Zweifel an Einzeltäter-These - Attentäter vom Breitscheidplatz hatte offenbar Mitwisser

Di 27.11.18 | 15:46 Uhr | Von Jo Goll, Ulrich Kraetzer und Susanne Opalka, Redaktion Hintergrund und Investigatives
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19.12.2016: Kurz nach dem Terroranschlag auf den Breitscheidplatz (Quelle: Archivbild dpa/Rainer Jensen)
Video: rbb24 | 27.11.2018 | Andreas Jöhrens | Studiogespräch mit Jo Goll | Bild: dpa/Rainer Jensen

Nach Erkenntnissen des Berliner Landeskriminalamtes hat der Attentäter vom Breitscheidplatz möglicherweise Mitwisser gehabt. Das habe eine V-Person berichtet. Von Jo Goll (rbb), Ulrich Kraetzer (Berliner Morgenpost) und Susanne Opalka (Kontraste)

Der Generalbundesanwalt hatte sich früh festgelegt: Bei der Todesfahrt auf dem Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 handele es sich um die "Tat des Einzeltäters Anis Amri", teilte die oberste deutsche Ermittlungs- und Anklagebehörde bereits im April 2017 mit. Belastbare Hinweise auf Mittäter oder Helfer gebe es nicht, gab einer der ermittelnden Bundesanwälte auch im Juli 2017 im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses zu Protokoll.

Mindestens einen Mann eingeweiht

Gut zwei Wochen bevor sich der Tag des Anschlags zum zweiten Mal jährt, gerät die Einzeltäter-These  jedoch ins Wanken. Denn nach Informationen der rbb-Redaktion Investigatives und Hintergrund, der Berliner Morgenpost und des ARD-Magazins Kontraste hatte der Tunesier Anis Amri offenbar mindestens einen Islamisten in seinen Terrorplan eingeweiht.

Im Amri-Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhaus war am Freitag vergangener Woche der Leiter des Berliner Landeskriminalamtes (LKA), Christian Steiof, als Zeuge geladen. Die Abgeordneten hatten hohe Erwartungen an die Vernehmung. Denn die Berliner Morgenpost und der rbb hatten zuvor berichtet, dass das LKA im Umfeld des späteren Attentäters einen informellen Zuträger, eine sogenannte "Vertrauensperson" (V-Person), platziert hatte. Damit stand tagelang die Frage im Raum, ob das LKA Amris Gefährlichkeit mithilfe der Quelle womöglich besser hätte einschätzen können.

LKA-Chef bestätigt Medienbericht hinter verschlossenen Türen

Nach Angaben von Teilnehmern bestätigte Steiof den Medienbericht in der nicht-öffentlichen Sitzung. Und: Das LKA habe sogar drei V-Personen geführt, die zu dem späteren Attentäter Kontakt hatten, soll Steiof eingeräumt haben. Zwei sollen auf Verdächtige im Drogenmilieu, der dritte auf Mitglieder der Dschihadisten-Szene angesetzt gewesen sein. Dass sie Amri kannten, hätten alle drei aber erst nach dem Anschlag mitgeteilt.

Aufgehorcht haben die Abgeordneten, als Steiof über die Erkenntnisse einer der V-Personen aus dem Drogenmilieu berichtete. Diese Quelle habe dem LKA mitgeteilt, neben Amri auch den als Gefährder eingestuften Islamisten Feysal H. gekannt zu haben. Feysal H., so die Quelle weiter, habe ihm erzählt, dass ein gewisser Anis Amri ihn in seine Anschlagspläne eingeweiht habe. Für die Abgeordneten war damit klar: Anis Amri hatte einen Mitwisser, nämlich den Islamisten Feysal H. Und dieser Mitwisser teilte seine Kenntnis von Amris Terrorplänen mit einer V-Person des LKA - womit die Frage, ob das LKA Amri nicht hätte stoppen können, umso dringlicher erschien.

LKA wurde laut Steiof erst nach dem Anschlag informiert

Nach Angaben von Sitzungsteilnehmern versicherte Steiof allerdings, dass das LKA erst nach dem Anschlag von der V-Person darüber informiert wurde, was Feysal H. ihr erzählt hatte. Hätte das LKA die V-Person vor dem Anschlag gezielter befragen können? Diese Frage blieb nach Angaben von Sitzungsteilnehmern auch nach der Vernehmung offen.

Wer aber ist der Mann, der laut eigener Aussage von Amri ins Vertrauen gezogen worden war? Laut behördeninternen Unterlagen, die die Berliner Morgenpost und der rbb einsehen konnten, ist Feysal H. als islamistischer "Gefährder" eingestuft, mehrfach vorbestraft und zurzeit wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung. Den späteren Attentäter Amri kannte er offenbar aus mehreren Milieus. Zum einen verkehrten beide in der Dealer-Szene, zum anderen in radikalen Islamistenkreisen.

