Interview | Doku "Die jüngsten Opfer der Mauer" - "Mehr als 30 Kinder sind ertrunken oder wurden erschossen"

Mo 05.08.19 | 20:25 Uhr
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Der ehemalige Grenzsoldat Eberhard Otto an Resten des Grenzsignalzauns (Bild: rbb/Rainer M. Schulz)
Audio: Inforadio | 05.08.2019 | Dietmar Ringel | Bild: rbb/Rainer M. Schulz

Unter den Opfern an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze waren auch Kinder und Jugendliche. Die Dokumentation "Die jüngsten Opfer der Mauer" widmet sich dem Thema. Regisseurin Sylvia Nagel spricht im Interview über die Taten an der Grenze.

rbb: Frau Nagel, was ist da passiert an den Grenzen? Wieviele Kinder sind betroffen, welche Ereignisse muss man sich da nochmal ins Gedächtnis zurückrufen?

Sylvia Nagel: Ganz verlässliche Zahlen - also die wissenschaftlich erhoben sind - gibt es nicht, aber es sind auf jeden Fall mehr als 30 Kinder und Jugendliche gewesen, die entweder in der Spree ertrunken sind oder die erschossen wurden. Das hatten wir vorher so in dem Ausmaß auch nicht gewusst, und deshalb haben wir diesen Film gemacht. Wir kannten nur einige Todesfälle und haben dazu Zeitzeugen gesucht. Einige haben wir dann gefunden und für den Film befragt.

Wo genau in Berlin und an anderen Orten der Grenzanlagen ist denn so etwas passiert?

Hier in Berlin zum Beispiel am ehemaligen Gröbenufer in Kreuzberg, wo Westkinder zum Spielen dort waren. Ein Kind rutschte aus, fiel ins Wasser und ertrank innerhalb von drei Minuten. Wir wissen nicht genau, ob jemand direkt am Ufer war, aber selbst wenn - die Person wäre nicht hinterher gesprungen, weil sie befürchten musste, von DDR-Grenzern auf der Oberbaumbrücke erschossen zu werden. Andere Fälle haben sich an der Elbe abgespielt - wo die Grenzsicherung noch nicht so stark ausgebaut war und im Harz, wo die Grenze mit Minen und Selbstschussanlagen gesichert war.

In den 1970er Jahren gab es eine gewisse Normalisierung durch Absprachen zwischen Ost und West. Was wurde dann anders?

1973 haben der Berliner Senat und die DDR-Staatsführung Verhandlungen aufgenommen, weil zu dem Zeitpunkt schon drei Kinder gestorben waren. 1975 kam es zu einem Vertrag, da waren bereits fünf Kinder ertrunken. Danach hieß es, man wollte Zäune und Hinweisschilder aufbauen und es hieß, wer zuerst am Unfallort ist, dürfe helfen. Also auch die Westberliner.  

Wie nah waren die Menschen, die sie getroffen haben, noch an den Ereignissen dran - sie liegen ja schon Jahrzehnte zurück?

Sehr nah. Wenn man mit ihnen filmisch arbeitet, kommen die ganzen Emotionen wieder hoch. Uns als Filmemacher haben auch die Stasi-Akten schockiert, also die Grausamkeit des Regimes: Wie Fälle verschleiert wurden, wie eine Schweigepflicht über die Todesfälle verhängt wurde. Das war schon erschreckend.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Dietmar Ringel für Inforadio. Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Fassung. Das komplette Interview können Sie oben im Beitrag als Audio abrufen.  

23 Kommentare

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  1. 23.

    Was der Artikel verschweigt: Den Vertrag von 1973 durfte der West-Berliner Senat nicht annehmen, da die alliierten Schutzmächte vom Besatzungsrecht gebrauch machten und diesen aus politischen Gründen ablehnten. Offiziell beschönigt als der West-Berliner Senat im Einvernehmen mit den alliierten Schutzmächten.

  2. 22.

    Erich, Berlin, Dienstag, 06.08.2019 | 13:05 Uhr:
    "Niemand musste an die innerdeutsche Grenze. Mich wollte man auch an die Grenze stellen, das habe ich abgelehnt und gesagt," Ich schieße nicht auf Menschen ". Verärgert sagten die Offiziere "na gut dann kommen Sie zu einem Bautrupp "
    Ich landete dann in Seelow ,in einem Straßen und Brückenbauregiment....
    Jeder hatte also die Möglichkeit, NEIN zu sagen."

