Erste Bescheide liegen vor - Breitscheidplatz-Angehörige enttäuscht über Opferrenten

Di 19.06.18 | 06:00 Uhr
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Archivbild: Anteilnehmer gedenken den Opfern des Anschlags am Breitscheidtplatz am 22.05.2017. (Bild: imago/Stefan Boness)
Video: Abendschau | 19.06.2018 | Jo Goll und Norbert Siegmund | Bild: imago/Stefan Boness

Was ist ein Menschenleben wert? Lässt sich Leid in Euro beziffern? Angehörige der Opfer des Breitscheidplatz-Anschlags haben erste Bescheide über Rentenzahlungen bekommen. Die Enttäuschung ist groß. Von Jo Goll und Norbert Siegmund

Ob im Deutschen Bundestag oder im Berliner Abgeordnetenhaus: Wenn die Untersuchungsausschüsse zum Behördenversagen im Fall Amri tagen, ist Astrid Passin fast immer dabei. Die gelernte Grafikerin und Modedesignerin hat beim Weihnachtsmarktanschlag ihren Vater verloren.

Stundenlang lauscht sie dann den Zeugenvernehmungen, die Aufklärung darüber bringen sollen, warum ihr Vater und elf weitere Menschen sterben mussten - obwohl die Sicherheitsbehörden den späteren Attentäter über Monate im Fokus hatten. Und jedes Mal setzt es ihr zu, wenn sie miterleben muss, wie sich die Aufklärung im Fall Amri hinzieht.

140 Euro Rente im Monat

Doch dieser Tage ist für Passin und viele Angehörige der Terroropfer noch etwas anderes bedrückend. Gut eineinhalb Jahre nach dem Anschlag kamen die ersten Rentenbescheide - in Passins Fall ein vorläufiger Entscheid. Und der fällt deutlich geringer aus als erwartet. 140 Euro erhält die Inhaberin eines Modeladens nun monatlich, weil ihr nach eingehender Untersuchung eine psychoreaktive Störung als Folge des traumatischen Verlustes des Vaters bescheinigt wurde.

Astrid Passin fragt sich nun, wie man den Verlust eines nahen Verwandten in Euro bemessen kann. "Viele empfinden das, was die Bundesregierung uns anbietet, als lächerlich und peinlich", sagt sie verbittert. "140 Euro im Monat reichen niemals aus, um die Ausfälle auszugleichen, die man durch das, was geschehen ist, hat."

Mühsamer Nachweis der Bedürftigkeit

In der Tat muten 140 Euro Rente monatlich nicht gerade großzügig an. Und schon gar nicht für einen Staat, der im Fall Amri immer wieder versagt hat. Astrid Passin musste ihren Mode-Laden in den vergangenen 18 Monaten immer wieder schließen, weil sie seit dem Tod des Vaters noch immer therapiebedürftig ist. Und auch das musste sie mühsam nachweisen. Erst ein Jahr nach dem Anschlag bekam sie den nötigen Termin bei einer Psychiaterin.

Ähnlich schwierig war das bei Petr Cizmar, der seine Frau und die Mutter seines Sohnes beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz verlor. Drei Stunden lang – teilweise in der Unterhose - musste sich der Tscheche untersuchen lassen. Erst dann stand fest, dass auch er eine kleine Rente erhalten wird.

Rente nur bei "definiertem Grad der Schädigung"

Auch wenn sie Elternteil oder Kind verloren haben, müssen Angehörige einen bestimmten Mindestgrad an psychischer Schädigung nachweisen. In einem Fall - die Angehörige will anonym bleiben - lehnt das zuständige LaGeSo trotz diagnostizierter psychoreaktiver Störung eine Rente gänzlich ab. Eine monatliche Grundrente stehe nicht zu, weil die anerkannten Schädigungsfolgen den "definierten Grad der Schädigung nicht erreichen", heißt es in dem Gutachten, das dem rbb vorliegt.

