Rückblick 2018 | Berliner Verkehrspolitik - Der lange Anlauf zur Verkehrswende
Die U-Bahn ist voll. Die S-Bahn kommt zu spät. Die Radstreifen fehlen und die Fußgänger kommen ganz zuletzt. Ganz zu schweigen von den Dieselfahrern, die bald straßenweise ausgesperrt werden. Verkehrspolitik ist ein Berliner Aufreger. Jan Menzel blickt zurück.
Am Anfang war die Angst im Roten Rathaus. Die Angst, dass die Gerichte das tun, wovor sich die Politik jahrelang gedrückt hat: Grenzwerte durchsetzen, die Luft sauberer machen und die Gesundheit der Menschen schützen. Oder anders ausgedrückt: Fahrverbote für schmutzige Diesel-Wagen verhängen. "Wir müssen aus eigener Kraft etwas machen und möglichst schnell", drängt der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD). Bei einem kleinen Dieselgipfel im Roten Rathaus wird ein 10-Punkte-Plan beschlossen. Eine Umstiegsprämie für Taxis, der Kauf von Elektrobussen für die BVG, mehr Tempo 30 und mehr Radwege sollen helfen, die Berliner Luft sauberer zu machen und Fahrverbote abzuwenden.
Fahrverbote auch in Berlin
Doch Messungen, die der rbb in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität durchführt, zeigen, was Experten längst ahnen: Das Schadstoff-Problem ist viel größer. Nicht nur an einigen wenigen Hauptstraßen werden die Stickoxid-Grenzwerte überschritten. Die Belastung ist vielmehr flächendeckend in der Stadt nachweisbar.
Vor dieser Kulisse entscheidet im Herbst das Verwaltungsgericht: Elf Straßenabschnitte müssen ab Sommer 2019 für Diesel-Pkw bis zur Euronorm 5 und Diesel-Lkw gesperrt werden. Die Fahrverbote werden unter anderem auf Teilen der Leipziger Straße, der Friedrichstraße und der Brückenstraße gelten. "Wir sind sehr glücklich und zufrieden", sagt der Geschäftsführer der deutschen Umwelthilfe Jürgen Resch nach dem Urteil.
Horrorszenario: Sperrungen auf der A 100
Womöglich ist aber das letzte Wort in Sachen Diesel-Fahrverbote noch nicht gesprochen. Resch lenkt den Blick auf die Stadtautobahn A 100. Dort am Dreieck Funkturm weisen die Modellrechnungen der Verkehrsverwaltung dramatisch überhöhte Stickoxid-Grenzwerte aus. Für den Geschäftsführer der Umwelthilfe ist es "relativ klar", dass es 2019 Diesel-Fahrverbote auch auf der A 100 geben wird.
Für Autofahrer wäre das ein Horrorszenario - aber auch für Verkehrsplaner. Denn wo sollen sich die Automassen alternativ entlangzwängen - zumal überfüllte Busse und Bahnen derzeit wenig Lust aufs Umsteigen machen? Aber das will der rot-rot-grüne Senat erklärtermaßen ändern.
Müller liebäugelt mit U-Bahn-Bau
Koalitionsintern wird sogar darüber nachgedacht, wieder in den U-Bahn-Bau einzusteigen und die Linie U7 zum neuen Flughafen BER zu verlängern. "Wir sehen, wie wir heute davon profitieren, dass der U-Bahn-Bau vor 100 Jahren so energisch vorangetrieben wurde. Ich glaube, es ist wieder an der Zeit, etwas zu entscheiden", findet der Regierende Bürgermeister Müller.
Doch die Skeptiker haben ein gewichtiges Argument auf ihrer Seite. Ein Kilometer U-Bahn ist gut und gerne zehn Mal so teuer wie ein Kilometer Straßenbahn. Auch Jens Wieseke vom Fahrgastverband sagt deswegen zu den U-Bahn-Liebäugeleien: "Das ist leider nicht realistisch." Doch mit dem Straßenbahnausbau, den SPD, Linke und Grüne vorrangig vorantreiben wollen, geht es ebenfalls nur mühsam voran. Die Anbindung ans Ostkreuz steckt wegen zahlreicher Einwände von Anwohnern fest. Umstritten bleibt auch die Strecke vom Alexander- zum Potsdamer Platz.
Erster geschützter Radweg eingeweiht
Das mühsame und langwierige Geschäft der Verkehrsplaner zeigt sich besonders beim Ausbau der Radwege. "Er hat gegriffen", ruft eine sichtlich zufriedene Verkehrssenatorin Regine Günther den Reportern zu, als sie den rot-weiß gestreiften Plastikpoller fest in die Verankerung im Asphalt gedreht hat.
Der Poller ist der letzte von 131, die auf der Holzmarktstraße in Mitte eine fast vier Meter breite, grün eingefärbte Spur nur für Radfahrer abtrennen. Berlins erster geschützter Radstreifen ist damit Anfang November eingeweiht. "Wir sind hier Vorreiter", sagt die Verkehrssenatorin. Doch Jubelstimmung kommt unter den Radaktivisten nicht auf.
