#Wiegehtesuns? | Russin in Berlin - "Mein Cousin fragte: Soll ich dich nach Russland holen, in Sicherheit?"

Sa 02.07.22 | 16:38 Uhr | Von Anna Severinenko
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Symbolbild: Eine Frau mit einer auf ihrer Wange aufgemalten ukrainischen Flagge. (dpa/Porzycki)
Bild: dpa/Porzycki

Die gebürtige Russin Natalja lebt seit langem in Berlin. Sie ist zutiefst erschüttert vom Krieg in der Ukraine. Der enge Kontakt zu ihrer Familie in Russland ist zur Zerreißprobe geworden. Ein Grund ist die russische Propaganda - ein Gesprächsprotokoll.

In der Serie #Wiegehtesuns? erzählen Menschen, was sie gerade beschäftigt – persönlich, manchmal widersprüchlich und kontrovers. rbb|24 will damit Einblicke in verschiedene Gedankenwelten geben und Sichtweisen dokumentieren, ohne diese zu bewerten oder einzuordnen. Sie geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.

Natalja* [Name von der Redaktion geändert] ist 33 Jahre alt und wächst bis zu ihrem neunten Lebensjahr in Moskau mit einer großen Familie auf. Sie fährt oft zurück und telefoniert fast täglich mit ihrer Familie und ihren Freunden vor Ort. Seit Ausbruch des Krieges musste sie jedoch den Kontakt reduzieren. Weil sie ständig versucht hat, ihre Familie aufzuklären, ist sie krank geworden.

Wir sind 1997 nach Deutschland gezogen, bevor Putin zur Macht kam. Wir, das sind meine Mutter und ich. Alle anderen sind in Moskau geblieben. Mit meiner Familie dort habe ich sehr engen Kontakt, vor allem mit meinem Onkel, der mich großgezogen hat. Zu ihnen nach Moskau fliege ich eigentlich alle paar Monate. Ich fühle mich dort immer noch zuhause.

Mit meiner Mutter rede ich schon ganz lange über den Krieg, schon bevor er ausbrach. Sie informiert sich sehr viel und hat, wie wahrscheinlich viele andere auch, den Angriff schon kommen gesehen. Sie hat auch versucht, es aufzuhalten - mit dem, was sie halt tun konnte: Schon vor Kriegsausbruch hat sie ihrem Umfeld in Deutschland und in Moskau versucht zu erklären, was da wirklich passiert, und wie schlimm das alles ist.

Nach Russlands Einmarsch in die Ukraine demonstrierte sie oft vor der russischen Botschaft. Sie hat auch eine ukrainische Familie bei sich aufgenommen. Sie steckt ihre gesamte Energie da rein, um irgendwie zu helfen. Sie verkraftet es nicht, dass in der Ukraine nun unschuldige Menschen sterben.

Die Russen generell sind sehr mit "Mutter Russland" verbunden: Es wird immer von "Wir" gesprochen ...

Leider denkt meine Familie in Moskau anders. Wenn man meine Verwandten fragt, wie sie das sehen, dann sagen sie: Was denn sehen? Es gibt nichts zu sehen. Es gibt keinen Krieg, nur einen Konflikt.

Meistens sprechen sie von der einer "Spezialoperation" - und das mit hundertprozentiger Überzeugung. Wenn meine Verwandten darüber reden, klingen sie so patriotisch. Die Russen generell sind sehr mit "Mutter Russland" verbunden: Es wird immer von "Wir" gesprochen, auch im Fernsehen, man will immer eine Einheit darstellen, daran glaubt der Russe.

Wobei: Die Jüngeren in meiner Familie haben mehr Angst. Sie sind wie in einer Schockstarre und warten nur darauf, dass es vorbei ist. Aber sie unternehmen auch nichts dagegen.

Mein Onkel und die Älteren sehen es eher als ein globales Problem, etwas Wirtschaftliches. Sie sprechen nicht darüber, dass Menschen sterben, sondern, dass es eigentlich eine Krise zwischen Europa und Amerika ist, dass es um viel Geld und Macht geht, aber nicht über den Angriff Russlands auf die Ukraine an sich. Er sieht den Krieg an sich nicht und will ihn auch nicht sehen.

