rbb-exklusiv | Interner Polizei-Bericht zum Anschlag in Berlin - Fahndung nach Amri kam viel zu spät

Fr 15.09.17 | 14:36 Uhr | Von Sascha Adamek und Jo Goll, Redaktion Investigatives und Hintergrund
  31
Archivbild Polizist am Anschlagsabend am Breitscheidplatz (Quelle: dpa/Michael Kappeler)
Video: Abendschau | 15.09.2017 | Jo Goll, Sascha Adamek | Bild: dpa/Michael Kappeler

Nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz leitete die Berliner Polizei erst nach Stunden wichtige Anti-Terror-Maßnahmen ein. Das geht aus einem internen Bericht hervor, der dem rbb und der "Berliner Morgenpost" vorliegt. Die Einsatzleitung sei "ungeübt gewesen". Von Sascha Adamek und Jo Goll

Nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember vergangenen Jahres muss sich die Berliner Polizei erneut schwere Versäumnisse vorwerfen lassen. Laut einem bisher unveröffentlichten polizeiinternen Bericht, der dem rbb und der "Berliner Morgenpost" vorliegt, hat die Behörde mehr als drei Stunden verstreichen lassen, bis sie die bei Terrorlagen vorgesehenen "Fahndungssofortmaßnahmen" einleitete.

In den ersten Stunden nach der Lkw-Todesfahrt suchten die Einsatzkräfte daher weder gezielt die Umgebung des Breitscheidplatzes ab, noch kontrollierten sie mögliche Fluchtwege auf Straßen oder Bahnstrecken. Der Attentäter Anis Amri konnte sich so frei in der Stadt bewegen und ungehindert seine Flucht antreten.

"Maßnahme 300" erst um 23:08 Uhr ausgelöst

Die Spezialisten des Berliner Landeskriminalamtes gingen nach der Lkw-Todesfahrt laut Polizeibericht frühzeitig davon aus, dass es sich um einen Terroranschlag handelte. Der diensthabende Polizeiführer klassifizierte die Lage dennoch zunächst als "Verdachtsfall Amok"und verzichtete auf die als "Maßnahme 300" bezeichnete sofortige Fahndung. Hinter "Maßnahme 300" verbirgt sich die Anweisung, sämtliche islamistischen Gefährder zu Hause aufzusuchen und so genannte Verbleibskontrollen durchzuführen.

Grund war laut Bericht unter anderem, dass die Polizei bereits eine halbe Stunde nach dem Anschlag einen Tatverdächtigen festgenommen hatte. Weitere Maßnahmen hielt die Polizeiführung daher offenbar nicht für nötig. Später stelle sich allerdings heraus, dass der Festgenommene mit dem Anschlag nichts zu tun hatte, und der wahre Täter, Anis Amri, bewaffnet und flüchtig war.

Die "Maßnahme 300" wurde in Berlin erst am 19. Dezember um 23:08 Uhr ausgelöst, also mehr als drei Stunden nach dem Anschlag. In Brandenburg, Thüringen und Bayern, sowie von der Bundespolizei, wurden umfassende Fahndungsmaßnahmen laut Berliner Polizeibericht dagegen bereits deutlich früher eingeleitet. Das Lagezentrum Bayern beauftragte bereits um 21:36 Uhr das Polizeipräsidium Oberfranken aufgrund des "Terroranschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt" mit einer Fahndung. Thüringen ließ um 22:20 Uhr eine Kontrollstelle auf der A9 errichten. Die Kommunikation der Berliner Polizei sei von Sicherheitsbehörden mehrerer Länder "als unzureichend kritisiert" worden.

Auch die Klassifizierung des Ereignisses in Berlin ist dem Bericht zufolge mehr als eigentümlich verlaufen: Noch am Tag nach dem Anschlag klassifzierte die Berliner Polizei ihn als "Verdacht des Anschlagfalls". Erst am 20. Dezember um 16 Uhr war der Anschlag nun auch in der Berliner Polizeikommunikation ein "Anschlag".

