Stickoxid-Grenzwerte - Berlin warnte EU-Kommission 2006 vor Fahrverboten

Do 28.11.19 | 07:31 Uhr | Von Dominik Wurnig
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Bulli-Parade gegen Dieselfahrverbote in Berlin. (Quelle: imago images/Christian Mang)
Audio: rbb | 28.11.2019 | Ari Gosch | Bild: imago images/Christian Mang

Mit dem Stickoxid-Grenzwert hatte die Berliner Senatsverwaltung schon 2006 Bauchschmerzen. Sie warnte vor Diesel-Fahrverboten, wie ein Briefwechsel mit der EU-Kommission zeigt, der rbb|24 vorliegt. Brüssel hörte lieber auf die Autoindustrie. Von Dominik Wurnig

Hätte, hätte, Fahrradkette. Hätte die EU-Kommission 2006 auf die Bedenken der Berliner Landesregierung gehört, gäbe es heute in Städten wie Berlin oder Hamburg womöglich keine Fahrverbote für Diesel-Autos. Damals erarbeitete die Europäische Kommission gerade die neue Auto-Abgasnorm Euro 5 - doch auf Druck der Industrie fiel diese sehr lasch aus.

In der Berliner Verwaltung sah man aber schon damals, welche negativen Konsequenzen die Norm nach sich ziehen würde: "Der vorgeschlagene Grenzwert für die Stickoxid-Emissionen von Dieselfahrzeugen ist jedoch aus Sicht des Berliner Senats nicht akzeptabel und im hohen Maße enttäuschend", schrieb die damalige Berliner Senatorin, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), in einem Brief an Günter Verheugen (SPD), der in dieser Zeit Vizepräsident der EU-Kommission war.

Berlin forderte niedrigeren Grenzwert

Das Plädoyer aus Berlin: Statt 180 Milligramm Stickoxide pro Kilometer, sollten Diesel-Autos nur 80 Milligramm pro Kilometer ausstoßen dürfen – genauso viel wie Benziner schon länger. "Andernfalls ist nicht auszuschließen, dass auf lokaler Ebene ab 2010 Fahrverbote aufgrund der hohen Stickoxid-Emissionen auch für modernste Dieselfahrzeuge mit Partikelfiltern geprüft werden müssen", heißt es in dem Brief an den Parteifreund in Brüssel.

Kollage: Ingeborg Junge-Reyer (SPD) und EU-Politiker Günter Verheugen. (Quelle: dpa/Carstensen/Wolf)
| Bild: dpa/Carstensen/Wolf

Im Klartext: Wenn Diesel so viel in die Luft ausstoßen dürfen, kriegen wir die Luft nicht so sauber, wie sie ab 2010 laut verbindlicher Luftqualitätsrichtlinie sein müsste. Dann wird uns nichts anderes übrig bleiben, als Autos auszusperren. Der Vorwurf aus Berlin: Der Umweltschutz werde den Kosten einer Nachbehandlung geopfert. Auch in Japan und den USA gäbe es strengere NOx-Grenzwerte.

Absage aus Brüssel

Wie wir heute wissen, kam es so, wie von Junge-Reyer und ihrer Verwaltung prognostiziert. Die Argumente aus Berlin wurden von EU-Kommissar Verheugen weggewischt: "Technik zur weiteren Senkung der NOx-Emissionen von Dieselmotoren ist noch nicht einsatzreif."

Außerdem könnten Diesel-Autos zu teuer werden, wenn man tatsächlich versuchen würde, sie sauber zu machen. "Der NOx-Grenzwert wurde so gewählt, dass er ohne Einbau eines zweiten Abgasnachbehandlungssystems (zusätzlich zum Partikelfilter) erreicht werden kann", schreibt Verheugen im Antwortbrief vom 20.3.2006. "Wäre ein zweites System erforderlich, wären die Mehrkosten von Dieselfahrzeugen gegenüber Benzinfahrzeugen sehr viel höher."

Wunsch nach Kostenersparnis bereitet heute Probleme

Abgasnachbehandlungssystem – genau darüber wird heute unter dem Stichwort Hardware-Nachrüstung diskutiert. Damit können Euro-5-Diesel den Fahrverboten entgehen. LKWs haben eine solche Abgasnachbehandlung mittels AdBlue schon länger. Die EU-Kommission wollte vor 13 Jahren der Autoindustrie Zusatzkosten ersparen - und bereitete letztlich so ihrer existenzgefährdenden Krise von heute den Weg.

Weder Junge-Reyer noch Verheugen antworteten bis Redaktionsschluss auf die Anfrage von rbb|24.

Der Rest ist Geschichte: Seit dem Dieselskandal wissen wir, dass die meisten Autohersteller den Stickoxid-Grenzwert sowieso ignorierten. Der Grenzwert von180 oder 80 Milligramm macht letztlich keinen Unterschied – laut den Messungen durch das Kraftfahrtbundes lag jeder getestete Euro-5-Diesel im realen Fahrbetrieb weit darüber. So stößt etwa der VW Touareg mit Euro 5, wie rbb|24 berichtete,  laut KBA 2769 Milligramm Stickoxide pro Kilometer aus.  