Vor dem Krieg habe ich oft mit meinem Onkel über Russlands Politik gesprochen. Er hat mir seine Sicht auf Russlands Position und deren Legitimierung erklärt. Wenn er jedoch mit meiner Mutter spricht, knallen sie immer wieder aneinander, weil sie so grundsätzlich verschiedene Ansichten haben. Meine Mutter versucht dann mit ihrer stürmischen, emotionalen russischen Art, die Menschen aufzurütteln. Wir bewegen uns immer im Kreis, meine Mutter und mein Onkel streiten sich und ich bin immer dazwischen. Ich habe oft versucht zu schlichten, aber es ist sehr schwer. Meine Mutter ist zu fassungslos, wenn sie mit ihm spricht. Sie versteht nicht, wie die Menschen seit Jahrzehnten so verblendet sein können und ist geschockt, wie manipuliert alle sind.

Wenn ich mit meinem Onkel spreche, will ich auch seine Seite verstehen und bin daran interessiert. Ich versuche dann mit Verständnis und mit Einfühlungsvermögen auch meine Seite zu erklären: Dass es mir auch um die Menschen geht, die gerade sterben. Aber das steht für ihn gar nicht zur Debatte, es gibt einfach keinen Krieg, kein Leid. Das ist eine Spezialoperation und die Menschen werden gerettet.

Wenn ich das höre, werde ich sauer. Aber ich weiß auch, wenn ich so reagieren würde wie meine Mutter, würde ich erst mal zwei Wochen oder länger keinen Kontakt mehr zu ihm haben. Und ich glaube, das ist die falsche Herangehensweise. Ich hoffe, dass, indem ich ihm zuhöre, er auch mir zuhört.

Er ist ein Faktenmensch, aber die Fakten, an die er glaubt, sind andere als die, die ich habe. Wir beide verstehen auch, dass die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo in der Mitte liegt. Die Frage ist nur, wo ist die Mitte?

Meine Mutter sagte zu mir, ruf du ihn an und sag ihm, dass er sich auf keinen Fall melden darf, sonst kommt er garantiert im Grab zurück.

Ich rede auch viel mit meinem Cousin in Moskau. Als es nach Ausbruch des Krieges hieß, dass Putin jetzt junge Männer einziehen will, hatte ich natürlich Angst. Meine Mutter sagte zu mir, ruf du ihn an und sag ihm, dass er sich auf keinen Fall melden darf, sonst kommt er garantiert im Grab zurück. Meine Mutter hatte es schon bei ihm versucht, aber er geht bei ihr gar nicht mehr dran.

Als ich ihn erreichte, sagte er mir, wenn es so weit kommen wird, wird er die richtige Entscheidung treffen. Es ist klar, was er damit meint. Ich habe sofort losgeweint. Ich habe ihm erklärt, dass es nicht darum geht, sein Land zu verteidigen, sondern, in ein fremdes Land einzudringen und unschuldige Menschen zu töten. Und dass es nichts damit zu tun hat, seine Heimat, seine Ehre zu verteidigen.

Aber für ihn gibt es kein Nein: Wenn man nicht mitzieht, ist man ein Deserteur und das ist viel schlimmer als im Krieg zu sterben. Er hat eine Frau und einen kleinen Sohn, ich weiß, dass die Frau genauso denkt wie er.

Auch er weigert sich zu verstehen, was gerade wirklich passiert. Auf mein Weinen und meine Sorgen antwortete er, ganz ernst gemeint: "Es ist doch alles gut! Was haben die euch dort für Tabletten gegeben, die haben euch doch alle manipuliert! Wenn du willst, hole ich dich ab und bringe dich nach Russland, in Sicherheit."

Meine Strategie Ende Februar war, bei meiner Familie dort noch öfter anzurufen und sie über die wirklichen Geschehnisse zu informieren. Wir haben täglich telefoniert. Der Krieg und die Sichtweise meiner Familie haben mich krass mitgenommen, ich konnte nicht gut schlafen, oft nicht mehr richtig arbeiten. Ich bin auch sehr krank geworden, eine heftige Erkältung mit schlimmen Kopfschmerzen und Magenschmerzen, ich denke es was psychosomatisch.

