Indikator für Corona-Maßnahmen - Weshalb man nicht nur auf die Hospitalisierungs-Inzidenz schauen sollte

Do 25.11.21 | 11:48 Uhr
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Hospitalisierungsinzidenz ist ein Indikator mit erheblichem Zeitverzug
Bild: rbb|24

3, 6, 9 – die Grenzwerte sind kinderleicht zu merken. Doch alles andere am Indikator der Hospitalisierungs-Inzidenz ist kompliziert und lässt eine Menge Fragen offen. Ein Erklärungsversuch von Haluka Maier-Borst.

Die Grundidee macht Sinn: Mehr Menschen sind gegen das Coronavirus geimpft. Diese Menschen erkranken seltener schwer. Entsprechend bedeuten die reinen Inzidenzwerte inzwischen etwas anderes als zum Anfang der Pandemie. Doch die Hospitalisierungs-Inzidenz als den neuen, zentralen Indikator zu etablieren, war eine unglückliche Entscheidung. Und das hat mehrere Gründe:

1. Der Zeitverzug zwischen Ansteckung und Einweisung

Die Zeit ist wahrscheinlich einer der Faktoren, der es uns so schwierig macht, das Corona-Virus zu bekämpfen. Während bei einem Brand oder einer Flut unmittelbar auf das Eintreten der Katastrophe auch der Schaden folgt, ist das beim Virus anders. Wenn sich jemand ansteckt, braucht es Zeit, bis das Virus sich im Körper ausbreitet und er oder sie erkrankt. Es braucht Zeit, bis er oder sie einen Verdacht hat und sich testen lässt. Es braucht Zeit, bis das Testergebnis vorliegt, bestätigt und gemeldet wird. Und so braucht es auch Zeit, bis man sieht, was gerade passiert. Oder besser gesagt: vor einer Woche passiert ist. Das ist auch der Grund, weshalb selbst bei drastischen Maßnahmen wie Lockdowns es eine Woche dauerte, bis der Effekt sich in den Zahlen widerspiegelte.

Durch das Schauen auf die Hospitalisierung-Inzidenz anstatt der reinen Inzidenz kommt nochmal mehr Zeitverzug in Spiel. Nämlich die Zeit, die vergeht, bis einige der Infizierten schwer erkranken und ins Krankenhaus müssen. Die Entscheidung für die Hospitalisierungs-Inzidenz als Indikator war also automatisch immer eine, die eine größere Verspätung und längere Reaktionszeiten in Kauf nahm.

Im Gegenzug sollte der Indikator präziser sein. In einer zunehmend geimpften Bevölkerung ist nicht mehr jede Infektion ist ein Problem, sondern eine Infektion bei jenen, die eine Behandlung in der Klinik benötigen. Doch nun zeigt sich, dass eben das Mehr an Präzision nicht das Weniger an Zeitverzug aufwiegt.

Schuld daran ist auch, dass sich die Politik nicht an der Empfehlung des Robert-Koch-Instituts (RKI) orientierte. Das hatte nämlich vorgeschlagen, gewissermaßen als Ausgleich für den Zeitverzug, sehr niedrige Grenzwerte zu nehmen. Die Stufen waren 1,5 und 5 Covid-Krankenhaus-Einweisungen pro Woche und pro 100.000 Menschen [rki.de]

2. Der Zeitverzug durch verspätete Meldungen

Das andere Zeitproblem liegt nicht in der Natur des Krankheitsverlaufs, sondern im Meldewesen. So benutzt das RKI für die Berechnung seiner Hospitalisierungs-Inzidenz das sogenannte Meldedatum. Das ist der Tag, an dem ein Gesundheitsamt von einem positiven Fall zum ersten Mal erfährt. Da es aber mitunter dauert, bis dieser Fall ins Krankenhaus kommt, sind für den aktuellen Tag per se die Hospitalisierungs-Zahlen zu niedrig. Denn nicht jeder positive Fall mit schwerem Verlauf ist eben ab Tag Eins in der Klinik.

Hinzu kommt dann noch, dass Ärztinnen und Ärzte unterschiedlich schnell die Hospitalisierungen mitteilen. Die einzelnen Bundesländer nutzen unterschiedlich gut funktionierende Meldesysteme. Und bei Überlastung sind Meldungen das erste, was hinten runter fällt.

