Zeiten haben?
    Ebenso erzählen sämtliche Politiker*innen tagein tagaus von Solidarität, Gerechtigkeit und Zusammenhalt.
    Aber die Schere zwischen Arm und Reich wächst weiter???
    Und bitte auch nicht immer wieder erzählen, Corona verschärfe die Lage der Armen. Es ist die Regierung mit ihren Gesetzen. Man könnte die Lage ja ändern, wenn man dies wollte.
    Aber Milliarden gibt's nicht für jeden.
    Nein, nein, nein.
    Im top-bezahlten Homeoffice super durch die Pandemie.
    Als Politiker keine Einkommensverluste.
    Die Armen können ja zusehen, wo sie bleiben.
    Im Regierungsviertel sind sie ja nicht zu sehen.

  11. 4.

    Ich bin selbst Mitarbeiter in einem Berliner Jobcenter. Auch unser Haus hatte für Notfälle durchgehend geöffnet. Bei allen anderen Anliegen lief der Kontakt zu den Menschen über Email und Telefon oder über die anderen digitalen Angebote des Jobcenter. Überwiegend berichten uns die Menschen, dass sie mit unserer Arbeit in der Pandemie sehr zufrieden sind, weil wir mit allen möglichen Mitteln die Anliegen so schnell wie möglich erledigen konnten. Rückmeldungen gab es auch, dass wir noch nie so schnell waren wie aktuell.
    Ich vermute in dem Bericht steckt nur die halbe Wahrheit. Was hier berichtet wird, kann ich nicht bestätigen.

  12. 3.

    Danke für solche Artikel!
    Die Linke enttäuscht mich sehr in Sachen Corona.

  13. 2.

    Dieser Beitrag macht sprachlos obwohl die entstandene Situation nicht nur voraussehbar war, sondern vermutlich auch nicht ganz vermieden werden konnte.
    Dass aber die behördlichen Helfer die Lage als Vorwand nutzen um sich zu verbarrikadieren oder in Home Office zu flüchten verschlägt einem die Sprache.
    Offensichtlich verstehen sich die Staatsbediensteten mehrheitlich nicht mehr als Helfer und Diener sondern als eine privilegierte Schicht mit Anspruch auf Versorgung und Sicherheit. Anders kann ich mir die aktuelle Entwicklung nicht erklären.
    Viele Menschen in vielen Berufen haben während der Pandemie weiter gearbeitet weil es notwendig war und nicht anders ging. Aber warten wir, es ab. Wenn im Beitrag geschildertes Verhalten Schule macht, vielleicht sitzen bei nächster Pandemie Rettungssanitäter und Feuerwehrleute im Home Office.

  14. 1.

    Die Geschichte kann so nicht stimmen. Es gab doch Kurzarbeitergeld oder bei Kündigung Arbeitslosengeld.
    Ich hätte mich die ganze Nacht im Wohnungsamt hingesetzt damit ich den Schein bekomme und die Wohnung. Wenn die Polizei gekommen wäre ja was dann? die können nichts machen.
    Ich habe mich vor vier Jahren im Sozialamt in die Ecke gesetzt und gesagt ich gehe erst wenn ich eine Wohnung oder Zimmer habe, das hat funktioniert.
    Die Bürogratie in Berlin ist so umständlich und die Mitarbeiter faul und langsam, die brauchen keine angst zu haben um ihre Arbeit. Wenn man beim Amt sitzt hört man doch das Gegacker hinter den Türen, die sollten mal richtig arbeiten dann würde das auch schneller gehen. Wenn drei Weiber fünfmal den langen Gang zur Kaffeeküche rennen wird das nichts .

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