Nach zwei, drei Wochen habe ich gemerkt, dass es nichts bringt und nur belastend für mich ist. Von morgens bis abends etwas über den Krieg zu konsumieren, darüber mit der Familie zu diskutieren, das war zu viel. Deswegen habe ich für mich erst mal beschlossen, etwas weniger Kontakt zu meiner Familie zu haben und auch weniger Nachrichten zu schauen. Das tut mir gut. Nichtsdestotrotz werde ich nicht aufgeben, meiner Familie dort zu erklären, was wirklich passiert.

Beitrag von Anna Severinenko

41 Kommentare

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  1. 41.

    Zitat: "Wurde nicht in Deutschland die Webseite eines russischen Nachrichten-Senders gekappt? Und das aus recht fadenscheinigen Gründen."

    Der, wie Sie es nennen, "fadenscheinige Grund" ist das Fehlen einer Sendelizenz für das seit Dezember letzten Jahres ausgestrahlte Programm der RT DE Productions GmbH.

  2. 40.

    Ein öffentlichrechtliches Medium ist nicht gleichzusetzen mit staatlich.

  3. 39.

    Das stimmt nicht. Die vom Staat finanzierte Deutsche Welle und zum Teil von Frankreich finanzierte ARTE sind immernoch überall ungehindert empfangbar. Obwohl die Finanzierung durch den Staat nach dem Medienrecht ein Ausschlusskriterium ist. Oder wo liegt mein Denkfehler?

  4. 38.

    Liebe Natalja, das Internet ist groß. gerne kannst du es nutzen und sehen, was dein Land seit 8 Jahren im Donbas macht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich die Donbasstädte selbst beschießen und ihre eigenen Leute opfern. Du etwa? Gerne kannst du auch die Minsker Abkommen lesen (das Internet ist schon der Wahnsinn) und vielleicht wirst du dich dann genauso wie ich fragen, was denn das ukrainische Militär hochgerüstet und verschanzt in der neutralen Zone Mariupol gemacht hat. Du kannst Sendungen des öffentlich rechtlichen Rundfunks sehen wie etwa Monitor oder Panorama oder Weltspiegel oder Anne Will oder oder oder. Du kannst dir eine Bundestagsrede von Gregor Gysi von 2014 (#gysi #ukraine) ansehen und das alles gerne selber nachprüfen, denn all die Videos zu dessen Aussagen kannst du auch auf Videoplattformen finden. Auch kannst du gerne recherchieren, warum hohe EU Politiker wie etwa Juncker schon 2016 den EU Bitritt der Ukraine für 20 bis 25 Jahre ausschließen.

  5. 37.

    Ja, genau das denken auch die Russen, dem Westen überlegen zu sein. Sie definieren Stärke militärisch.

  6. 36.

    Ich finde Ihre vorwurfsvolle bis beleidigende Antwort nicht in Ordnung. "Familie geht über" alles würde für viele Menschen nicht nur Selbstaufgabe sondern auch endlos viel Leid und Konflikte bedeuten. Dasselbe Blut verpflichtet nicht nicht zu Kontakt und Loyalität um jeden Preis. Wenn grundlege Werte nicht geteilt werden ist ein Umgang miteinander schwer bis unerträglich. Warum dann nicht etwas mehr Abstand halten. Ist friedlicher und gesünder für alle Beteiligten.

  7. 35.

    Nein. Ich sag nur Afghanistan. Waffen verlängern kriege. Und die Ukraine wird noch mehr Land verlieren. Wir machen der Ukraine falsche Hoffnungen.

  8. 34.

    Wir denken, dass wir vieles besser wissen.

    Genau das ist unser Problem. Wir glauben, wir sind anderen überlegen.

  9. 33.

    Wurde nicht in Deutschland die Webseite eines russischen Nachrichten-Senders gekappt? Und das aus recht fadenscheinigen Gründen.

  10. 32.

    "Die Überlegungen müssen nach Vorne gehen. Wie ist der Krieg zu beenden"

    Mit der Panzerhaubitze 2000 und Himars- Mehrfachracketenwerfer

  11. 31.