Astrid Passin kann das als Sprecherin der Hinterbliebenen nicht nachvollziehen. Hier, so meint sie, entscheide offenbar am Tag des Gutachtens die Tagesform. "Ich weiß nicht, wie man das katalogisieren kann. Wenn ich bei der Untersuchung zusammenklappe und einen psychisch angeschlagenen Eindruck hinterlasse, bekomme ich etwas. Wenn ich am Tag der Untersuchung aber gefestigt auftrete, gehe ich leer aus? Das kann doch nicht sein."

Opfer fühlen sich allein gelassen

Dabei hatte der damalige Justizminister Heiko Maas noch kurz vor dem Jahrestag des Anschlags im Dezember 2017 verkündet: "Diese Menschen sind zu Opfern geworden, weil sie stellvertretend für uns alle getroffen worden sind. Und deshalb dürfen der Staat und die Gesellschaft sie jetzt auch nicht alleine lassen."

Doch genau so fühlen sich etliche Angehörige der Opfer vom Breitscheidplatz – ein Stück weit allein gelassen.

Sendung: Inforadio, 19.06.2018, 06.00 Uhr

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28 Kommentare

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  1. 28.

    Was sind das für Verhältnisse,Thüringen hat die Hinterbliebenen der NSU Morde mit 1,5 Millionen Euro entschädigt. Wie ist das zu erklären?

  2. 27.

    Vielleicht kann man sich an den Hinterbliebenenrenten und Waisenrenten orientieren? Wieviel Rente wird die Mutter des getöteten radfahrenden Kindes in Spandau bekommen? Wieviel Rente erhalten Kinder einer Krebs verstorbenen Mutter oder eines Vaters? Wieviel Rente erhalten Erwachsene, deren Eltern bei einem unverschuldeten Verkehrsunfall starben?

  3. 26.

    Ich verstehe überhaupt nicht warum die Opfer bzw. deren Angehörige Entschädigung vom Staat wollen.
    Zum einen sollten Sie sich mit Ansprüchen an den Täter bzw. dessen Erben wenden.
    Zum anderen: Wo liegt denn hier ein Verschulden des Staates? Wenn ich vor die Türe gehe, rechne ich durchaus damit, dass mir irgend etwas passieren könnte. Das nennt man allgemeines Lebensrisiko. Mal gibt's einen direkten Verursacher (hier den Täter), mal auch nicht. Ist doch eine Unverschämtheit dann vom Staat einen Ausgleich zu verlangen! Das sind schließlich unser aller Steuergelder.

  4. 25.

    "Einen Termin bei einem Facharzt für Psychiatrie dauert kein Jahr, auch bei langer Warteliste nicht. "

    Das entspricht in keinster Weise den Tatsachen. Wenn Sie heute, als Kassenpatient wohlgemerkt, in Berlin einen Termin in einer neurologisch-psychiatrischen Praxis benötigen, bekommen Sie auch in einem Jahr keinen.
    Die guten Praxen sind ehedem privat, bei den wenigen mit gutem Ruf, die auch Kassenpatienten behandeln, ist Annahmestop die Regel. Nachdem meiner behandelnden Ärztin von den Kassen die Praxis geschlossen wurde, musste ich jahrelang in die Ambulanz der Charité, die jedoch lediglich Medikamente verschrieb, bevor ich eine neue, katastrophal überlaufene Praxis fand, in der es grundsätzlich lediglich 2 Termine pro Jahr pro Patient gibt. Wenn sie überhaupt aufgenommen werden.

  5. 24.

    @ Frank / Telto / 11:52

    Danke für Ihren Kommentar! ... In Zeiten in denen unsere Demokratie inzwischen von so Vielen, so sehr in Zweifel gezogen wird, ein wichitger Appell an alle Journalisten Ihrer Verantwortung gerecht zu werden und nicht nur Ihr Fähnchen nach dem vermeintlich neuen Wind zu richten! Wer dieses Thema hier anrührt, sollte sich schon darüber im Klaren sein, daß man damit sehr viel - auch falsche - Politik betreiben kann! ... Nur ist den Hinterbliebenen dann damit noch lange nicht geholfen!

  6. 23.

