#Wiegehtesuns? | Adoptierter Erwachsener - "Ich will, dass mich meine leibliche Mutter in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut wird"

Fr. 18.04.25 | 16:00 Uhr
  16
Symbolbild:EIn kleines Kind streckt die Hand Richtung untergehender Sonne zu.(Quelle:imago images/Pond5 Images)
Bild: imago images/Pond5 Images

Bis Lothar S. über 30 Jahre alt ist, hält er sich für das leibliche Kind seiner Eltern. Das stimmt aber nur für seinen Vater. S. sucht und findet seine biologische Mutter. Doch diese will bis heute keinen Kontakt. Ein Gesprächsprotokoll.

In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, wie ihr Leben gerade aussieht - persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Lothar S. lebt in Berlin und ist 62 Jahre alt. S. wurde kurz nach seiner Geburt unter ungewöhnlichen Umständen adoptiert. Davon hat er erst spät in seinem Leben erfahren. Kontakt zu seiner leiblichen Mutter suchte er bis vor Kurzem. Vergeblich.

Ich bin 1963 aus der Schweiz heraus nach Deutschland adoptiert worden. Meine Adoptivmutter und mein leiblicher Vater haben mich dort abgeholt, als ich drei Monate alt war und nach Baden-Württemberg gebracht, wo die beiden wohnten.

Ich bin ein Seitensprung meines Vaters. Die Idee, die sehr junge Frau, die von meinem Vater schwanger war, in die Schweiz zu schicken und mich dann als ihr Kind aufzuziehen, hatte meine Adoptivmutter – die Ehefrau meines Vaters.

Meine leibliche Mutter war zum Zeitpunkt meiner Geburt gerade 18 Jahre alt geworden. Damals allerdings war man erst mit 21 Jahren volljährig, und eine "ledige Mutter" zu sein, war stark stigmatisiert. Nachdem sie den Ärger über die Affäre meines Vaters überwunden hatte, kam meine spätere Adoptivmutter auf die Idee, meine schwangere Mutter zu Verwandten von ihr in die Schweiz zu schicken, bevor man ihr die Schwangerschaft ansah. In der Schweiz hat sie dann während ihrer Schwangerschaft – und auch danach eine ganze Weile – auf die Kinder der Familie aufgepasst. Nach der Entbindung sollte ich zu meinem Vater und dessen Frau. Das war der Deal – und so geschah es.

Als ich fünf oder sechs war, hatte mein Vater in weiteres Verhältnis, das auch mit einem Kind endete. Er ließ sich scheiden und lebte mit der neuen Frau und dem Kind zusammen. Ich blieb erst einmal bei meiner Adoptivmutter, die ich sehr gern hatte. Doch als sie krank wurde, kam ich zu meinem Vater. Bis ich 19 Jahre alt war, habe ich dann bei ihm und meiner Stiefmutter gewohnt. Meine Stiefmutter war dann im Prinzip meine dritte Mutter.

Baby Lothar S. 1963.(Quelle:privat)
Lothar S. als Baby nach seiner Ankunft in Baden-Württemberg 1963Bild: privat

Dass ich adoptiert bin, wusste ich nicht. Bis ich mit Anfang 30 Jahren - da lebte ich schon in Berlin - selbst Vater wurde und einen Auszug aus dem Stammbuch brauchte. Mein Vater war schon verstorben. Auf dem Dokument stand, dass ich adoptiert bin.

Deshalb habe ich erst relativ spät angefangen, nach meiner leiblichen Mutter zu suchen. Obwohl es damals noch kein Internet gab und ich die Ämter bemühen musste, habe ich sie recht schnell gefunden. Ich habe ihr geschrieben, habe ein Foto von mir geschickt und ihr zum Geburtstag gratuliert. Aber es kam nie etwas zurück. Ich habe mir dann gesagt, dass sie bestimmt verheiratet ist, weitere Kinder hat und nie jemandem von mir erzählt hat. Das heißt, wenn ich da reinplatze, geht ein Familiengeheimnis hoch. Damit war meine Wurzelsuche erstmal beendet. Dann zogen die Jahre ins Land.

Dass ich adoptiert bin, wusste ich aber nicht, bis ich mit Anfang 30 Jahren selbst Vater wurde und einen Auszug aus dem Stammbuch brauchte.

Lothar S.

