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Quelle: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert

Persönliche Schilderung einer Ungeimpften

Wieso ich bei der Impfung zögere, obwohl ich meine Schwester durch Corona verlor

Der Druck auf Ungeimpfte nimmt von allen Seiten zu. Die Politik verschärft die Maßnahmen vor allem für sie, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Doch es gibt sehr persönliche Überlegungen, sich nicht impfen zu lassen, beschreibt Corinna Klein*.

Dieser Text ist der persönlichste, den ich je geschrieben habe. Und ich wünschte, ich hätte ihn nicht schreiben müssen. Aber vielleicht ist die Zeit gekommen für Persönliches. Für die Geschichten hinter den Zahlen.

Hier die Fakten: Meine Schwester ist vor ein paar Tagen an oder mit Corona gestorben. Ungeimpft. Und ich bin ebenfalls ungeimpft.

Und hier die Geschichte dahinter:

Meine Schwester litt seit über 20 Jahren an Multipler Sklerose; die letzten zehn Jahre hat sie im Rollstuhl verbracht, als Pflegefall. Sie konnte nicht alleine morgens aufstehen, sich nicht anziehen, nicht alleine auf die Toilette. Zuletzt konnte sie auch ihre Finger nicht mehr bewegen, also nicht alleine essen, keine Buchseite umblättern, nicht telefonieren.

Schluckprobleme verursachten immer wieder Lungenentzündungen, "respiratorische Pneumonie" nennt sich das. Multiple Sklerose – das Immunsystem läuft Amok gegen den eigenen Körper. Mir erschien es logisch, dass sie sich nicht impfen ließ. Aus Angst, eine Impfung könne die jahrelangen Schmerzen, die endlich zur Ruhe gekommen waren, wiederkehren lassen. Dachte ich.

Als wir im Sommer letztmalig über eine Impfoption sprachen, dämmerte mir zum ersten Mal, dass der Beweggrund auch ein anderer sein könnte: "Es wird nicht mehr lange gehen. Und wenn ich jetzt Corona bekomme, dann sterbe ich eben an Corona", sagte meine Schwester. Und so ist es gekommen.

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Völlig irrationales Bauchgefühl

Ich selbst habe zweimal Krebs gehabt, einmal Brustkrebs, dann ein Rezidiv im Lymphknoten. Gegen den Rat der Ärzte habe ich eine Chemotherapie abgelehnt. Das ist 14 Jahre her. Medikamente, die meinem Körper Östrogene entziehen, habe ich so lange genommen, bis die Nebenwirkungen mich fast zum Wrack gemacht haben.

Meine Knochen sind seitdem zu dünn für mein Alter, der Rest des Körpers hat sich erholt. Seit Jahren nehme ich gar nichts. Was das mit Corona zu tun hat? Ich bin auf eine völlig unwissenschaftliche Weise skeptisch. Und obwohl die Ärztin meines Vertrauens geradezu flehentlich darum bittet, mich mit Biontech impfen zu lassen, habe ich Angst davor, meinen Zellen, die sich im Moment nur so teilen, wie sie sollen, den Bauplan für einen Bestandteil des Covid-19-Erregers spritzen zu lassen.

Ja, ich habe Angst vor Spätfolgen. Vor unkontrolliertem Zellwachstum in ein paar Jahren, weil meine Zellen sich vielleicht von einem Impfstoff haben irritieren lassen. Ich weiß, dass das nur ein Bauchgefühl ist, völlig irrational. Aber mein Bauchgefühl hat mich auch den Tumor spüren lassen, als die Ärzte noch an eine Zyste glaubten.

Corona-Maßnahmen haben Lebenswillen gebrochen

Meine Schwester hat sich jeden Morgen an ihrem baden-würtembergischen Wohnort in eine Tagespflege rollen lassen. Bis Corona kam. Danach saß sie zu Hause und starrte die Wand an. Viele Stunden am Tag. Endlose Stunden.

Damals wollte sie, dass ich für sie einen offenen Brief schreibe, gerne an die Kanzlerin. Dass sie niemand gefragt habe, ob sie wirklich sozial isoliert sein wolle, nur um sich nicht anzustecken. Ich habe den Brief damals nicht geschrieben. Ich hätte es tun sollen. Die Corona-Maßnahmen haben den Lebenswillen meiner Schwester endgültig gebrochen.

Kurz flackerte der nochmal auf, als sie im vergangenen Jahr mit 54 Oma wurde. Aber das Flämmchen blieb klein. Zum Schluss war sie wieder in der Tagespflege, kurz vor ihrem Tod nochmal in der Reha. Dort muss sie sich angesteckt haben. Und vielleicht hat auch sie noch andere angesteckt.

Ist sie Teil der "Tyrannei der Ungeimpften", wie der ehemalige Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, vor ein paar Tagen gesagt hat?