    Sehr geehrter Frank,

    die zuständige Behörde ist doch im Artikel benannt - das LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales).

  7. 22.

    Es ist traurig, dass es Terror gibt und dass Menschen deshalb sterben müssen. Es ist aber genauso traurig, dass es Menschen gibt, die daraus Geldansprüche ableiten. Ich habe wenig Verständnis für die Forderungen der Hinterbliebenen. Mit scheint es sinnvoller die Energie in die psychische Bewältigung des Geschehenen zu setzen -als in die Durchsetzung von Renten. Geld hilft niemandem den Verlust eines Menschen zu bewältigen. Ist der Staat denn wirklich verpflichtet Besucher eines Weihnachtsmarkts vor Terrorangriffen zu schützen?

  8. 21.

    Wenn es nach dem Staat allein gehen würde,würde es nichts geben und das Thema am liebsten totgeschwiegen.

  9. 20.

    Der Verlust eines Angehörigen ist immer schlimm, ich weiß das, weil ich bei zwei tragischen Verkehrsunfällen einen Enkel und die Lebensgefährtin meines Sohnes verloren habe. Nun frage ich mich gerade, wie Geld diesen Verlust ausgleichen soll. Ich weiß nicht, wie sich aus der Tat ein Anspruch an die Gesellschaft herleitet. Ich weiß nicht, was der Mann nun erwartet. Vielleicht klärt mich mal jemand über die rechtliche Seite auf.

  10. 19.

    Sehr geehrter Herr, wer ist nicht informiert oder hat schlecht recherchiert? Politiker schaffen gemeinhin die Rahmenbedingungen für das, was in diesem Land passiert. Herzlicher Gruß

  11. 18.

    Die Äußerungen von Frau Passin ist zum einen nachvollziehbar. Anderseits ist es schon etwas daneben, die Gutachter so zu diskreditieren.

    Ansonsten geht es doch hier um eine Rente, die allen Angehörigen mit psychischen Problemen wegen des Verlustes zusteht, oder? Also unha hängig vom Anschlag. Bedeutet, dass die Regierung eine "Sonderrente" beschließen müsste oder die Höhe und Kriterien dieser Rente anpassen.

    Grundsätzlich ist die Frage, was eine angemessene Rente wäre.

  12. 17.

    Ich würde Sie gerne fragen, wie Sie sich eine optimale Lösung vorstellen? Wie würden Sie entscheiden? Ohne jegliche Prüfung? Ohne Regeln? Ohne Berücksichtigung derer, die die gewährten Leistungen zu tragen haben?
    Wir leben in einm guten Rechtsstaat. Entscheidungen werden grundsätzlich nach Prüfung der Sachlage getroffen. Wenn es dabei um das Leid und Wohl des Einzelnen geht, dann fällt dies schwer. In vielen Fällen erscheint es nicht gerecht. Doch sich von Einzelschicksalen allzu stark beim Vorgehen und bei der Festlegung von Regeln beeinflussen zu lassen, ist zwar solidarisch und anständig, aber wenig zielführend und letztlich auch wenig gerecht. Denn die viel zitierte "unbürokratische" Hilfe würde, soweit großzügig angewandt, unweigerlich zur Benachteiligung derer führen, die, weil das Einzelschicksal objektiv nicht ganz so schlimm (subjektiv aber vielleicht noch viel dramatischer empfunden), an die Bürokratie gebunden sind.

  13. 16.

    Nicht entäuschend oder überraschend sndern nur einfach normal in diesem Lande, wo alles und jedes am Geld und von den Kosten abhängt. Absehbar und nichts anderer als konsequent somit, das Vorgehen, in jeder Beziehung. Ein Narr oder Träumer wer es anders erwartet hat, von Staat und der Politik.

  14. 15.