    Ich war - zum Glück - ausgemustert. Aber soweit ich weiß, gab es 3 Einsatzgebiete in der NVA:
    1. Grenze: nur für ideologisch zuverlässige Soldaten ohne Westkontakte, am besten SED-Mitglieder
    2. Armee im Inland: dort waren die meisten Soldaten, insbesondere die, die keinen ideologischen Eifer zeigten, also Otto-Normal-Bürger
    3. Bausoldaten: das waren die, die das Schießen verweigerten und dafür auch Konsequenzen inkaufnahmen, wie z.B. kein Studienplatz

    Ich weiß es nicht genau, aber kamen zur Grenze nur Männer, die mind. 3 Jahre dienten oder auch welche mit nur 1,5 Jahren?

  3. 21.

    Dregenhard, Berlin, Dienstag, 06.08.2019 | 11:24 Uhr:
    "Antwort auf [Ehrenburg] vom 05.08.2019 um 20:52
    Das einzige was Unsinn ist,entnehme ich ihrem Kommentar.....Ich habe es als junger Mann, lange ist es vorbei, selbst gesehen. Und es war ja auch kein Geheimnis. Es sei denn, man kommt aus dem Osten. Dann sind es böse Geschichten die eh nicht stimmen, nicht wahr???"

    Entschuldigung, aber auch wir Ossis sind in der Mehrheit nicht so naiv-dumm wie dieser "Ehrenburg".

  4. 20.

    HeleneZ, Berlin, Dienstag, 06.08.2019 | 10:37 Uhr:
    "Und nicht jeder stand wohl freiwillig an der Grenze, sondern es wurde auch zugeteilt(?)."

    Freiwillig war kaum einer bei der Armee, auch nicht an der Grenze. Aber für die Grenze wurden nur zuverlässige Soldaten ausgewählt. Man musste nicht zur Grenze. Wer nicht wollte oder Westkontakte hatte, der kam nicht zur Grenze und hatte sonst auch keine negativen Auswirkungen zu befürchten, solange er die Waffe nicht grundsätzlich verweigerte und Bausoldat wurde.

    Aber die meisten Soldaten waren jung und unreif. Und die meisten Grenzer wuchsen in regimetreuen Familien auf und haben nicht gelernt, den Dienst an der Grenze kritisch zu reflektieren. Diesbezüglich war die Bildung in der DDR KEINE humanistische Bildung!

    Niemand wollte Menschen oder gar Kinder erschießen. Aber sie wollten "die Grenze schützen". Und in der Abwägung entschieden sie sich für den Grenzschutz und gegen Menschenleben.

  5. 19.

    Zur Info: Bruder und Schwester können nicht gleichzeitig ihre Eltern sein. Ihr Bruder kann ihr Vater sein oder ihre Schwester ihre Mutter. Die Wahrscheinlichkeit ist dann ziemlich hoch, dass irgendetwas bei Ihnen nicht stimmt. (Erklärt vielleicht die Schmerzen)

    Die Menschen, die im Mittelmeer versterben, sind auch keine Vollwaisen und Einzelkinder. Jede Person hatte Träume, Hoffnungen und Wünsche, Angehörige, die sie vermissen werden. Wir sind alle Menschen und für mich ist es nicht weniger schlimm, wenn da ein Nicht-Deutscher ertrinkt.

    Ist es schlimm, dass Menschen an der innerdeutschen Grenze gestorben sind? Ja. Ist es schlimm, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken? Ja. Kann man den Tod der Menschen gegeneinander aufwiegen und sagen, was schlimmer ist? 1 deutsches Kind im Vergleich zu 3 Afrikanern? Ich finde nicht. Macht es einen Unterschied ob jemand raus oder rein will - das war der Bezug in meinem vorherigen Kommentar: Meiner Meinung nach nicht.



  6. 18.

    Um auf ihrem plumpen Einwand einzugehen, sicherlich gab es systemtreue 100prozentige, die sich darum gerissen haben auf Menschen zu schießen. Insofern hatte nicht jeder den Mut NEIN zu sagen.

  7. 17.
    Antwort auf [Doppel-D-R] vom 06.08.2019 um 14:24

    Auweia,das tut schon weh. Sie wissen,dass die Menschen in der DDR Deutsche waren....also unsere Landsleute, Brüder, Schwestern und Eltern.....

  8. 15.

    Helene, ja ich muss Sie korrigieren. Niemand musste an die innerdeutsche Grenze. Mich wollte man auch an die Grenze stellen, das habe ich abgelehnt und gesagt," Ich schieße nicht auf Menschen ". Verärgert sagten die Offiziere "na gut dann kommen Sie zu einem Bautrupp "
    Ich landete dann in Seelow ,in einem Straßen und Brückenbauregiment....
    Jeder hatte also die Möglichkeit, NEIN zu sagen.