"Ungeübte Führungsgruppe"

Der 120 Seiten starke Bericht der polizeiinternen sogenannten "Nachbereitungskommission" liegt in der Berliner Polizei nach Informationen der "Berliner Morgenpost" und des rbb bereits seit etlichen Monaten vor, wurde aber bisher nicht öffentlich gemacht. Er behandelt das gesamte Einsatz- und Ermittlungsgeschehen nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz.

Die Verfasser nennen darin weitere schwerwiegende Versäumnisse. In den ersten drei Stunden nach dem Anschlag sei der Einsatz durch eine "ungeübte Führungsgruppe" geleitet worden, deren Personalzusammensetzung "zufällig ausgewählt" gewesen sei. Die Einsatzkräfte am Anschlagsort hätten "keine Aufträge" erhalten "und "handelten in weiten Teilen intuitiv", heißt es. "Der benötigte zeitliche Vorlauf bis zur Führungsübernahme durch den Polizeiführer Phase 2 mit fast drei Stunden ist als problematisch zu bewerten", heißt es in dem polizeiinternen Papier. 

Die handelnden Führungspersonen waren überdies in wichtigen Punkten unvorbereitet. So gebe es zwar digitale Einsatzakten, in denen zum Beispiel Checklisten verzeichnet sind, die den Beamten klarmachen, was zu tun ist. "Gleichwohl war die Existenz der Einsatzakte nicht allen eingesetzten Führungskräften bekannt."

Scharfe Kritik an Polizei-Führung

Der innenpolitische Sprecher der FPD, Marcel Luthe, sprach angesichts des Berichts von einem "heillosen Durcheinander" und forderte indirekt den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt. "Wenn die Aussagen des Berichts zutreffen, ist die Führung der Berliner Polizei meines Erachtens nach nicht zu halten", sagte Luthe dem rbb und der "Berliner Morgenpost".

Deutliche Kritik äußerten auch die in Berlin mitregierenden Grünen und die Linke. "Es muss geklärt werden, wer das zu verantworten hat, dass man Amri hier sehenden Auges hat laufen lassen und damit die Gefährdung der Berliner und Berlinerinnen riskiert hat", sagte die rechtspolitische Sprecherin der Grünen, Canan Bayram. Der Innenexperte der Linke, Hakan Tas, forderte, Polizeipräsident Kandt müsse sich im Amri-Untersuchungsausschuss erklären.

Der innenpolitische Sprecher der FPD, Marcel Luthe, sprach angesichts des Berichts von einem "heillosen Durcheinander" und forderte indirekt den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt. "Wenn die Aussagen des Berichts zutreffen, ist die Führung der Berliner Polizei meines Erachtens nach nicht zu halten", sagte Luthe dem rbb und der "Berliner Morgenpost".
Der innenpolitische Sprecher der FPD, Marcel Luthe, sprach angesichts des Berichts von einem "heillosen Durcheinander" und forderte indirekt den Rücktritt des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt. "Wenn die Aussagen des Berichts zutreffen, ist die Führung der Berliner Polizei meines Erachtens nach nicht zu halten", sagte Luthe dem rbb und der "Berliner Morgenpost".

Beitrag von Sascha Adamek und Jo Goll, Redaktion Investigatives und Hintergrund

31 Kommentare

Wir schließen die Kommentarfunktion, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt. Bei älteren Beiträgen wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen.

  1. 31.

    Tja liebe Kommentatorin: Pressefreiheit eben. Drehen wir ebenfalls im freiheitlichen Sinne den Spiess um und unterstellen oberflächliche Recherche bzw. böswillige einseitige Meinungstreiberei. Sollen die öffentlich auftretenden Meinungsmacher belegen wie sie zu ihrem Ausführungen kommen. Die Welt hat nichts von Geschichtsverfälschung.

  2. 30.

    Da waren die Bayern mit der Auslösung von Terroralarm viel schneller, nämlich ca. 30 Minuten nach Bakanntgabe und Übermittlung. Man hätte in Berlin solch ein Szenario viel öfter komplett üben müssen, unter Beteiligung von Offizieren unserer Bundeswehr. Die wissen wie man sowas im Ernstfall durchzieht. Der damalige Einsatzleiter muss zwingend seinen Hut nehmen, vielleicht auch der Polizeipräsident.

