#Wiegehtesuns? | Leiter Männergruppe - "In mir trage ich mehrere hundert Seelen"
Kazim Erdoğan will in seinen Neuköllner Männergruppen Gewalt gegen Frauen und Kinder verhindern. Denn sie sei oft das Produkt von Enttäuschung, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Wie macht er das? Ein Gesprächsprotokoll.
In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, was sie gerade beschäftigt – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.
Der Neuköllner Psychologe und Soziologe Kazim Erdoğan, 68, ist in der Türkei geboren und lebt seit rund 50 Jahren in Deutschland. Er hat vor 15 Jahren den Verein "Aufbruch Neukölln" gegründet. Hier treffen sich vorwiegend türkische Männer und Väter, um sich auszusprechen und gewaltfreie Lösungen zu finden in verfahrenen Familienkonflikten. Inzwischen ist Erdoğan Rentner und arbeitet ehrenamtlich.
Kann man Gewalt gegen Frauen eindämmen? Und wenn ja - wie? Gewalt ist das Produkt von Enttäuschung, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Wie kann ich lernen, mich zu beherrschen? Damit beschäftige ich mich in meinen Männer-Selbsthilfegruppen in Neukölln.
Als ich 2003 beim Bezirksamt Neukölln in der Erziehungs- und Familienberatungsstelle anfing, konnte ich mit meinen eigenen Augen feststellen, welche großen Probleme viele Männer mit - aber auch ohne - Zuwandergeschichte haben. Und das war dann sozusagen der Grundgedanke für die Gruppe. 70 Prozent der Männer, die zu uns kommen, sind Neuköllner, weil wir inmitten des Kiezes sind. Wir haben alle Nationalitäten, auch Deutsche. Wir machen da absolut keine Unterschiede. Wer zu uns kommt, bekommt die Hilfe.
Heute trifft sich unsere türkische Gruppe. Hierher kommen Männer und Väter, die verheiratet sind, geschieden und alleinerziehend. Zu uns kommen Opas, die bessere Opas für ihre Enkelkinder sein wollen.
Wir wissen, dass unsere Mütter und Frau wertvoller denn je sind. Aber wir wissen auch, dass Gewalt gegen Frauen sowohl in Deutschland als auch in der Türkei zugenommen hat. Gewalt kennt keine Ethnie, keine Sprache, keine Religion. Gewalt ist ein globales Thema.
Wenn jemand anfängt, seine Probleme zu erzählen, dann wird es manchmal so emotional, dass der wirklich weint. Aber: Sie lernen hier, dass es einen anderen Weg als Gewalt gibt.
Wir kommunizieren zu wenig miteinander. Deswegen müssen wir mit diesen Menschen, die nicht angemessen reagieren, ins Gespräch kommen: Warum sind Sie wie eine geladene Zeitbombe? Was ist der Grund? Geht es Ihnen schlecht? Was heißt das?
Ich erkläre den Gruppen immer, dass 97 Prozent der Menschen das weitergeben, was sie gesehen, gelernt und gehört haben. Wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass der Vater die Mama geschlagen hat oder der Vater die Kinder geschlagen hat, dann gibt man das weiter. Haben die Kinder Liebe und Zuneigung bekommen, geben sie das weiter. Wir Männer können nicht genug über Bildung, Erziehung und Kommunikation sprechen.
Ich habe durch die Gruppe dafür gesorgt, dass mindestens 40, 50 Menschen nicht von Gewalt getroffen sind – Kinder, Frauen, Familien.
In mir trage ich mehrere hundert Seelen, und das sind die Menschen, die Hilfe benötigen, die noch größere, ich sage mal Herausforderungen haben. Da bleibt mir keine Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Ich komme aus einem kleinen Dorf 600 Kilometer entfernt von Ankara. Mit sechseinhalb Jahren wurde ich in ein Internat geschickt. Geblieben ist die Sehnsucht nach Familie, die Sehnsucht nach Eltern. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater, obwohl beide Analphabeten waren, hatten immer ein weiches Herz für die Menschen, denen es schlechter als ihnen ging. Und das hat mich geprägt.
Ich hatte zwei Gründe, nach Deutschland zu kommen. Einmal, um hier zu studieren. Und der zweite Grund war, dass ich durch Arbeiten mein Studium finanzieren wollte.
Ich wollte nach fünf Jahren wieder zurück. Aus fünf Jahren sind 48 Jahre geworden, und das ist das Zeichen dafür, dass ich niemals bereut habe, mich in diesem wunderbaren Land aufzuhalten.
Mein Lebensziel ist, dass ich sage: mache, was du kannst, bewege das, was Du bewegen kannst. Wobei diese Aufgabe mit mir, mit meiner Person, nicht beendet werden kann. Wir werden auch nach 100 Jahren uns solchen Themen widmen. Und das ist wie eine Kette ohne Ende.
Sendung: Unser Leben, 18.05.2022, 22:15 Uhr