  9. 14.

    Es konnte keinen menschenwürdigen Sozialismus geben, weil dieser grundsätzlich auf brutale Machtstrukturen basierte. Dem Individuum, hier: Kinder, wird nur dann eine nennenswerte Bedeutung zuerkannt, wenn dies der herrschen Klasse des Proletariats von Nutzen ist.

  10. 13.

    Das einzige was Unsinn ist,entnehme ich ihrem Kommentar.....Ich habe es als junger Mann, lange ist es vorbei, selbst gesehen. Und es war ja auch kein Geheimnis. Es sei denn, man kommt aus dem Osten. Dann sind es böse Geschichten die eh nicht stimmen, nicht wahr???

  11. 11.

    Wenn Sie die Fake News der von Ihnen genannten "Medien" konsumieren ist das Ihr Problem. Ich verschwende nicht meine Zeit damit sondern informiere mich am liebsten öffentlich-rechtlich. Ich bin kritisch genug auch dort nicht jeden Kommentar für bare Münze zu nehmen. Aber dort wird über die Problematik ausreichend berichtet wie ich meine.

  12. 10.

    @Erich: ok, ich war nicht dabei, noch nicht mal Ossi.
    Aber war es nicht eher so, dass einem Grenzsoldaten ein anderes (des eines Flüchtenden) Leben nichts wert zu sein hatte (via Vorschrift)? Und nicht jeder stand wohl freiwillig an der Grenze, sondern es wurde auch zugeteilt(?). Ich habe nur Dokumentationen gesehen und da waren auch Aussagen von Grenzsoldaten (Wehrdienstler), dass diese hofften, niemals in die Situation zu kommen, schiessen zu müssen. Thema "Danebenschiessen" mal aussen vor.
    Ich würde es einfach nicht verallgemeinern. Richtig ist wohl: der Befehl lautete zumindest die meiste Zeit der Existenz der DDR anders. Und richtig ist sicher auch, dass dort auch die standen, die durchaus überzeugt und bereit zum Schiessen waren.
    Aber korrigieren Sie mich gerne, wenn sie es besser wissen. Z.B. durch bessere Kenntnis/Einblicke als ich per Dokus.

  13. 9.

    Entschuldigung, aber was Sie schreiben ist Unsinn. Natürlich hat es sich genauso zugetragen. Ein Menschenleben war für die meisten Grenzsoldaten nichts wert.

  14. 8.

    Ja das war schlimm und eine Fehlentwicklung und eine Schande für den Sozialismus. Und heute? 30 Tote Kinder an der Grenze, das schaffen wir heute locker in einer Woche!

  15. 7.

    Wichtiges Thema, zeigt sich doch die Unmenschlichkeit von Grenzregimen besonders deutlich. Heute haben wir eine inhumane Politik der EU und Deutschlands zu verantworten, die immer wieder Kinder auf dem Mittelmeer ertrinken lässt

  16. 6.

    Es muss über die Tragödie der ertrinkenden Flüchtlinge in den öffentlich-rechtlichen Medien berichtet werden und es wird dort auch darüber berichtet.

    Genauso, wie ab und zu auch wieder an die Menschenfeindlichkeit der DDR-Diktatur und deren Mauer und den Völkermord und die Massenmorde der Nazis erinnert werden muss, zumindest solange, wie es hier noch trauernde Angehörige und emotionslose Anhänger dieser Diktaturen gibt.

    Es gibt hier kein Entweder-Oder, sondern Sowohl-Als-Auch. Es muss und wird über all diese Tragödien in unseren Medien berichtet. Über die Gewichtung kann man natürlich immer streiten, da es dafür keine bestimmte Gewichtung gibt, die einzig und allein richtige ist.

  17. 5.

    "Es vergeht doch keine Nachrichtensendung ohne Meldung darüber."

    Fake News, alleine wenn ich mir die Headlines der TS ansehe oder meinen sie die Hetze einiger Nachrichtenportale wie Breitbart, AfD Kompakt oder Junge Freiheit?

    Oder etwa das Twitter-Tourette-Syndrom eines sehr einsamen und armseligen Menschen, der zufälligerweise der Präsident der USA ist?

  18. 4.

    Sind Sie im Ernst der Meinung, es gäbe zu wenig Berichte über die Flucht übers Mittelmeer ? Es vergeht doch keine Nachrichtensendung ohne Meldung darüber. Im übrigen macht es schon noch einen Unterschied ob jemand raus oder rein will. Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich.

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