All das führt dazu, dass in der Vergangenheit die aktuelle Hospitalisierungs-Inzidenz mitunter nur halb so hoch angegeben wurde, als sie eigentlich lag. Auf das Problem hatten schon im Sommer zum Beispiel "Zeit Online" [zeit.de], "Der Spiegel" [spiegel.de] und NDR [ndr.de] hingewiesen. Das RKI hat diese Problematik bestätigt und auch ausgeführt, dass es zwischen den Bundesländern erhebliche Unterschiede in der Größe der Datenlücke gibt. Während in Niedersachsen noch weitgehend zeitnah Meldungen einfließen, gibt es zurzeit in Sachsen erhebliche Verzögerungen.

Kurzum: Der aktuelle Wert ist durch den Meldeverzug und die unvollständigen Daten immer niedriger als die Werte der vorangegangenen Tage. Eben weil Korrekturen und Nachmeldungen noch fehlen. Die Folge sieht für Berlin und Brandenburg dann zum Beispiel so aus:

Unabhängig von der tatsächlichen Lage kommen zu den Daten der schon länger zurückliegenden Tage weitere Meldungen hinzu. Die Kurve bekommt dadurch – kurz vor dem Ende der Linie – einen Katzenbuckel. Es sieht stets so aus, als würde die Lage sich entspannen, wenn in Wahrheit schlicht Zahlen für die neuesen Tage fehlen.

rbb|24 versucht dies in den Daten auszugleichen, mit einem Verfahren, das zum Beispiel auch "Zeit Online" [zeit.de] nutzt. Gezeigt werden nur die "eingefrorenen" Werte in derselben Kurve, also für jeden Tag nur den Wert, der an diesem Tag selbst ausgegeben wurde. Zusätzlich, um den Meldeverzug und seinen Effekt zu skizzieren, zeigen wir die Kurve mit Nachmeldungen für die letzten sieben Tage. So ist die Größenordnung der Unterschätzung sichtbar, ohne dass aufwändige Prognosen bemüht werden müssen.

3. Nichtbeachtung der aktuellen Lage auf der Intensivstation

Schließlich bleibt noch eine weitere Krux an der Hospitalisierungs-Inzidenz: Sie spiegelt nur wieder, wie viele Covid-Fälle neu in Klinken eingewiesen werden. Nicht aber wie viele Fälle bereits auf der Intensivstation und der Normalstation liegen. Ist das Krankenhaus aber schon voll, kann auch eine kleiner Zuwachs an Fällen ein Problem darstellen.

Nun kann man einwenden, dass natürlich nicht nur Fälle beständig neu in die Klinik kommen, sondern zum Glück Menschen auch gesund (oder zumindest gesünder) entlassen werden. Oder, im schlechteren Fall, im Krankenhaus versterben und so ein Bett frei wird. Trotzdem bleibt das Grundproblem bestehen: Wenn die Hospitalisierungs-Inzidenz nur knapp über der Zahl an Patient:innen liegt, die wieder entlassen werden, kann auch das über Wochen zu Problemen führen.

Das RKI und auch andere Experten mahnen daher, nicht nur auf die Hospitalisierungs-Inzidenz zu schauen, sondern auch auf die Auslastung der Klinken und die herkömmliche Inzidenz. Das erfüllt zwar nicht den Wunsch nach einer einfachen Kennzahl für die Lage der Pandemie, den die Politik gerne hat - aber es wird der komplexen Lage gerecht.

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19 Kommentare

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  1. 19.

    "Fakt ist es, dass es aufgrund bevorstehender Bundestagswahlen Zuviel gelockert wurde (...)"
    Finden Sie, oder glauben Sie zu wissen? Ich kann das nicht beurteilen, ich weiß auch nicht wieviel Zuviel und wieviel Zuwenig ist. Klare Kriterien fehlen und die, die wir haben sind keine Naturgesätze sondern von der Politik festgelegte Grenzen und Empfehlungen und wurden im Verlauf der Pandemie mehrmals geändert - wobei die neuen Regeln und Einschränkungen mit gleicher Vehemenz gepredigt wurden wie diese, die noch einige Tage zuvor gegolten haben. Auch der Stand der Wissenschaft ist kein Stand, sondern ein Prozess. Z.B. besorgniserregende Virusvarianten wie Alpha, Beta und Gamma haben sich im Nachhinein als gar nicht so besorgniserregend entpuppt und wurden als Grund für Aufregung still begraben.

  2. 18.

    Geimpfte köpnnen die Überholspur nutzen, Ungeimpfte nur die Standspur - WER ist nun im VORTEIL ???

  3. 17.

    Sie werden es merken, wenn wir Herdenimmunität haben, brauchen wir gar nicht groß berechnen.:-)

  4. 16.

    Die Ungeimpften sollen sich ja infizieren wie in Schweden, sonst wird es nie aufhören. Biontech und Konsorten halten maximal 9 Monate. Wenn sich nicht eine natürliche Immunität aufbaut werden wir auf ewig alle halbe Jahre zum Impfen rennen....