    Ich kann Nr. 10 (Frank) nur beipflichten. Hier fehlt mir das journalistische Maß. Über etwaige Renten entscheiden nicht die Politiker, sondern die Behörden. Man kann das gut oder schlecht finden - aber auch hier sei gefragt: Welches Maß ist angebracht? 140 Euro sind je nach Nettoverdienst zwischen 15 bis 7 Prozent üblicher Einkommen. Es geht nicht darum, dass hier Menschenleben aufzuwiegen, sondern darum eine Hinterbliebenenrente auszuzahlen. Das heißt aber nicht, dass dies als Einkommensersatz gelten soll. Zumal in 30 Jahren selbst 140 Euro sich zu 50.400 aufsummieren. Und lassen Sie nur 20 Personen diese Summe erhalten, dann haben sie auch bereits 1,00 Million beisammen. Für diese Gelder stehen letztlich alle Steuerzahler ein. Und so Schlimm es auch für jeden Einzelnen ist - hunderte Menschen verlieren jeden Tag angehörige und nur ein Bruchteil bekommt dafür eine geldwerte Entschädigung. Daher sage ich Maß halten: Diese Entschädigung soll helfen, aber nicht ersetzen.

  15. 14.

    diese Bescheide sollten der Regierung mal vorgelegt werden.

    Damit die sieht, was ihre großen Versprecher wert sind.

    Nein, das ist kein Tippfehler. Diese Bescheide sind eine Schande.

  16. 13.

    ... - ein RIESIGES Stück weit vom Staat allein gelassen, der seinen verfassungsgemäßen Schutzpflichten nicht nachkam und auch bei der Entschädigung versagt. Wieder offenbart sich mMn die Unfähigkeit der verantwortlichen Politiker, den Wähleraufträgen des Volkes nachzukommen.

  17. 12.

    @ Frank
    Die Bescheide stammen vom Lageso Berlin, von Sachbearbeiterin, abgezeichnet von Vorgesetzten.
    Diese Bescheide basieren auf dem OEG (Opferentschädigungsgesetz), welches allerdings vom Bundestag, der Politik, "denen da oben", wie auch immer sie das benennen möchten, zu verantworten ist.
    Darüber hinaus erhielt jeder Opferangehörige einen Brief vom damaligen Justizminister Heiko Maas, mit eben dem zitierten Wortlaut, dass die Gesellschaft sie nicht allein lasse.
    Dies ist offensichtlich in der Realität nicht so.
    Ich hoffe, dass dies Ihre Aussage etwas zurecht rückt.

  18. 11.

    Beim zweiten Lesen habe ich es nun in einem Nebensatz gefunden: Offenbar ist das LaGeSo fuer diese Entscheidungen zuständig! Wie so oft, hilft das beliebte Politiker-Bashing also hier wenig, denn es sind Verwaltungsmitglieder, die ihre erhebliche Macht in fragwürdiger Weise nutzen: Wir können noch so oft neue Regierungen in allen Farben wählen, Verbesserungen aber hängen immer erheblich davon ab, dass diese Verwaltungen mitziehen.
    Gab es bei der Recherche für diesen Artikel keine Möglichkeit, im LaGeSo in Erfahrung zu bringen, wer auf welcher gesetzlichen und vor allem ethischen Grundlage dieses Bescheide erlässt? Oder hingen die Herren Noll und Siegmund zu lange in der Telefon-Warteschleife des LaGeSo fest, um da einen Termin zu bekommen?

  19. 10.

    Ich habe den Verdacht, dass die Journalisten Goll und Siegmund hier eine etwas dürftige Arbeit abliefern: Hat wirklich ein einziger Politiker über diese Rentenbescheide entschieden? Frau Passin wird mit den Worten zitiert, dass die Hinterbliebenrente ihr "von der Bundesregierung" angeboten würde. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass ein einziges Kabinettsmitglied am Zustandekommen des Betrags von 140 EUR beteiligt war. Ich bitte daher dringend um journalistisch verantwortungsvolle, sachliche und exakte Information, welche Instanz solche Entscheidungen tatsächlich fällt. Diffuse Klagen über "die da oben" gibt es - zu recht und unrecht - schon mehr als genug. Klarheit dagegen fehlt.

  20. 9.

    Man muss es nicht kommentieren, es ist einfach nur beschämend und respektlos.

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