Auch Feysal H. besuchte Fussilet-Moschee

Wie Amri war Feysal H. auch Stammgast in der mittlerweile geschlossenen dschihadistischen Fussilet-Moschee. Bemerkenswert erscheint, dass er dort auch am Tag des Anschlags weilte. Aufnahmen einer Überwachungskamera belegen, dass er den Radikalen-Treff nur wenige Stunden vor dem Anschlag aufsuchte – zu einer Zeit, als sich dort auch Anis Amri aufhielt.

Ob die Islamisten bei dem Treffen womöglich über die unmittelbar bevorstehende Lkw-Todesfahrt sprachen, ist unklar. Offen ist auch, wann Feysal H. der V-Person mitteilte, von Amris Anschlagsplänen gewusst zu haben. Klar scheint dagegen: Das Umfeld von Anis Amri wusste offenbar mehr von den Absichten des Tunesiers als bisher angenommen. Für die Vermutung, dass der Mörder neben dem bereits bekannten "Mentor" der Terrormiliz "Islamischer Staat" auch Helfer in Deutschland gehabt haben könnte, gibt es dagegen bisher keine konkreten Anhaltspunkte.

Die Bundesanwaltschaft wollte sich am Montag nicht äußern. Die Grünen fordern unterdessen weitere Aufklärung. "Die Einzeltäter-These ist jetzt noch weniger haltbar als zuvor. Wir wollen den V-Mann-Führer dazu hören", sagte der Grünen-Abgeordnete Benedikt Lux.

Sendung: Inforadio, 27.11.2018, 06.00 Uhr

Beitrag von Jo Goll, Ulrich Kraetzer und Susanne Opalka, Redaktion Hintergrund und Investigatives

9 Kommentare

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  1. 9.

    Auch hier stimme ich Ihnen zu. Mein Vertrauen in Geheimdienste war u.ist nie sehr groß gewesen. Da ich nur einfach gestrickt bin, habe ich großes Mitgefühl mit den unschuldigen Opfern und ihren Angehörigen. Und ja, oftmals überkommt mich eine maßlose Wut, gepaart mit Hilflosigkeit über solch verblendete Religioten. Das schließt auch die Christterrorists, wie Sie es i.d.USA gibt mit ein.

  2. 8.

    Ich befürchte die wirklichen Hintergründe wer da alles sein Finger im schmutzigen Spiel hatte werden wir wohl nie erfahren, wie immer wenn Geheimdienste invoviert sind aber zumindest könnte man daraus Lehren ziehen.

    Ich befürchte nur genau das wollen einige Leute mit allen Mitteln verhindern.

  3. 5.

    "Ist nicht langsam gut"------------------ Wenn ich sowas lese, da könnte ich glatt in die Beete reihern. Gefühlloser und kaltherziger geht es nicht.
    Was wäre, wenn Sie dort verletzt oder Angehörige getötet worden wären?

    Erst denken, dann schreiben.

  4. 4.

    Meinen Sie nicht, dass die Opfer, die Angehörigen und auch wir, die Öffentlichkeit ein Anrecht haben die Hintergründe zu erfahren?

    Oder wollen Sie, wie z.B. in Bologna* jahrzehntelang auf die Arbeit von Journalisten warten bis endlich die grausame Wahrheit publik wird?

    * https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_von_Bologna

  5. 3.

    Gewiss ist es so, dass Verhalten nicht nur von langer Hand geplant, sondern auch kurzfristig quasi "explodieren" kann. Allerdings spricht angesichts des technischen Aufwandes und der offenbar gezielten Steuerung des LKWs, den ja schließlich nicht jeder fahren kann, das Meiste dafür, dass das eben von langer Hand geplant war.

    Die Begründung für die V-Leute ist ja gerade die, in den Grauzonen unterwegs zu sein, zu der an Recht und Gesetz gebundene Polizisten keinen Zutritt haben und haben dürfen. Selber glaube ich allerdings nicht daran, dass daraus wesentliche Erkenntnisse zu schöpfen sind. Außer, es wird denen "förmlich ins Ohr gebrüllt" oder als minutiös ausgearbeiteter Plan "direkt in die Tasche gesteckt." Dass abseits davon etwas zu erfahren ist, wird dadurch verhindert, dass die besagte Szene von Wichtigtuern und Dampfplauderern durchsetzt ist, die gegenseitig um ihre geringe Glaubwürdigkeit wissen.

  6. 2.

    Ist nicht langsam genug....der Typ ist 2Jahre tot

  7. 1.

    Wen überrascht das denn noch?!

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