Viel weiß ich nicht von meiner leiblichen Mutter. Aber ich habe irgendwann den Adoptionsvertrag in die Hände bekommen. Außerdem habe ich Briefe voll glühender Liebe gefunden, die sie meinem Vater geschrieben hatte. Auch noch, als sie schon schwanger mit mir war. Daher weiß ich, dass mein Name – Lothar – der ist, den sie mir gegeben hat. Denn davon schrieb sie.

Von meiner Adoption habe ich erst nach dem Tod meines Vaters erfahren. Ich war lange Zeit sehr böse auf ihn. Ich finde, mein 18. Geburtstag hätte allerspätestens der Termin sein müssen, an dem er mir das hätte sagen müssen. Ich kann das jetzt nur als einen Teil meines Lebens sehen, der vergangen ist, und an dem ich nichts ändern kann.

Ich habe glücklicherweise vor einigen Jahren in Berlin die Selbsthilfegruppe der erwachsenen Adoptierten der Caritas gefunden, die ich inzwischen leite. Durch diese Gruppe habe ich zu sehr vielen Erkenntnisse und Strategien gefunden, um mit all dem umzugehen.

Doch der Gedanke an meine leibliche Mutter taucht immer wieder auf. Verbunden ist dieser Gedanke - und überhaupt der der Adoption - für mich mit dem Gefühl der Einsamkeit. Mit diesem Gefühl habe ich Zeit meines Lebens zu kämpfen. Auch schon, bevor ich von meiner Adoption wusste. Wer Einsamkeit kennt, weiß, dass es sich dabei um ein lähmendes und schmerzhaftes, auch körperliches Gefühl handelt. Heute kann ich damit recht gut umgehen. Aber ich weiß, auch von anderen Adoptierten, dass das mit der Tatsache der Adoption zusammenhängt.

Denn für viele Adoptierte entsteht durch die abgerissene Bindung zu ihrer leiblichen Mutter ein Trauma. Ein adoptiertes Kind wird zu einer Zeit von seiner Mutter abgelehnt, wo es die Bindung zur ihr lebensnotwendig braucht. Das kann man einem Baby nicht erklären. Und der Zustand vor der Traumatisierung kann auch nie wieder hergestellt werden. Das Gefühl der Einsamkeit hat da seinen Ursprung. Für mich ist es die Einsamkeit, für andere Adoptierte etwas anderes. Überdurchschnittlich viele Adoptierte haben beispielsweise mit Sucht und Abhängigkeit zu tun.

Ich habe mich dann kurz vor meinem 60. Geburtstag, als ich gefragt wurde, wie ich diesen Tag verbringen möchte, sagen hören, dass ich Kaffee und Kuchen möchte – mit meiner Mutter. Eine kleine Anekdote: Ein Mitglied unserer Selbsthilfegruppe sagte mal, es ginge ihm ja nicht darum, seine leibliche Mutter in den Arm nehmen zu wollen. Da ging mir auf: Doch, genau das will ich eigentlich wider besseres Wissen haben. Ich will, dass mich meine leibliche Mutter in den Arm nimmt, mir über den Kopf streicht und sagt, dass alles gut wird.

Ich habe dann tatsächlich noch einmal versucht, an sie heranzukommen. Doch im Zentralmelderegister, an das ich mich mithilfe der Adoptionsstelle gewandt hatte, wurde dann ein Vermerk mit einer ausdrücklichen Kontaktsperre gefunden. Ich habe nicht einmal erfahren, ob sie noch lebt. Das war vor einem Dreivierteljahr. Ich würde sie gern wenigstens betrauern können – damit ich sie auch gehen lassen kann. Aber vielleicht hat es so auch ein Gutes: Ich muss mich nicht noch einmal von ihr verabschieden.

Gesprächsprotokoll: Sabine Priess

16 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 16.

    Mit Sicherheit wird da Nie was kommen, ich betone es nochmal, ich hatte/habe den allerbesten Vater den ich mir für mein Leben nur wünschen kann, mein Erzeuger ging mir mein Leben lang am Allerwertesten vorbei !

  2. 15.

    Ihre Situation und Ihre Einstellung sind vollkommen normal und ich glaube, ein jeder Betroffene macht diesen Prozess in vielen Phasen durch. Sie sind noch nicht am Ziel, glauben Sie mir. Da kommt noch was.

  3. 14.

    Sie urteilen, aber verstanden haben Sie das Thema nicht wirklich. Ich würde sagen, das Thema entsetzt Sie zutiefst, denn es geht um tiefe Gefühle, die manch einer ungern preisgibt. Da wird eher verdrängt und geleugnet, aber auch das ist eine Phase in die richtige Richtung.