Von allein hat sich die Berliner Verwaltung nicht zu Fahrverboten durchgerungen. Erst ein Gericht hat diese nach einer Klage der Deutschen Umwelthilfe neun Jahre nach Inkrafttreten der Luftreinhalterichtlinie angeordnet.

Alle Ziele verfehlt

Um doch nicht sehenden Auges in das Messer "Luftqualitätsrichtlinie" zu laufen, machte Verheugen dem Land Berlin im Jahr 2006 auch Vorschläge: die Ausweisung von Zonen mit verschärften Schadstoffgrenzwerten, Straßenmaut und Förderung der Nachrüstung oder Verschrottung alter Fahrzeuge. "Eine Kombination verschiedener sinnvoll aufeinander abgestimmter Maßnahmen dürfte wahrscheinlich am wirksamsten sein", schreibt Verheugen.

Einziger Makel: All die vorgeschlagenen Maßnahmen gingen auf Kosten der Berliner – entweder als Autofahrer oder als Steuerzahler. Und nebenbei: Die Klimaziele wurden auch verfehlt.

Beitrag von Dominik Wurnig

21 Kommentare

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  1. 21.

    Nach dem Motto "Tut uns leid, dass wir den Grenzwert auf der Straße so unsinnig niedrig festgelegt haben, jetzt muss halt die Automobilindustrie die Karre aus dem Dreck ziehen". Der Grenzwert war auch mit dem bestehenden Fahrzeugbestand nie bis 2010 einhaltbar. Warum hat aber unsere Regierung den Kauf von Euro 5 gefördert? Weil das Thema damals nicht NO2 war, sondern Feinstaub und CO2. Und die Euro 5 waren eben sparsamer und hatten Feinstaubfilter. NO2 war bei den gegebenen Konzentrationen nie ein relevantes Risiko für die Gesundheit.

  2. 20.

    Schöner Bulli.... ;))

    nicht schön...
    WUNDERSCHÖN :D

    zum Glück mit H-Kennzeichen, sonst dürfte der auch nicht mehr in Berlin rein.

  3. 19.

    Ein Euro6-Fiat hat dem gegenüber einen ähnlich hohen NOx-Ausstoss wie ein Euro5-Q5 ohne Update - und niemand stört sich daran.

    weil man die Wahrheit nicht wahr haben möchte ;-) Es gibt massig Fahrzeuge mit Euro 5 / Euro 6, die ein vielfaches dreckiger sind, als Euro 4 Fahrzeuge. Euro 4 Diesel und stellenweise Euro 5 Diesel sollen ausgesperrt werden und Euro 6 darf weiter fahren. Selbes gilt für massig Benziner, die x-fach dreckiger als Diesel sind und die dennoch auf den Straßen bleiben.

    Also was solls. Einfach nur noch drüber wundern und lachen :)
    Wir wollten in der EU sein und wir haben diese Politik gewählt. Also müssen wir nun damit leben.

    Mehr als uns verarschen lassen können wir Bürger nun auch nicht mehr.

  4. 18.

    Schöner Bulli.... ;))

  5. 17.

    Bei in D. tyogenehmigten PKW ist das Gros der Probleme gelöst. Für viele andere von französischen oder italienischen Konzern sind dem KBA die Hände gebunden. Deshalb kann so manche Berlinerin auch auf andere zeigen.

  6. 16.

    Die Frage die sich hier stellt ist doch: Warum erteilte und erteilt auch weiterhin das Kraftfahrbundesamt eine Straßenverkehrszulassung obwohl ja ganz offensichtlich bestehende Abgasnormen mehr als weit überschritten werden.

  7. 15.

    Die Berliner Ringblase gab es zu Euro5-Zeiten noch nicht in der heutigen Ausprägung. Selbst der Invalidenstrassen-Aktivist ist deshalb mit einem Dickschiff aus dem VW-Konzern unterwegs.

  8. 14.

    Die paar Touareg machen den Kohl auch ohne Update wie nachgemessen nicht fett. Ein Euro5-Sharan hielt laut DUH nach dem Update teilweise auf der Strasse den Laborgrenzwert ein. Ein Euro6-Fiat hat dem gegenüber einen ähnlich hohen NOx-Ausstoss wie ein Euro5-Q5 ohne Update - und niemand stört sich daran.

  9. 13.

    Ja, "prüfen, prüfen, prüfen". Aber effektiver Gesundheitsschutz fehlt. @rbb Wie ist es mit der Verursacherhaftung für die Gesundheitsschäden? Viele Kinder in Berlin haben andauernd Atemwegserkrankungen.
    Die "Umweltzone" sollte auf alle Wohngebiete in Berlin ausgeweitet werden. Und dann bitte eine Maut etc. pp. endlich wirklich echt schnellstmöglich anwenden. Also real einführen, so dass die Luftreinhalterichtlinie überall eingehalten wird. Die gilt ja schon seit 10 Jahren !

  10. 12.

    Hier werden reihenweise Existenzen gefährdet, weil Beförderungsunternehmen (Behindertentransporte, Krankentransporte, Bustransferdienste), Handwerker und Lieferfahrzeuge bestimmte Bereiche nicht mehr befahren dürfen.

