75. Jahrestag der Pogromnacht - "Ich will stark bleiben bis zuletzt": Berliner Juden im Nationalsozialismus

Fr 08.11.13 | 16:10 Uhr
Hetzmarsch gegen Juden [Foto: dpa]
Video: HU/Inforadio | 03.11.2013 | Video von Monique Beauvais & Maximilian Ulrich

Die Pogromnacht vom 9. November 1938 jährt sich zum 75. Mal. Die Übergriffe der Nationalsozialisten waren der Auftakt zur offenen Gewalt gegen Juden. Für das Projekt "Wegmarken" haben rbb Inforadio-Reporter und Studierende der Humboldt Universität bisher unbeachtete Briefe und Dokumente in Archiven gesichtet und Nachfahren aufgespürt, um herauszufinden, wie Juden in Berlin die Verfolgung erlebten.

"Was wir jetzt tun werden, tun wir, um ein quälendes unwürdiges Leben abzukürzen. Es muß Euch ein befreiender Gedanke sein, uns im Frieden zu wissen, als gequält und gefaßt und innerlich zermürbt, fern der Heimat zu vegetieren." - so beginnt der Abschiedsbrief von Eugen und Anna Vandewart an ihre drei Töchter. Das Ehepaar aus Berlin-Charlottenburg erhält Anfang November 1941 seinen Deportationsbescheid. Um ihrem unausweichlichen Schicksal zu entgehen, wählen beide den Freitod. Sie liegen auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben.

Doch ihr Brief sollte die Töchter nicht erreichen. Alle drei verlassen Berlin im April 1939 - zunächst nach England, dann trennt sich ihr Weg: eine geht nach Neuseeland, die andere nach New York und die dritte bleibt in Großbritannien. Deshalb schließt die Kriminalpolizei die Akte Vandewart mitsamt Abschiedsbrief, da es keine im Inland lebenden Verwandten mehr gäbe, hieß es damals. Erst 2013 taucht durch Recherchen im Rahmen des Projektes "Wegmarken" der Brief in den Akten des Landesarchivs Berlin auf - und findet den Weg nach Neuseeland. Somit kann zumindest noch eine Tochter die letzten Worte ihrer Eltern lesen.

Verfolgung und Verzweiflung

Die Vandewarts sind nur ein jüdisches Schicksal, das das Projekt "Wegmarken" von rbb Inforadio und Studierenden der Historischen Wissenschaften der Berliner Humboldt-Universität aufgespürt hat. Dafür recherchierten sie in Berliner Archiven nach Briefen und persönliche Dokumenten, um die Geschichten von Berliner Juden in den 30er Jahren aufzuspüren.

Wie erlebten sie die Verfolgung in der NS-Zeit? Welche Entbehrungen und Qualen mussten Berliner Juden erleiden? Neben ihren Geschichten fanden die Autoren auch Angehörige und Nachkommen, die einige Zeugnisse ihrer Familiengeschichte teils noch gar nicht kannten.

Auf der Website des Online-Projekts sind die einzelnen Geschichten auf einer Stadtkarte markiert. Alle erzählen anhand von Original-Dokumenten, Bildern und Audio-Zitaten bewegende Geschichten von Verfolgung, Verzweiflung und enttäuschter Hoffnung im Berlin der 30er und 40er Jahre.

Eine solche ist auch die Geschichte der Familie Lindenberg: Ihre Kinder schicken sie rechtzeitig nach England, für ihre eigene Ausreise in die USA bewerben sich Edith und Willy Lindenberg um ein Visum. Mehr als zwei Jahre warten sie auf einen Entscheid. Doch als sie ihr Ticket für ein Schiff über den Atlantik endlich erhalten, ist das Amerikanische Konsulat in Berlin bereits dicht. Ihnen gelingt die Reise in die Freiheit nicht. Sie werden mit dem Zug gen Osten deportiert. In Minsk verliert sich ihre Spur.