    Wer nach der Geburt die Verbindung zur leiblichen Mutter nicht mehr spürt, der ist auf der ewigen Suche. Im Mutterleib schon ist Stimme, später der Geruch der Mutter wichtiger Bestandteil der Zugehörigkeit. Das Kind wird dieser Mutter entfremdet und das Baby spürt diesen Verlust.

    Ähnlich geht es Kindern, die durch Samenspenden entstehen, auch diesen Kindern fehlt ein Teil der Wurzeln und dann ist man später auf der Suche, es fehlt etwas und jeder möchte wissen, woher er kommt und jeder möchte geliebt werden.

    Kinder benötigen Eltern und die Gewissheit, dass sie geliebt und nicht verlassen werden. Es geht um die Sozialisation in der ersten Gruppe und um Urvertrauen.

  4. 13.

    Mit Reinsteigern hat Vermissen und Verlieren, Lieben und Leiden nichts zu tun. Gefühle kann man nicht wie eine Liste abhaken. Sehnsucht ist unheilbar...

  5. 12.

    Meine Mutter als Kriegskind geht mit der Situation, ihren Vater, der gefallen ist, und sie ihn nur zwei drei mal als Kleinkind gesehen hat, so damit um, dass sie bis heute darunter leidet. Sie fängt sofort an zu weinen, wenn sie daran denkt. Sie kann auch Sirenen nicht hören, weil sie dann immer im Keller verschwunden sind. Es bleibt in jedem ein Trauma erhalten, man kann nur damit umgehen, weg geht es nicht.

  6. 11.

    Sonja und Sven: Genau das! Hier hat sich jemand in einen gefühlten Verlust hineingesteigert. Dafür bräuchte es Hilfe, nicht für die Adoption. Ich würde meinem Vater sagen, das alles gut ist jetzt, und ich nicht mehr wütend auf ihn bin. Aber er ist lange tot. Damit leben vermutlich Milliarden Menschen auf der Welt. Für mich passt hier der alte Satz: "Wer keine Probleme hat, macht sich welche."

  7. 10.

    Ich finde das auch, Sie haben das gut beschrieben.
    Und ich denke, die empfundene Trauer betrifft weniger die fremd gebliebene Person, hier die leibliche Mutter, sondern die Sehnsucht nach dem Erleben und dem dazugehörenden Gefühl von Verbundenheit, willkommen und angenommen zu sein. Ablehnung, noch dazu als bedürftiger Säugling, ist schwer zu ertragen und das Warum ist steter Begleiter.
    Wie gut, wenn Betroffene eine Möglichkeit finden, sich über ihre Situation auszutauschen, sich selbst beim lauten Denken aber auch gegenseitig zuzuhören.
    Der schwierigste Schritt ist meiner Meinung nach, als Erwachsener die eigenen Eltern aus ihrer Verantwortung zu entlassen und keine Erwartungen mehr an sie zu haben. Sie hatten oder haben ihre eigenen Lebensgeschichten und Entscheidungen, die man lediglich verstehen kann, ohne mit ihnen einverstanden sein zu müssen.
    Aber das ist keinesfalls leicht, sondern ein Prozess von innerer Arbeit, bestenfalls mit passender Unterstützung und Verständnis.

  8. 9.

    Ich glaube, diese "erklärungslose" Ablehnung der Kontaktaufnahme ist hier besonders schlimm. Ich selbst habe "ghosting" erlebt und suche noch immer nach der Erklärung der Ablehnung. War es "meine Schuld"? Warum mag/liebt man mich nicht (mehr)?
    Als ich Lothars Babyfoto sah, überkam mich sofort ein Gefühl der Zuneigung, so ein süßes Kind, so ein liebes, offenes Lächeln! Wie kann man ihn ablehnen? Aber ich weiß eben auch um den vernichtenden Schmerz, den man als Frau und Mutter empfindet, wenn der biologische Vater sich gegen dich und sein Kind entscheidet. Noch schlimmer : das Kind mitnimmt!
    Dieser Artikel macht sehr viel in meinem Kopf...

  9. 8.

