Indikator für Corona-Maßnahmen - Weshalb man nicht nur auf die Hospitalisierungs-Inzidenz schauen sollte
3, 6, 9 – die Grenzwerte sind kinderleicht zu merken. Doch alles andere am Indikator der Hospitalisierungs-Inzidenz ist kompliziert und lässt eine Menge Fragen offen. Ein Erklärungsversuch von Haluka Maier-Borst.
Die Grundidee macht Sinn: Mehr Menschen sind gegen das Coronavirus geimpft. Diese Menschen erkranken seltener schwer. Entsprechend bedeuten die reinen Inzidenzwerte inzwischen etwas anderes als zum Anfang der Pandemie. Doch die Hospitalisierungs-Inzidenz als den neuen, zentralen Indikator zu etablieren, war eine unglückliche Entscheidung. Und das hat mehrere Gründe:
1. Der Zeitverzug zwischen Ansteckung und Einweisung
Die Zeit ist wahrscheinlich einer der Faktoren, der es uns so schwierig macht, das Corona-Virus zu bekämpfen. Während bei einem Brand oder einer Flut unmittelbar auf das Eintreten der Katastrophe auch der Schaden folgt, ist das beim Virus anders. Wenn sich jemand ansteckt, braucht es Zeit, bis das Virus sich im Körper ausbreitet und er oder sie erkrankt. Es braucht Zeit, bis er oder sie einen Verdacht hat und sich testen lässt. Es braucht Zeit, bis das Testergebnis vorliegt, bestätigt und gemeldet wird. Und so braucht es auch Zeit, bis man sieht, was gerade passiert. Oder besser gesagt: vor einer Woche passiert ist. Das ist auch der Grund, weshalb selbst bei drastischen Maßnahmen wie Lockdowns es eine Woche dauerte, bis der Effekt sich in den Zahlen widerspiegelte.
Durch das Schauen auf die Hospitalisierung-Inzidenz anstatt der reinen Inzidenz kommt nochmal mehr Zeitverzug in Spiel. Nämlich die Zeit, die vergeht, bis einige der Infizierten schwer erkranken und ins Krankenhaus müssen. Die Entscheidung für die Hospitalisierungs-Inzidenz als Indikator war also automatisch immer eine, die eine größere Verspätung und längere Reaktionszeiten in Kauf nahm.
Im Gegenzug sollte der Indikator präziser sein. In einer zunehmend geimpften Bevölkerung ist nicht mehr jede Infektion ist ein Problem, sondern eine Infektion bei jenen, die eine Behandlung in der Klinik benötigen. Doch nun zeigt sich, dass eben das Mehr an Präzision nicht das Weniger an Zeitverzug aufwiegt.
Schuld daran ist auch, dass sich die Politik nicht an der Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI) orientierte. Das hatte nämlich vorgeschlagen, gewissermaßen als Ausgleich für den Zeitverzug, sehr niedrige Grenzwerte zu nehmen. Die Stufen waren 1,5 und 5 Covid-Krankenhaus-Einweisungen pro Woche und pro 100.000 Menschen [rki.de]
2. Der Zeitverzug durch verspätete Meldungen
Das andere Zeitproblem liegt nicht in der Natur des Krankheitsverlaufs, sondern im Meldewesen. So benutzt das RKI für die Berechnung seiner Hospitalisierungs-Inzidenz das sogenannte Meldedatum. Das ist der Tag, an dem ein Gesundheitsamt von einem positiven Fall zum ersten Mal erfährt. Da es aber mitunter dauert, bis dieser Fall ins Krankenhaus kommt, sind für den aktuellen Tag per se die Hospitalisierungs-Zahlen zu niedrig. Denn nicht jeder positive Fall mit schwerem Verlauf ist eben ab Tag Eins in der Klinik.
Hinzu kommt dann noch, dass Ärztinnen und Ärzte unterschiedlich schnell die Hospitalisierungen mitteilen. Die einzelnen Bundesländer nutzen unterschiedlich gut funktionierende Meldesysteme. Und bei Überlastung sind Meldungen das erste, was hinten runter fällt.
All das führt dazu, dass in der Vergangenheit die aktuelle Hospitalisierungs-Inzidenz mitunter nur halb so hoch angegeben wurde, als sie eigentlich lag. Auf das Problem hatten schon im Sommer zum Beispiel "Zeit Online" [zeit.de], "Der Spiegel" [spiegel.de] und NDR [ndr.de] hingewiesen. Das RKI hat diese Problematik bestätigt und auch ausgeführt, dass es zwischen den Bundesländern erhebliche Unterschiede in der Größe der Datenlücke gibt. Während in Niedersachsen noch weitgehend zeitnah Meldungen einfließen, gibt es zurzeit in Sachsen erhebliche Verzögerungen.
Kurzum: Der aktuelle Wert ist durch den Meldeverzug und die unvollständigen Daten immer niedriger als die Werte der vorangegangenen Tage. Eben weil Korrekturen und Nachmeldungen noch fehlen. Die Folge sieht für Berlin und Brandenburg dann zum Beispiel so aus:
Unabhängig von der tatsächlichen Lage kommen zu den Daten der schon länger zurückliegenden Tage weitere Meldungen hinzu. Die Kurve bekommt dadurch – kurz vor dem Ende der Linie – einen Katzenbuckel. Es sieht stets so aus, als würde die Lage sich entspannen, wenn in Wahrheit schlicht Zahlen für die neuesen Tage fehlen.
rbb|24 versucht dies in den Daten auszugleichen, mit einem Verfahren, das zum Beispiel auch "Zeit Online" [zeit.de] nutzt. Gezeigt werden nur die "eingefrorenen" Werte in derselben Kurve, also für jeden Tag nur den Wert, der an diesem Tag selbst ausgegeben wurde. Zusätzlich, um den Meldeverzug und seinen Effekt zu skizzieren, zeigen wir die Kurve mit Nachmeldungen für die letzten sieben Tage. So ist die Größenordnung der Unterschätzung sichtbar, ohne dass aufwändige Prognosen bemüht werden müssen.
3. Nichtbeachtung der aktuellen Lage auf der Intensivstation
Schließlich bleibt noch eine weitere Krux an der Hospitalisierungs-Inzidenz: Sie spiegelt nur wieder, wie viele Covid-Fälle neu in Klinken eingewiesen werden. Nicht aber wie viele Fälle bereits auf der Intensivstation und der Normalstation liegen. Ist das Krankenhaus aber schon voll, kann auch eine kleiner Zuwachs an Fällen ein Problem darstellen.
Nun kann man einwenden, dass natürlich nicht nur Fälle beständig neu in die Klinik kommen, sondern zum Glück Menschen auch gesund (oder zumindest gesünder) entlassen werden. Oder, im schlechteren Fall, im Krankenhaus versterben und so ein Bett frei wird. Trotzdem bleibt das Grundproblem bestehen: Wenn die Hospitalisierungs-Inzidenz nur knapp über der Zahl an Patient:innen liegt, die wieder entlassen werden, kann auch das über Wochen zu Problemen führen.
Das RKI und auch andere Experten mahnen daher, nicht nur auf die Hospitalisierungs-Inzidenz zu schauen, sondern auch auf die Auslastung der Klinken und die herkömmliche Inzidenz. Das erfüllt zwar nicht den Wunsch nach einer einfachen Kennzahl für die Lage der Pandemie, den die Politik gerne hat - aber es wird der komplexen Lage gerecht.
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