  5. 15.

    Sehr geehrter Herr Maier-Borst,
    woher wissen Sie, dass Ungeimpfte überproportional oft auf den ITS liegen? Die Anzahl der geimpften und ungeimpften Intensivpatienten ist der DIVI unbekannt, da der Impfstatus der Intensivpatienten bisher nicht von der DIVI erfasst wurde.

  6. 14.

    Die Bedeutung der Hospitalisierungsinzidenz habe ich nie verstanden. Wenn diese steigt, nach ca. 2 Wochen der Infektion, ist es sowieso zu spät. Verständlich ist eher die Infektionszahl. Wenn diese steigt, auch unter Berücksichtigung von 2/3 Geimpften, kann man erkennen, was in 2 Wochen auf die Kliniken zukommt und kann noch reagieren.

  7. 13.

    Das Ziel "Herdenimmunität" ist momentan wohl eher vom Tisch.
    Durch die Infektionen von Geimpften haut dies ja nun alles nicht mehr so richtig hin.

    Aber wenn man die letzten 14 Tage mit einem Durchschnitt von nur 35.000 Infektionen rechnet, müsste man auch m.M. rund eine halbe Million - sowie alle bisher Genesenen - zur Impfquote hinzurechnen.
    Ich denke aber, so wird nicht gerechnet, nur die eigentliche Spritze zählt.

    Vielleicht könnte zusammengefasst veröffentlichent werden:
    X % 2mal geimpft (beinhaltet auch Impfung für Genesene) - X % 3mal geimpft - X % bestätigt infiziert

  8. 12.

    Hallo Fritz,

    das stimmt schlicht so nicht. Das Problem ist, und das haben wir schon vorher erklärt, dass man weit von der Herdenimmunität entfernt ist und überproportional oft eben die Ungeimpften auf der ITS landen. Siehe hier: https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2021/11/unterschied-geimpft-ungeimpft-inzidenzen-krankenhaus.html

  9. 11.

    Fakt ist es, dass es aufgrund bevorstehender Bundestagswahlen Zuviel gelockert wurde, volle Fussballstadien, und einiges mehr, ich wüsste beim besten Willen, was noch gelockert werden sollte, obwohl die Wissenschaftler als auch Politiker standen vor einer neuen Situation, waren alle hoffnungslos überfordert und das Volk sah die Situation auch nicht sehr ernst! Die Krankenhäuser hatten vor der corona schon zu wenig Personal und rüsteten nicht auf, ließen das Personal auf dem Zahnfleisch laufen, um den Gang an die Börse zu beschleunigen! Das Personal wurde förmlich ausgebeutet! Die Ärzte dazu verdonnert, pauschalfälle zu generieren, also wir reden heute von triage, nein die gibt es schon vor der corona! Zusammengefasst, die Verantwortung tragen wir aufgrund mangelnder Zivilcourage alle! Wenn jeder von uns sich hinterfragt, wird auch in unserem Verhalten während der Krise entdecken!! Beispiel, Maske falsch aufsetzen, Abstand nicht anhalten, und einiges mehr!

  10. 10.

    Ja, egal welche Inzidenz man nun zu Rate zieht, jede hat Mängel und Schwächen und gibt eben keine umfassende Auskunft zur Lage, das geht ja auch gar nicht, weil es eben viele Faktoren sind, die mit spielen.
    Ich glaube, der Ur-Fehler in der Pandemiebekämpfung lag darin, das keine allgemeine Impfpflicht eingeführt wurde, nachdem genug Impfstoff für Alle da war und es sich herausstellte, das die anfangs große Nachfrage nachließ und allein mit Überzeugung und Aufklärung der große Wurf nicht gelang.
    Gut, die Vergangenheit ist vergangen und Jammern über Fehler hilft nicht weiter, deshalb kann es meiner Ansicht nach nur heißen : Impfpflicht jetzt !

  11. 9.

    Mich würde auch noch eine andere Betrachtung interessieren. Die derzeitige Inzidenz bringt ja nun ebenfalls eine Menge von Genesenen mit natürlicher Immunität hervor. Werden diese in die Berechnung der gewünschten Impfquote mit einbezogen? Denn 76.000 positive Tests bringen uns täglich weiter in Richtung Herdenimmunität.

  12. 8.

    Jetzt frage ich mich warum man nur die Zunahme oder Abnahme der Infektionswelle bekanntgibt. Es interessiert bestimmt nicht nur mich wieviele Genesene man davon wieder abrechnen müsste.
    Dann haben wir vielleicht mal realistische Zahlen.