Dramatische Briefwechsel

In Berlin wird ab Mitte der 30er Jahre die Ausgrenzung von Juden offen vorangetrieben. Im Villenviertel Grunewald, wo viele Juden wohnen, wird in der Pogromnacht des 9. November 1938 die Synagoge zerstört. Die offene Gewalt zeigt den Juden immer deutlicher, wie gefährlich Deutschland wird. Auch der Familie Bing, deren Geschichten die "Wegmarken"-Autoren erzählen. Sie lebt in Berlin-Grunewald, bis die Nazis ihr Zuhause zerstören.

Die Söhne Heinz und Gerhard retten sich nach Großbritannien und versuchen in dramatischen Briefen, die Ausreise ihrer Eltern Mathilde und Georg zu bewerkstelligen: "Bitte, bitte hilf Mutti in dieser Angelegenheit. Sie soll bloß schon jetzt anfangen, soweit es geht ihre Sachen in Ordnung zu bringen, dass sie bald den Pass bekommen kann. Es kommt nicht in Frage, dass Mutti eine Stunde länger in Deutschland bleibt", schreibt Sohn Gerhard im März 1939 einem Freund der Familie.

Doch die Eltern werden ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert und ermordet. Zurück bleibt nur ein letzter Brief von Mutter Mathilde: "Ich will euch nur sagen, dass ich alles versucht habe, um diese Zeit zu überleben. Immer hatte ich diese schreckliche Sehnsucht nach Euch beiden. Ihr müsst es fühlen, wie lieb ich Euch habe. Lebt wohl ihr beiden, ich kann nun nicht mehr, sonst muss ich weinen, und ich will stark bleiben bis zuletzt. In Gedanken küsse ich Euch tausendmal. In großer, großer Liebe, Mutti."

Johanna Kleinschroth hat die Geschichte der Familie Bing recherchiert (Bild: Ch. Wildt, rbb-Inforadio)
Johanna Kleinschrot erzählt die Geschichte der jüdischen Familie Bing aus Berlin-Grunewald.

Darf man diese Geschichten ungefragt veröffentlichen?

Der Familiengeschichte der Bings ist die Projektteilnehmerin Johanna Kleinschrot mit Hilfe des Jüdischen Museums Berlin nachgegangen. Bei ihren Recherchen hat sie sich oft gefragt, wie weit sie dabei gehen sollte: "Ich war mir unsicher, was man lesen darf, was man überhaupt weitergeben darf. Doch die Enkelin von Mathilde Bing hat mich in der Entscheidung bestärkt, diese Geschichte zu veröffentlichen und anderen zugänglich zu machen", schildert Johanna Kleinschrot ihre Vorgehensweise. Sie ist beeindruckt von der Eindringlichkeit und der Hoffnung, die sich stets aus den Briefen herauslesen lässt.

Ähnlich erging es der Autorin Susanne Hahn, die sich mit der Odyssee der Familie Lindenberg um ein US-Visum auseinandergesetzt hat. "Ich wusste von Anfang an, dass es nicht gut ausgeht, dass die Eheleute den Tod finden werden. Und trotzdem habe ich beim Lesen der Akte immer wieder gehofft, dass sie vielleicht doch überleben, dass sie die Ausreise schaffen und ihre Kinder wiedersehen", beschreibt Susanne Hahn ihre Gefühlslage während des Projekts.

Dass es auch 75 Jahre nach der Pogromnacht und dem Beginn der systematischen Verfolgung jüdischer Familien in Berlin und Deutschland wichtig ist, diese Einzelschicksale zu erzählen, zeigt das "Wegmarken"-Projekt sehr eindringlich. "Das waren völlig normale Familien, deren Leben durch das Regime zerstört wurde", sagt Susanne Hahn. "Das macht unheimlich traurig und nachdenklich, aber er hilft uns, im eigenen Leben Toleranz zu üben und Ereignisse kritisch zu reflektieren."

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