  3. 29.

    Stimmt, dort werden von höchster Stelle angeordnet Hinweise und Spuren nicht verfolgt, Ermittlungsakten werden manipuliert und Aservate "verschwinden".

    Und erst nach 35 Jahren, nachdem die Wiederaufnahme der Ermittlungen immer wieder behindert oder verhindert wurden ist es den Opfern und deren Anwälten, mutigen Journalisten und Politikern zu verdanken dass dieser heimtückische Anschlag evt. doch noch aufgeklärt wird.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Oktoberfestattentat#Wiederaufnahme_der_Ermittlungen

    Also liebe Bayern hier, erst vor der eigenen Haustüre kehren... Da habt ihr genug zu tun.

  4. 28.

    Immer schön auf dem Teppich bleiben u.zum Kotzen gehen wir immer noch aufs Klo.Welch ein Segen all d.vielen netten Touristen welche hier auf unserer Insel gereist kommen.Trotz Armut sind u.bleiben wir auch sexy u.das ist auch gut so.

  5. 27.

    Hat das denn irgendwelche Auswirkungen ?

    Leider müssen wir hier immer noch lesen, daß sich nach dem Attentat
    niemand um die Angehörigen bemüht hat. Bis heute erfolten nicht einmal
    nennenswerte Finanzhilfen.

    Merkel hat zwar ihre Anwesenheit auf dem Weihnachtsmarkt an diesem
    Jahresende zugesagt, aber das wars dann auch in Sachen Poltikfachkräfte
    und Kirchenfürsten.

    Es fehlen bis zum heutigen Tage Angaben zum Fluchtweg Amris quer
    durch unser Land. Erst in Holland lebt die Spur auf.

    Aber es ist unbedingt zu begrüßen, daß sich rbb des Falles - ein wenig
    jedenfalls - angenommen hat.

  6. 26.

    Wenn die Polizeiführung sonst immer gezwungen wird vieles auf kliener Sparflamme zu halten, denke ich
    wollten sie sich nicht mit der Führung Berlins verderben!

    Dieses verharmlosen war ja auch in NRW der Fall!

    In Bayern wäre das nicht passiert!!!!

  7. 25.

    Berlin....
    liebe Berliner, bitte nicht böse sein, aber auch das ist wieder typisch Berlin. Ihr seid aus eurer Insellage und dem bequemen Leben nie herausgekommen. Kriminalität und deren Bekämpfung, Schulen, Flughafen, Polizei, S-Bahn, usw.
    alles ist war und bleibt immer auf unterstem Niveau. Arm, und bestimmt nicht sexy

  8. 24.

    Mal nur kein Neid aus dem Millionen Dorf.
    Auf was ihr Bayern so stolz seid : Siemens, BMW kommt alles nicht aus Bayern. Und Länderfinanzausgleich konntet ihr auch nicht genug bekommen.
    Ist doch klar das Berlin Geld vom Bund bekommt. Hier ist die Hauptstadt. Auch wenn es Horstl und seinen Spezis nicht passt. Und Zum Thema Flughafen: der ist fast in Nürnberg und hat mit Planung ja auch überr 30 Jahre gebraucht.

  9. 23.

    Ich kann diesem namen nicht mehr lesen. Es geht immer nur um den Täter.
    Diese einseitige Berichterstattung ist nicht zum aushalten.

  10. 22.

    Für mich ist unverständlich, wieso die Behörden dem kriminellen Treiben dieses Verbrechers so lange zugesehen haben. Im Untersuchungsausschuß wird dies hoffentlich geklärt und entsprechend gewürdigt. Bisher hat noch kein Beteiligter sein Verschulden zugegeben. Hoffentlich werden die Anhörigen der Opfer nicht klein beigeben !

  11. 21.