  13. 7.

    "... Rest wird krank und immun ..."

    Bekannter hatte vor einem Jahr Corona mit teils heftigen Symptomen, aber zum Glück ohne Krankenhaus.
    Wurde dann geimpft.
    Jetzt aktuell erneute Infektion, mit PCR-bestätigt und Symptomen.

    Vielleicht hat jemand Infos, inwieweit so etwas häufiger passiert und ob es mit den Varianten zu tun hat.

  14. 6.

    Das dieser Wert nicht "das Gelbe vom Ei" ist, haben sicherlich schon viele bemerkt.

    Patienten werden von einem Bundesland ins andere "gekarrt", Triage wird/ist in Vorbereitung, Tumor-OP werden abgesagt usw.
    Ganz krass gesagt, muss man langsam Angst haben "normal" zu erkranken, da man nicht weiß, ob man wieder nach Hause geschickt wird.

    Die Neuinfektionen geben doch einen Anhaltspunkt, was evtl. 3 Wochen später im Krankenhaus landen könnte.
    Warum die Politiker der Meinung sind, dieser Wert spielt nicht mehr eine so große Rolle, ist mir unverständlich.
    Auch der R-Wert spielt anscheinend keine Rolle mehr, oder?

  15. 5.

    "...Krux an der Hospitalisierungs-Inzidenz..." - Genau, Intensivrate 0-29 Jahre - 2,77%, Stand heute. Durchimpfungsrate bei >30 liegt schon lange bei mindestens 80-85%, selbst das RKI sagt das. Heisst: HERDENIMMUNITÄT -> Freigabe -> Rest wird krank und immun. Ach übrigens, Schweden heute: Alles super.

  16. 4.

    Lockerungen haben wir doch zu genüge! Die gesamte Bundesregierung Abteilung CDU(CSU haben eine Schraube locker, denn anstatt sich über die Ampel-Regierung das Maul zu zerreißen machen die seit über 5 Monaten ihren Job nicht mehr. Die stehen immer noch in Verantwortung. Vor Frust so das Hirn zerfressen und dabei vergessen zu regieren! Alles was jetzt passiert, so könnte man meinen, ist von den Verlierern provoziert.

  17. 3.

    Ich bedanke mich für die übersichtliche Darstellung. "All das führt dazu, dass in der Vergangenheit die aktuelle Hospitalisierungs-Inzidenz mitunter nur halb so hoch angegeben wurde, als sie eigentlich lag"... mir wird ganz flau. Schlimm ist, dass sich die Presse damit befasst - aber nicht unsere Bundesregierung. Aber lass ma, die sind ja noch nicht im Amt... *ironieoff*

  18. 2.

    Hallo Herr HMB, Vielen Dank für diesen sehr gelungenen Beitrag, der gut veranschaulicht warum man die Lageeinschätzung und Risikowertung den Epidemiologen und nicht den Politikern, Virologen bzw. dem interessierten Bürger überlassen sollte. Die Lage ist meistens komplexer als es anhand der nackten Zahlen und Indikatoren aussieht und wir verfügen leider nicht (obwohl man diesen Eindruck gewinnen kann) über Verfahren, die eine Verfolgung des Pandemiegeschehens in Echtzeit ermöglichen.
    Dies gesagt zu haben würde ich ich mir gerne noch eine kritische Bemerkung erlauben: Sie haben vergessen zu erwähnen, dass nicht nur steigende sondern auch abnehmende Werte mit einer Verzögerung gemeldet werden. Wenn sich die Lage verschlechtert, erfahren wir es mit Verspätung, wenn sie sich bessert - ebenfalls. So hinken nicht nur notwendige Maßnahmen dem Geschehen hinterher, sondern auch mögliche Lockerungen.

  19. 1.

    Ich würde mal überlegen welcher Wert da noch sehr wichtig ist, und leider mit keinem Wort erwähnt wird. Ich hätte längst eine aktuelle Zahl der Intensiv-Pflegekräfte in Verhältnis zu den belegten Betten gestellt. Das ist doch gegenüber allen Erhebungen die einzige die wirklich über Leben und Tod entscheidet. Wenn ich als Bürger die Nachricht bekomme dass die Versorgung auf der Kippe steht, und dazu in den Nachrichten bei ARD und ZDF die richtigen Bilder zeige, dann kann das dazu beitragen dass unwillige doch noch umdenken. Grund verkehrt sich so dazu zu äußern dass man es immer versucht und alles mögliche tut. Das passt zu Jens Spahn, aber nicht zu der Lage in der wir uns befinden.

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