Interview | Seebrücke hilft Flüchtlingen - "Nirgendwo sollten Menschen so leben müssen"
Seit zwei Jahren setzt sich die "Seebrücke" für sichere Häfen für Geflüchtete ein. Gegründet wurde der Verein von der Menschenrechtsaktivistin Liza Pflaum. Im Interview spricht sie über politische Verflechtungen und die Herausforderungen in der Pandemie.
rbb: Frau Pflaum, vor knapp zwei Jahren gehörten Sie zu den Mitbegründerinnen der Seebrücke. Was hat damals für Sie den Ausschlag gegeben, zu sagen, ich bin Aktivistin und muss genau jetzt etwas tun?
Liza Pflaum: Im Sommer 2018 hat es sich so entwickelt, dass immer mehr Schiffe, die geflüchtete Menschen gerettet haben, im Mittelmeer nicht mehr an einen europäischen Hafen anlegen durften. Ich habe viel mit meinem Umfeld, meinen Freundinnen darüber geredet. Tatsächlich war ich anfangs einfach schockiert und konnte mir nicht vorstellen, dass nicht mal mehr Menschen, die andere Menschen retten, diese in Sicherheit bringen konnten. Da kam der Moment für mich, wo ich gar nicht anders konnte, als zu sagen: Wir müssen uns irgendwie organisieren. Wir müssen aus der Zivilgesellschaft heraus etwas starten.
Sie konnten inzwischen erfolgreich Städte dafür gewinnen, sich zu sicheren Häfen zu erklären. Diese Städte erklären sich bereit, mehr Flüchtlinge aufzunehmen als durch die Verteilung des Königsteiner Schlüssels pro Bundesland vorgesehen sind.
Seit 2015 haben sich immer wieder Kommunen gemeldet, die Menschen aufnehmen wollten und das gemeinschaftlich gut organisieren konnten. Daran haben wir angeschlossen. Dazu gab es im Sommer 2018, als eben Schiffe im Mittelmeer blockiert wurden, die erste Bereitschaft aus Berlin, wo die Stadt gesagt hat: Wir haben Kapazitäten. Daran haben wir angeknüpft und sind in ganz Deutschland in Gespräche gegangen, mit Bürgermeistern und Stadträten. Diese Kommunen haben sich uns auch öffentlich angeschlossen und gemeinsam schauen wir, wie wir weiterkommen. Das war bis jetzt sehr erfolgreich. Mittlerweile haben sich uns 150 Kommunen angeschlossen.
Ende Februar waren Sie mit einer Delegation im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Wir sehen die Situation dort durch Fernsehbilder. Wie war es, den Menschen dort Auge in Auge gegenüber zu stehen?
Ich glaube, es ist nicht möglich, das zu beschreiben. Ich hatte viel über das Lager in Moria gehört. Das nun selbst zu sehen, hat mich nochmal auf eine ganz andere Art betroffen. Die Menschen leben dort und versuchen, ihr Leben zu organisieren. Es ist nicht einfach passiert wie eine Naturkatastrophe, sondern politisch gemacht und gewollt, dass die Menschen in diesen Umständen dort leben. Das Lager ist für ein paar Tausend Menschen gebaut, und mittlerweile leben dort über 20.000. Es gibt keine staatliche Struktur dort. Mit den Möglichkeiten, die wir in Europa haben, ist es sofort ersichtlich, dass das nicht etwas ist, was nicht behoben werden kann.
Warum?
Es funktioniert so, dass die Menschen extra in solchen Zuständen bleiben müssen, weil andere Menschen abgeschreckt werden sollen. Für mich kann es keinen anderen Grund haben, denn nirgendwo auf der Welt sollten Menschen so leben müssen. In Moria ist das nicht erst seit kurzem so, genauso sieht es auch in den anderen griechischen Lagern aus. Und diese Menschen können nicht selbst entscheiden, ob sie da wegkönnen. Das fand ich am Schlimmsten.
Trotz der Situation bleibt es europaweit bei Appellen. Von den 1.500 unbegleiteten Flüchtlingen und Kindern in Moria sind im April 12 Kinder nach Luxemburg gekommen und 47 nach Deutschland. Die Städte haben erklärt, dass sie Platz für 500 Kinder hätten. Woran scheitert die Umsetzung der guten Absichten?
Derzeit tatsächlich am Bundesinnenministerium und der Regierung, weil wir in den Kommunen und auch bei den Ländern eine deutlich größere Bereitschaft haben – und den Willen zur Umsetzung. Wir sind seit fast zwei Jahren stetig mit Kommunen in Kontakt, haben 150 Kommunen, die sich bereit erklärt haben, mehr Menschen aufzunehmen. Es ist beschämend für Deutschland, dass nach dieser gesamten Bereitschaft, nur 47 Menschen aufgenommen werden. Es scheitert daran, dass das Bundesministerium sich querstellt und dem nicht nachkommt. Das ist für mich aus demokratischer Perspektive sehr erschütternd, weil wir in den Kommunen Prozesse haben, wo sich Zivilgesellschaft organisiert. Und das wird auf Ebene des Bundes einfach ignoriert.