    Die Frage hierzu wäre, ob wir damit rechnen können, dass es eine von uns letztendlich gewählte öffentliche Instanz gibt, die den eigentlichen Tathergang aufklärt. Aber hier der für mich springende Punkt. Im allgemeinen wird ja so getan, als sei längst klar was passiert ist(das, was Mainstream uns in Funk/Fernseher/Zeitung spektakulär berichtet hat inkl. "Erinnerungen"zur Weihnachtszeit, datumsnah zum 11. September)So klar, dass es nun lediglich darum ginge das Zusammenarbeiten von Behörden nach dem uns geschilderten Anschlag zu beleuchten. Also rechnen Sie besser nicht mit einer Antwort auf Ihre Frage. Denn hier wären wir bei einer Aufklärung des uns geschilderten Anschlages, die nicht stattgefunden hat.

  12. 19.

    Es wäre interessant zu wissen, wer die Aufmerksamkeit der Polizei auf den Pakistaner gelenkt hatte, so dass der eigentliche Täter entkommen konnte.

  13. 18.

    Längst bekannt sind fatale Verwicklungen von Politik zu Wirtschaft und vielen Medien. Wir wollen uns lieber vorstellen, dass es Behördenversagen ist, das die Aufklärung eines Vorganges behindert hat. Eines Vorganges, der als unser kleines 9/11 einen Eintrag in unsere Wahrnehmung gefunden hat. Was lässt uns denn seit bald 2 Jahren bei der"Aufklärungsarbeit" mitfiebern, und so sicher sein, dass der Anschlag tatsächlich so stattgefunden hat, wie meist dargestellt? Es gibt hierzu längst Hinweise im Netz, die es meiner Meinung nach wert sind, Beachtung zu finden. Jeder kann hier fündig werden, sofern er danach sucht.

  14. 17.

    Klar die mussten ja erstmal ausdiskutieren...sollen wir, sollen wir nicht...der arme Flüchtling...

  15. 16.

    Anis Amri wäre ohne die Unterstützung der damals rot/grünen NRW-Landesregierung sowie der grün/roten BW-Landesregierung erst gar nicht die Möglichkeit zu Tourneereisen in IS-Moscheen (u.a. in Hildesheim/Niedersachsen (rot/grün) und B-Moabit) sowie dem finalen Terroranschlag gegeben worden. Wer hat denn die Entlassung aus der Abschiebehaft des bekannten Gefährders wissentlich voran getrieben?

    Die europaweit als islamistisch bekannten Moscheen wurden erst im Sommer 2017 geschlossen/verboten, nachdem dort tausende Moslems radikalisiert worden sind. Nun ist die Wallfahrt dorthin beendet. Dutzende werden heute noch bundesweit betrieben und ständig neue eröffnet/gegründet.

  16. 15.

    Immer mehr schnüffeln, die Sammelwut illegal speichern und im Zugriff haben wollen, dann aber den eigenen Kram miss-interpretieren. Falsche Schlüsse ohne Ende, zäh reagieren - von Agieren will ich gar nicht reden. Ein unfähiger Überwachungsstaat - entlassen kann man keinen dieser Unfähigen. Obeohl: Gegen einfache Bürger und Park-Bagatellen, da spürt man die ganze Härte des Gesetzes. Ist ja auch einfach, denen habhaft zu werden. Man schlägt den Sack und meint den Esel.

  17. 14.

    An Bunter Rheinländer
    seltsam das in rot/grün.......
    genau und die "Amokläufe" und "Terroranschläge" in Bayern vergessen wir gelle, denn in Bayern hat so was nicht zu passieren.

  18. 13.

    Da brach die große Konfusion aus was sonst. Dann wurde hektisch hin und her telefoniert, x Personen waren grade nicht zu erreichen, Rücksprachen usw und so fort. Wir kennen doch uns und unser Land. Preußen wirkt. Bis heute. Was riskieren und auf die eigene Kappe nehmen? Da sagt sich der Deutsche: "Ich doch nicht!"

  19. 12.

    Meiner Meinung nach ist es eine Verkettung von Fehlern, die über die polizeiliche Ebene hinausführen. Während man der Politik sich statt offizieller Fehlerbekenntniss nur den schwarze Peter umherschiebt und man mit rhetorischen Weisheiten umherwirbelt, wird dem Bürger der Einblick auf das Gesamtversagen (oder auch Staatsversagen) weiterhin verwehrt.

    Und was wird sich ändern? ...

Nächster Artikel

Das könnte Sie auch interessieren