Interview | Kurde aus Berlin zur Situation in Nordsyrien - "Mitleid allein hilft uns nicht"
Die türkische Militäroffensive in Nordsyrien wirkt sich auch auf das Verhältnis von Türken und Kurden in Berlin aus. Man grüße sich nicht mehr, berichtet Amed Mardin, Betreiber eines kurdischen Restaurants. Er wünscht sich mehr Engagement - auch von Deutschen.
rbb|24: Herr Mardin, haben Sie den Eindruck, dass die Berliner die Dramatik der Situation für die Kurden in Nordsyrien erfassen können - und wollen?
Amed Mardin: In Deutschland wird sehr viel darüber berichtet. Es ist dennoch sehr dramatisch, dass man ein Volk, das die westlichen Werte gegen islamische Staaten vertreten hat, einfach im Stich lässt. Viele verstehen zwar, was los ist, doch die Solidarität des deutschen Volkes ist noch nicht so groß, dass wirklich Druck auf die deutsche Regierung ausgeübt wird.
Doch da geht es jetzt um hunderttausende Flüchtlinge, die sich durch die türkische Invasion in der Wüste aufhalten – ohne Unterkunft, ohne Zukunft. Sie haben alles verloren. Da möchte man in Deutschland einerseits die Flüchtlingsursachen bekämpfen, doch jetzt gibt es diese neuen Flüchtlinge durch die Angriffe der Türkei und man schaut zu. Das sollte man, wenn man ein Gewissen hat, nicht dulden und nicht weiter wegschauen.
Die Anspannung der hier lebenden Kurden ist seit der Offensive der Türken sicher groß. Viele werden Angst um ihre Verwandten und Freunde in der betroffenen Region haben.
In Berlin sind mehrere zehntausend Kurden direkt betroffen, weil ihre Verwandten in Nordsyrien leben. Und keiner weiß, wie es weitergeht. Die Betroffenen werden höchstwahrscheinlich versuchen, ihre Verwandten nach Deutschland zu holen. Das ist ein Problem. Denn niemand möchte, dass noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Aber durch die Ignoranz der westlichen Kräfte wie der Europäischen Union, die die Türkei nur mündlich kritisiert hat, aber keine Taten hat folgen lassen, machen sich viele Kurden große Sorgen. Das kann sich in Zukunft auch auf die Verhältnisse mit ihren türkischen Nachbarn auswirken.
Macht sich das jetzt schon im Alltag bemerkbar?
Ja. Viele Türken hier sind durch türkische Propaganda manipuliert. Die Türkei schafft ein Feindbild, indem sie sagt, Kurden seien zu westlich, sie seien gegen die Türkei und somit Terroristen. Das vergiftet das Verhältnis. So gibt es viele Vorurteile gegen uns Kurden - auch von Berliner Türken. Das hat Folgen: Man grüßt sich nicht mehr, kann sich nicht mehr unterhalten. Und das, obwohl wir alle einen Migrationshintergrund haben und hier in Deutschland gegen Rassismus kämpfen. Aber man merkt, dass sich viele Türken radikalisieren und von demokratischen Werten entfernen.
Gibt es auch Türken, die auf Kurden zukommen und sich empathisch äußern? Oder sind die meisten Erdogan-Anhänger, die sich hinter ihren Präsidenten stellen?
Türken sind nicht auf mich zugekommen. Ich hätte mich gefreut, wenn jemand gesagt hätte: 'Es tut mir leid für Euch, Euer Volk wird angegriffen'. Von Deutschen kommt das schon, wenn sie mitkriegen, dass ich Kurde bin. Sie zeigen dann Mitleid. Was eigentlich auch nicht so sein sollte, denn Mitleid allein hilft uns nicht.
Es ginge vielmehr darum, dass man als Bürger eines demokratischen Landes wie Deutschland gegen solchen Rassismus und Faschismus, wie er jetzt in der Türkei auf der Tagesordnung steht, kämpft. Dass man gegen diese Regierung protestiert, bei Demonstrationen mitmacht, sich an Zeitungen wendet und dort seine Gefühle zum Ausdruck bringt. Das vermisse ich noch. Was derzeit passiert reicht nicht aus, um diese ethnische Säuberung, diesen Völkermord, zu beenden. Die Deutschen sollten sich da mehr engagieren, das ist ihre Pflicht als Volk, das den Faschismus und den Genozid an den Juden selbst erlebt hat - und das heute ständig an seiner eigenen dunklen Geschichte arbeitet.
Es soll von kurdischer Seite Aufrufe zum Boykott türkischer Geschäfte in Deutschland gegeben haben – haben Sie davon gehört?
Es gibt solche Aufrufe. Weil man ja auch sieht, dass es aus Europa keine Sanktionen gibt. Die Türken können bisher so willkürlich handeln, wie sie wollen. Warum sollte man als Kurde derzeit türkische Waren kaufen und so indirekt den Krieg fördern? Ich finde einen Boykott zwar nicht unbedingt richtig, verstehe es aber. Es gibt in Deutschland viele Alternativen zu türkischen Produkten. Menschen, die Verwandte verloren haben, haben doch kaum andere Möglichkeiten, zu reagieren. Ich habe auch zwei ältere Verwandte, die durch türkische Luftangriffe in Nordsyrien umgebracht wurden. Es ist kaum zu ertragen, da einfach nur tatenlos zuzuschauen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Prieß, rbb|24
Sendung: Radioeins, 22.10.2019, 07:30 Uhr