    In menschlicher Hinsicht ist Ihr Kommentar ein absolutes Armutszeugnis.

  12. 30.

    Schon jemals geschaut, wie Nachbarn sich streiten? Dazu braucht es nicht viel.

  13. 29.

    Passt etwas von ihrem Kommentar zu meinem? Bin offenbar zu dumm für Ihre Antwort. Es ging um die Familie. Und das ist unabhängig sämtlicher Grenzen und Systeme. Und das ist gut so. Sie können gerne Ihnen nicht genehme Familienmitglieder aussortieren. Für mich geht Zusammenhalt vor. Sie würden wohl auch Ihre Mutter verstoßen.

  14. 28.

    Sie leben in einer Gesellschaft die freien Zugänge zu den Medien hat. In Russland herrscht Propaganda und es gibt ein Gesetz das nicht von Russland autorisierte Nachrichten über den Krieg unter Strafe stellt. Die junge Frau und ihre Mutter würden in Russland als Kriminelle abgestempelt! Im übrigen betrachten Sie einmal die Situation im NS-Regime, sie haben große Ähnlichkeit. Der Mut der Frauen kann nicht hoch genug gewürdigt werden, aber Sie riskieren Gesundheit und Freiheit!

  15. 27.

    Sachlich gesehen geht es nicht um uns einfache Menschen. Es geht um Geopolitik von jenen, die sehr reich und mächtig sind. Interessen von wenigen, die ihren Einfluss, ihre Anwesen, ihre Finanzen, ihr Leben eigentlich im Westen haben, während der Androhung, westliche Hauptstädte zu bombardieren, wollen Sie den Lebensraum einschüchtern, der von ihnen bevorzugt wird. Während des Krieges wird Putins Tochter in Deutschland verschönt, obwohl Sie Papas Ideologie folgt. Globalisierung hat für Mächtige eine andere Bedeutung.
    Dieser Krieg scheint emotional unbegreiflich, jedoch spiegelt er die immer wiederkehrende nackte Realität der Unvollkommenheit des menschlichen Seins dar. Wir sind furchtbare Wesen. Wir sehnen uns nach Frieden, aber sind die unfriedlichsten Wesen überhaupt. Der Mensch könnte so viel erreichen, wenn alle wirklich zusammenhielten, aber das können wir Menschen wohl nicht. Spielraum für Mächtige mit der Angst und der Abhängigkeit der Menschen.

  16. 25.

    Bitte die Chronologie nicht so anpassen, wie es gerade passt, sonder sie lassen wie sie ganz gut dokumentiert ist.

  17. 24.

    Kontakt zur Familie abbrechen weil man politisch nicht miteinander kann? Ernsthaft? Freunde kann man sich aussuchen, Familie nicht. Und das ist auch richtig so. Mit Verlaub, so radikal wie Sie sind, macht es bestimmt keine Freude, Sie zum Freund zu haben. Aber wenn Sie Familie wären, würde ich da trotzdem durch. Man kann auch mal Themen auslassen. Tabuisierung ist nicht grundsätzlich schlecht. Spätestens bei einer Erkrankung in der nahen Verwandtschaft werden Sie das merken. Es gibt wichtigeres also zuhause Stammtisch zu spielen.

  18. 23.

    Der Vergleich hinkt. Und die Teilung Deutschlands hat zur Folge gehabt, dass in einem Teil quasi eine Diktatur durch eine andere abgelöst wurde. Zu berüchtigten ist auch, dass damals Hitler nicht mal eben eine Atombombe werfen konnte. Putin könnte jederzeit Kiew ausradieren. Das muss man im Hinterkopf behalten, die Ukraine kämpft gegen jemanden mit Atomwaffen.


  19. 22.

    Politik sollte man außerhalb der Familie halten. Das gibt nur Stress und führt zu nichts. Zur Frage in der Überschrift gibt es nur eine Antwort: „Nein Danke, ich sag Bescheid wenn ich Hilfe brauche“. Ganz so nebenbei sollte man mal schauen, wie Menschen in Russland und in der Ukraine weiterhin ihrem Alltag nachgehen. Sogar in Kiew. Alltag im Krieg gibt es. Daher ist ein Waffenstillstand das Gebot der Stunde.

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