    Sehr offen und sehr berührend. Jeder Mensch will angenommen und geliebt werden und das Vermissen der eigenen Wurzeln lässt einen auf die Suche gehen und eine so tiefe Verletzung ohne Antworten sucht letztendlich immer eine Befriedigung der Sehnsucht. Im Alter werden wir dünnhäutiger und gehen vielen unaufgearbeiteten inneren Konflikten auf den Grund. Es ist furchtbar traumatisch für ein Kind, nicht zu wissen, warum die eigene Mutter es nicht will, nicht lieben kann und keine Gefühle entwickeln kann, somit denkt das Kind, es hätte eine Schuld, wäre es nicht wert und sei ungewollt, ungeliebt. Wer Antworten sucht und vielleicht bekommt, überwindet vieles und kann erfüllt und glücklich weiterleben. Das wünscht sich jeder Betroffene sehr, Frieden und Selbstliebe und Gewissheit, von der eigenen Mutter geliebt zu werden, trotz alledem.

  10. 7.

    Ich persönlich kann das nicht wirklich nachvollziehen, WARUM will man eine "Mutter " kennenlernen die sie ja eigentlich Nie war, für mich absolut unverständlich !?

    Mein Erzeuger hat sich auch nie für mich interessiert und ganz ehrlich, es ist mir sowas von egal, ich hatte/habe den allerbesten Vater den ich mir für mein Leben nur wünschen kann !!! :o)))

    Kann Menschen nicht verstehen, die trotz einer tollen Familie und super Stiefmutter oder Stiefvater trotzdem nach Menschen suchen denen sie als Kind egal waren, für mich ist das gestört !

    Ausnahmen sind natürlich die Zwangsadoptionen zu DDR Zeiten.

  11. 6.

    Eine total traurige und berührende Geschichte. Ich hoffe, Lothar hat einen anderen lieben Menschen um sich, der ihn in den Arm nimmt und tröstet.

  12. 5.

    Ich finde diesen Bericht sehr interessant und berührend. Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Mensch traumatische Dinge in seinem Leben erfahren kann und jeder sie anders verarbeitet. Deshalb bin ich immer dafür offen über alles was familiäre Beziehungen betrifft zu sprechen und erst gar keine Geheimnisse in der Familie entstehen zu lassen, denn ich denke, dass es hier auch darum geht. Aber natürlich ist es auch ein Problem, dass die biologische Mutter ihr eigenes Kind nicht einmal kennen lernen will. So eine absolute Ablehnung verkraften wir alle nicht gut und wir wollen dafür eine Erklärung, die es in diesem Fall nicht geben wird. Das ist schwer zu ertragen. Somit ist es sozusagen Trauer um einen Menschen, den man nicht einmal gekannt hat, die man erlebt.

  13. 4.

    Wie gehen denn unsere Eltern und Großeltern damit um? Viele von ihnen sind Kriegskinder und hatten keine Chance ihren wahren Vater oder ihre wahre Mutter zu finden?

  14. 3.

    Warum man es als Glück ansieht nach 50 Jahren wieder Kontakt zu einem Elternteil aufzunehmen, was vorher keinen Kontakt aufgenommen hat ist mir nicht ganz klar und würde mich auch nicht mehr interessieren. Mein leiblicher Vater hat sich, als ich 2 Monate alt war, heimlich vom Acker gemacht, nicht gezahlt und sich nie gemeldet. Bis heute, 70 Jahre später habe ich eine einzige Sekunde verschwendet ihn zu suchen oder zu finden. Wofür?

  15. 2.

    Sehr berührend. Und jeder, bei dem oder der die Bindung in der Kindheit (aus welchen Gründen auch immer) zur Mutter „gekappt" wurde, weiß, wie sich das ein Leben lang anfühlt und wovon Lothar spricht. Ich hatte das Glück, den Kontakt zu meiner Mutter nach 50 Jahren herstellen zu können (zumindest telefonisch) und die ganze Geschichte zu einem einigermaßen versöhnlichen „Abschluss" zu bringen. Es ist nun mal so: Heilung gelingt nur von innen heraus!

  16. 1.

    Es tun sich bei mir Fragen auf: gibt es nur ein Trauma, wenn die Mutter wechselt? Was ist mit dem Vater? Wenn gefühlt alle adoptierten Menschen traumatisiert sind, wie Lothar sagt, müssen wir dann nicht aufpassen, adoptierte Menschen gleich zu behandeln? Im Umkehrschluss könnte es sein, dass adoptierte Menschen bei der Vergabe von Jobs außen vor sind, wegen des Traumas... Und gibt es glückliche adoptierte Menschen? Menschen, die nicht nach den Bauchmüttern suchen? Das ist so ein umfassendes, wichtiges Thema, da muss man eigentlich mehr erfahren, um sensibel damit umzugehen. Bei Waisen/ Halbwaisen geht mir das genau so...

Nächster Artikel