    So wie ich das verstanden habe, wir es für alle oben genannten Unternehmen die Möglichkeit für Ausnahmeregelungen geben. Jedenfalls nur, wenn diese Fahrzeuge NICHT privat genutzt werden.

    Für die "kleinen" Bürger, der zum erreichen der Arbeit oder zum Ausüben dieser Arbeit auf ein PKW angewiesen ist, sich kein neues sauberes Fahrzeug leisten kann, für diese Personen sieht es schlecht aus.
    Das selbe gilt für Personen mit H4 Bezug. Dort darf ein Fahrzeug nur einen bestimmten Wert haben. Saubere Diesel oder E-Autos liegen deutlich über dem erlaubten Satz. Man könnte ja sagen, das die sich ja einen Benziner kaufen können aber da der Verbrauch von Benziner höher als beim Diesel sind, würde der Diesel die sparsamere Alternative sein und somit auch die Vernünftigere.

  11. 11.

    1. Politik und Autoindustrie arbeiten eng zusammen, neben Waffengeschäften ist die Autoindustrie die das Geld nach Deutschland bringen.
    2. Für die von Ihnen benannten Beförderungsunternehmen gelten Ausnahmeregeln.
    3. Der allgemeine Bürger war schon immer der Doofe.

    An allem aber auch an allem ist der böse, böse Diesel dran Schuld, einer muss es ja sein.

  12. 10.

    Was man nicht alles für ein paar Vorstandsposten macht.

  13. 8.

    Der Touareg und ähnliche Euro5-Fahrzeuge ohne Update machen wegen kleiner Stückzahlen den Kohl nicht fett. Dass z.B. ein Sharan nach dem Update wesentlich sauberer ist hat sogar die DUH gemessen. Kritischer sind Euro6-Diesel z.B. von Fiat/Jeep zu sehen. Die hauen ähnlich viel NOx raus wie ein Euro5-Q5 vor dem Update.

  14. 7.

    Wenn man die Grenzwerte von 180 einhalten würde, gäbe es keine Problem. Da hätten 80 auch keinen Unterschied gemacht.

  15. 6.

    Sehr geehrte Frau rocktäschel, auch wenn Sie das dreimal wiederholen ist nicht alles richtig, wenn die neuen Fahrzeuge nicht angeschafft werden, und auch für Behindertentransport gibt es e-transporter jetzt und aktuell , dann müssen sie halt mit den Verboten leben. Noch dazu gibt's ja leider wieder Ausnahmen. Das die damalige EU-Kommission obrigkeitshörig war bzw Autolobby hörig ist wohl bekannt aber das ist damals schon Politiker der SPD gab die soweit denken konnten, gedacht haben, Verheugen war zu keiner Zeit ernst zu nehmen und ist als gescheiterte Person nach Brüssel gegangen, !!!!!
    Ist mir neu, und zumindest heute gibt es da niemanden , auch nicht bei den Grünen, die scheinbar weiter wie bis mittags denken können

  16. 5.

    In der Gemengelage gibt es niemanden, der Gutgläubigkeit vorschieben dürfte. Die Autoindustrie interessiert sich genau für eins: Der eigene Gewinn. Die Politik fasst traditionell die Autoindustrie lieber nicht zu hart an. Nutzer von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren könnten nicht erst seit gestern wissen, dass Fragezeichen an Umweltfreundlichkeit und in Ballungszentren auch an gesellschaftlicher Akzeptanz (Stichwort Lebensqualität und Flächenverbrauch) sind. Hat sie aber auch nicht gestört...

  17. 4.

    Mehr davon. Allerdings sollte man die Verantwortung nicht nur nach Brüssel schieben. Die damalige Bundesregierung hat sicher auch genug Druck im Namen der Autoindustrie ausgeübt. Wäre auch nicht das erste Mal.

  18. 3.

    Warum werden die Politiker und die Autoindustrie nicht zur Verantwortung gezogen?

    Warum wird wieder alles auf den Bürger und Steuerzahler abgewälzt?

    Hier werden reihenweise Existenzen gefährdet, weil Beförderungsunternehmen (Behindertentransporte, Krankentransporte, Bustransferdienste), Handwerker und Lieferfahrzeuge bestimmte Bereiche nicht mehr befahren dürfen.

    Die Politiker und die Autoindustrie feixen sich eins, während der Bürger und Steuerzahler immer mehr darunter zu leiden hat.

  19. 2.

    Warum werden nicht die Politiker und die Autoindustrie für das, was sie verzapft haben, zur Verantwortung gezogen?

    Warum wird wieder slles auf den Bürger und Steuerzahler abgewälzt?

    Hier werden reihenweise Existenzen gefährdet, weil Beförderungsunternehmen (Behindertentransporte, Krankentransporte, Bustransferdienste), Handwerker, Lieferfahrzeuge usw. nicht mehr alle Bereiche befahren dürfen.

    Die Politiker und die Autoindustrie feixen sich eins, während der Bürger und Steuerzahler unter deren Ignoranz und Arroganz immer mehr zu leiden hat.

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