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Doppelt geimpft, infiziert, eventuell auch andere angesteckt

Bin ich es? Ich habe einen Antikörpertest gemacht. Demnach bin ich mit dem Virus noch nie in Berührung gekommen, kann also auch als potentiell asymptomatisch Erkrankte, so heißt das ja wohl, wenn ich symptomlos und gesund bin, bisher niemanden angesteckt haben.

Glück gehabt. Natürlich kann das jederzeit passieren. Ich habe großen Respekt vor dem Virus. Aber keine Panik. Dabei bin ich Nachrichtenredakteurin und wirklich gut informiert.

Bin ich eine Egoistin und eine Gefahr für die Gesellschaft?

Meine beste Freundin hat sich sofort impfen lassen. Sie arbeitet viel im Homeoffice, trifft Menschen vor allem draußen. Sie hat sich, so sagt sie, auch impfen lassen wegen der sozialen Verantwortung. Jetzt war sie mit einer Freundin in den Niederlanden. Beide im Juni doppelt geimpft, beide haben jetzt Corona mit teils heftigen Symptomen. Beide haben möglicherweise auf ihrer Zugfahrt andere Reisende angesteckt.

Ist das jetzt ihre Schuld? Oder die der Gastronomen, die ihre Kneipen und Restaurants wieder bis auf den letzten Platz füllen, weil sie die Einnahmen brauchen? Oder sind Biontech und Co. Schuld, weil die Impfungen eben doch nicht halten, was sie versprechen beziehungsweise was wir uns von ihnen erhofft haben?

Was ist richtig, was ist falsch?

Ich teste mich jeden Tag. Damit trage ich zu einer unglaublichen Menge Müll bei, die diesen Planeten weiter verwüstet. Auch ein moralisches Dilemma. Ich lese, dass Spritzen knapp werden könnten und dadurch weltweit weniger Kinder gegen Masern und andere todbringende Krankheiten geimpft werden könnten. Abgesehen davon, dass jede Booster-Impfung hier bei uns vermutlich dort auf der Welt fehlt, wo nicht mal genügend Impfstoff für Grundimmunisierungen angekommen ist.

Was ist richtig und was falsch? Wissenschaft lebt davon, dass sie sich widerspricht, dass Irrtümer eingepreist werden. Nur so kommt sie zu neuen Erkenntnissen. Aber wir – auch wir Journalisten – wissen häufig ganz schnell, was richtig ist? Wer sich sozial verhält? Und wer der Gegner ist? Wann war unsere Gesellschaft jemals so gespalten? Und wie wollen wir das wieder hinkriegen?

Meine Schwester ist friedlich eingeschlafen. Sie ist aus ihrem künstlichen Koma nicht mehr erwacht. Aber dank einer Klinik, die sich neben einem funktionierenden Hygienekonzept auch Menschlichkeit bewahrt hat, durften ihre Töchter und ihr Lebensgefährte die letzten Tage bei ihr sein.

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Solidarität mit Ungeimpften, die ihre Gründe haben

Und ich werde mich impfen lassen. Nicht aus Überzeugung, sondern um meine Familie und Freunde von der – statistisch ebenfalls irrationalen – Angst zu befreien, dass auch ich an Corona sterben könnte. Und: Ich möchte nicht, dass ich, falls ich ins Krankenhaus komme, einer Krebspatientin das Bett wegnehme.

Ich werde nicht mit meinem Impfpass ins Restaurant oder in die von mir so schmerzlich vermissten Cafés gehen. Auch zu keiner 2G (plus)-Weihnachtsfeier. Sogar auf Kino werde ich verzichten. Dabei wäre es wahrscheinlich vernünftig, überall hinzugehen, wo viele Menschen sind. Denn wenn die Geimpften sich alle ansteckten, hätten wir das Ganze vielleicht bald hinter uns.

Aber ich werde es nicht tun. Aus Solidarität mit allen Ungeimpften, die ihre guten Gründe haben. Nicht für diejenigen, die aus Prinzip dagegen sind. Und übrigens: Der Druck, der von allen Seiten ausgeübt wird, sich impfen zu lassen, haben meine Ablehnung und mein Misstrauen eher wachsen lassen. Das mag kindisch sein – aber da bin ich stur.

Leider gibt es noch keine Impfung gegen Intoleranz und Rechthaberei. Aber es gibt Rezepte für mehr Solidarität und Zusammenhalt. Und die sollten wir uns dringend verschreiben.

 

PS: Ich widme den Text meiner Schwester und den Ärzten und dem Pflegepersonal des Klinikums Freudenstadt.

* Die Autorin ist Mitarbeiterin des rbb, wegen ihrer sehr persönlichen Schilderungen hat sie diesen Text nicht unter ihrem eigentlichen Namen geschrieben.

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