"Radfahrer werden in den Verkehr gejagt"
Zwar seien die extrabreiten Streifen und die Poller "vorbildlich", sagt Nikolas Linck vom Fahrradverband ADFC. Aber das Ende des geschützten Radstreifens in Richtung Alexanderplatz hält er für eine Katastrophe: "Dort werden Radfahrende in den fließenden Autoverkehr gejagt. Das ist gefährlich, da fühlt sich niemand sicher und dort möchte auch niemand Rad fahren."
Für die Planer im Senat und in den Bezirken ist die Holzmarktstraße nicht die einzige Baustelle. An der Hasenheide, wo ursprünglich der erste geschützte Radstreifen Berlins entstehen sollte, ist noch immer nichts passiert. Schleppend geht es auch beim zweiten großen Radverkehrsprojekt, den geplanten Radschnellwegen, voran. Für drei große Trassen, auf denen Radfahrer in Zukunft kreuzungsfrei von den Außenbezirken in die Innenstadt radeln können, sind Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben. Doch auch hier hinkt der Zeitplan.
25-Meter-Riss legt die Elsenbrücke lahm
Verkehrssenatorin Günther kann nur um Geduld bitten: "Wir werden in dieser Legislaturperiode viel auf die Straße bekommen. Aber wir brauchen auch einen Anlaufweg und den nehmen wir gerade." Den langen Anlaufweg müssen gezwungenermaßen viele Autofahrer an der Elsenbrücke in Kauf nehmen. Seit die östliche Brückenhälfte gesperrt wurde, geht es oft nur im Schneckentempo voran.
50 Jahre ist die Elsenbrücke alt. Seinerzeit nach einer neuen innovativen Methode, im Spannblockverfahren, gebaut. Ein Stolz der Ingenieure, bis in diesem Sommer ein 25 Meter langer Riss im Beton festgestellt wurde. Seitdem rätseln die Experten, was zu dem Schaden geführt hat.
Milliarden-Sanierungsstau bei Brücken
Ob es Fehler bei der Herstellung des Betons waren, oder ob die Rekordhitze des letzten Sommers der Brücke den Rest gab, wird sich letztlich kaum klären lassen. Der Befund ist jedenfalls eindeutig. "Die Brücke ist nicht zu retten und muss durch einen Neubau ersetzt werden", sagt Lutz Adam, Abteilungsleiter in der Verkehrsverwaltung. Dieser Neubau dürfte um die 50 Millionen Euro kosten und nicht vor 2028 fertig sein.
Die Elsenbrücke ist kein Einzelfall. Rund fünf Prozent aller Berliner Brücken müssen grundsaniert oder abgerissen werden. Darunter auch die achtspurige Mühlendammbrücke an der Fischerinsel in Mitte. Und im Verlauf der Stadtautobahn die Rudolf-Wissell-Brücke und die Brückenkonstruktion des Autobahndreiecks Funkturm. Auf rund 1,3 Milliarden Euro schätzen die Experten die Summe, die in den nächsten Jahren für Berlins marode, morsche oder schlicht in die Jahre gekommenen Brücken fällig wird.
Fußgänger bekommen eigenes Gesetz
Von diesen Beträgen kann Stefan Lieb nur träumen. Lieb ist die Stimme der Verkehrsteilnehmer, über die fast nie gesprochen wird: die Fußgänger. Als Mitglied im Lobbyverband "Fuss" ist er zunächst einmal froh, dass der Fußverkehr nächstes Jahr ein eigenes Kapital im Mobilitätsgesetz bekommen soll. Erste Eckpunkte wurden schon vereinbart: Es soll mehr Fußgängerüberwege an Kreuzungen und langen Straßen geben. Ampelphasen könnten für Fußgänger verlängert, Wege fürs Umsteigen im Nahverkehr verkürzt werden.
Vor allem freut sich Lieb über eine Strategie für mehr Sicherheit: Kein Fußgänger soll auf Berlins Straßen verletzt werden oder gar zu Tode kommen, so das Ziel. 2018 starben bereits 17 Fußgänger - mehr als im Jahr davor. Die Politik nehme Fußgänger inzwischen ernst, sagt Stefan Lieb.
Doch auch er sieht Luft nach oben. Die Beleuchtung aller Fußwege könne im Zuge der Umrüstung vieler Straßenlaternen auf LED-Leuchten umgesetzt werden. Und natürlich müsse mehr Geld in den Fußverkehr fließen. Doch dem Fürsprecher der Fußgänger ist noch etwas anderes wichtig: "Berlin wird eine fußgängerfreundliche Stadt", sagt Stefan Lieb mit voller Überzeugung. Diesen Optimismus teilen längst nicht alle, die im Berliner Verkehr unterwegs sind.
Sendung: Inforadio, 25.12.2018, 08:45 Uhr