Wir leben mitten in einer Pandemie. Können Sie nachvollziehen, dass man gesagt hat, wir haben jetzt eine unsichere, völlig unübersehbare Situation und können nicht noch Menschen aufnehmen, die vielleicht diese Krankheit mitbringen?
Eigentlich kann ich das nicht nachvollziehen, wenn ich auf der anderen Seite sehe, wie Erntehelfer nach Deutschland gebracht werden. Aber da gab es überhaupt keine Diskussion, wenn es darum geht, ob Deutschland Spargel isst. Auch nicht, wenn es darum geht, ob Urlauber eingeflogen werden aus der gesamten Welt. Ich finde das richtig – keine Frage. Aber das muss doch auch gemacht werden, wenn Menschen aus Kriegsländern in totaler Not fliehen. Dann kann man noch nicht sagen, okay, es ist Corona. Als europäischer Kontinent muss man doch in der Lage sein, diesen Menschen zu helfen, auch in einer Krise wie Corona. Deutschland ist sicherlich in der Lage dazu, deshalb muss gehandelt werden.
Wird das Thema in den nächsten Wochen und Monaten wieder stärker ins Blickfeld rücken?
Ich glaube, wenn politisch weiter so agiert wird, wird das Thema uns dauerhaft beschäftigen. Gerade sehen wir, dass immer weiter in die Richtung investiert wird, dass Menschen abgeschreckt werden und versucht wird, sie abzuhalten. Die Menschen werden sich aber weiter auf den Weg machen, weil sie für sich ein anderes Leben einfordern. Deswegen müssen wir endlich anfangen, uns mit anderen Wegen zu beschäftigen. Meines Wissens nach beschäftigt sich auf politischer Ebene niemand mit Konzepten, um es für die Menschen, die nach Europa kommen und für die, die schon hier sind, gut zu organisieren. Ich denke, das ist möglich, wenn wir es alle wollen.
Die Seebrücke fordert offene Grenzen für alle. Wie soll das gehen? Wenn man auf 2015 und die sogenannte Flüchtlingskrise zurückblickt, hat diese Zeit stark den rechten Rand bestärkt. Auch die AfD ist sehr stark geworden. Wie gehen Sie damit um? Oder sehen Sie das gar nicht als etwas zwangsläufiges?
Sie das gar nicht als etwas zwangsläufiges?
Meine Analyse ist eine andere. Ich habe im Sommer 2015 eine unglaubliche Solidarität erlebt. Und ich finde es tatsächlich erschreckend, dass in den Debatten jetzt das Jahr 2015 immer als etwas Negatives dargestellt wird. Das finde ich sehr beschämend – auch für die Leute, die sich eingesetzt haben. Die Leute, die sozusagen täglich dafür gesorgt haben, dass diese Menschen hier ankommen können, dass überhaupt die Gesellschaft weiter funktioniert. Das war ein großer Akt der Solidarität, auf den wir alle stolz sein können. Ich würde eher sagen, dass der Umgang danach dazu geführt hat, dass rechte Kräfte stark geworden sind.
Können Sie das näher erklären?
Es wurden nicht die Menschen unterstützt, die sich für Solidarität, für Zusammenhalt in der Gesellschaft eingesetzt haben, sondern es wurde auf die Leute gehört, die angefangen haben, das zu diffamieren und Hetze verbreitet haben. Das finde ich erschütternd, denn wir hätten einen ganz anderen Weg nehmen können. Auch politisch haben plötzlich alle angefangen, die Arbeit der AfD zu übernehmen, indem andere Parteien genau dieselben Positionen vertreten haben. Ich erinnere mich noch, wo Petry [Anm. d. Redaktion: gemeint ist Frauke Petry, die im September 2017 aus der AfD als Parteimitglied austrat] gefordert hat, dass im schlimmsten Fall auf geflüchtete Menschen an den Grenzen geschossen werden muss. Jetzt, in der Situation an der griechisch-türkischen Grenze, wurde auf Menschen geschossen. Das müsste uns doch allen vor Augen führen, dass wir anfangen, diese rechten menschenverachtenden Positionen in eine sozusagen mittige Position zu integrieren. Die solidarische Seite haben wir vernachlässigt. Das ist meiner Meinung nach der Fehler gewesen. Deshalb müssen wir jetzt noch einmal neu ansetzen und das deutlich mehr stärken.
Was werden die nächsten Aktionen der Seebrücke sein?
Wir werden uns weiterhin für alle Menschen an den europäischen Außengrenzen einsetzen. Das ist nicht nur Griechenland. Wir wollen auch wieder mehr das zentrale Mittelmeer thematisieren, weil es eben sehr erschreckend ist, dass das in letzter Zeit total aus dem Fokus geraten ist und wie schnell man sich daran gewöhnt. Und wir werden weiter mit den Kommunen zusammenarbeiten. Wir denken, dass es auch einen langen Atem braucht, das tatsächlich umzusetzen. Aber ich bin mir ganz sicher, dass wir damit auch erfolgreich werden.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Text ist eine gekürzte und redgierte Form des Interviews, das Margarethe Steinhausen mit Liza Pflaum für Inforadio geführt hat. Das vollständige Gespräch können Sie oben im Beitrag im Audio hören.
Sendung: Inforadio, 17.06.2020, 10:45 Uhr